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Drehpunkt 107

Die Schweizer Literaturzeitschrift
http://www.dreh-punkt.ch

  drehpunkt 107
 

drehpunkt 107

 

Herausgegeben von
Rudolf Bussmann und Martin Zingg

Nr. 107, August 2000

  Inhaltsangabe


Liebe Leserin, lieber Leser
Fisimatenten

Ich werde wie wild erblühn

Gedichte von amerikanischen Lyrikerinnen
Jane Cooper / Adrienne Rich
Jean Valentine / June Jordan
Alicia Suskin Ostriker / Sharon Olds
Louise Glück / Marie Howe
Rita Dove / Alice Fulton
Donna Masini / Denise Duhamel
Die Autorinnen

Der Winter ist zuversichtlich

Ursula Krechel : Winterkampagne
Peter Stamm : Freunde
Serge Ehrensperger : Das Konzert
Wolfram Malte Fues : Der Winter
Eine Nacht im Leben von Burkhard Spinnen

Besprechungen und Hinweise

Rudolf Bussmann über Jörg Steiner
Werner Morlang über Christina Buchmüller
Christoph Wegmann über Laure Wyss und Helen Meier
Elsbeth Pulver über Klaus Merz
Christoph Wegmann über Donata Berra und Peter Gisi
Nachruf : Christoph Wegmann über Kaspar Fischer
Neuerscheinungen von Schweizer Autorinnen und Autoren
Die Autorinnen und Autoren
Impressum

 

  Liebe Leserin, lieber Leser


Im Mittelpunkt dieser Nummer stehen englisch schreibende Lyrikerinnen, solche aus den USA : Nach unserem letzten US-Schwerpunkt, der Prosa und Gedichte beider Geschlechter versammelte (Mr. 97), hier nun eine Fokussierung auf Lyrikerinnen. Jan Heller Levi hat für und die vorliegende Auswahl getroffen und kommentiert, eine Lyrikerin, die zwischen New York und St. Gallen pendelt und um den Graben weiss, der die alte Welt von der neuen trennt. Die Vielfalt der Gedichte ist gross, das fällt auf. In ihrer Schreibweise und Thematik gehen die Autorinnen sehr verschiedene, oft eigensinnige Wege - das hat uns an dieser Auswahl gefallen.

Sie finden daneben neue Prosa von Serge Ehrensperger und Peter Stamm. Burkhard Spinnen gewährt uns Einblick in eine nächtliche biographische Chimäre, und Ursula Krechel und Wolfram Malte Fues präsentieren neue Gedichte. Die Besprechungen im Schlussteil stellen wie gewohnt Schweizer Neuerscheinungen vor.

Eigens für diese Nummer hat Samuel Buri eine Reihe von Zeichnungen geschaffen. Ihm und allen, die Texte und Besprechungen beigesteuert haben, insbesondere auch den Übersetzerinnen und Übersetzern, danken wir an dieser Stelle herzlich.

Und Ihnen wünschen wir Vergnügen beim Lesen.

Rudolf Bussmann und Martin Zingg

 

  Fisimatenten

Wenn Herbert anruft, hat er ein Problem. Er fragt, wie es mir gehe, und ohne die Antwort abzuwarten schiesst er los : "Du, hör mal." Seine Stimme flattert. "Du, hör mal, ich kann nicht mehr schlafen. Es ist hinter uns her", stöhnt er.

"Es ? Hinter uns ?"

"Hinter dir und mir, mein Lieber. Hinter uns allen. Eines schönen Tages holt es dich ein. Du betrittst einen Buchladen, schmökerst herum, nimmst ahnungslos ein Buch in die Hand und - -. Hier, schwarz auf weiss, getarnt durch einen lächerlichen Umschlag, stehst du. Du selber ! Steht niemand anders als du mit vollem Namen. Irgend jemand hat sich den Spass gemacht, deine Misserfolge, deine Liebesgeschichten, dein Alkoholproblem über 94 oder 250 Seiten hinweg schamlos auszubreiten, und nun kann jeder Idiot in deinem Leben blättern. Bitte, da gibt es nichts zu lachen ! Auch dich kann's erwischen." Er macht eine Pause. "Und da liegst du denn nackt in der Auslage, den Blicken der Passanten ausgesetzt, hilflos wie Cornelius. Seither schlafe ich nicht mehr."

"Sebastian meinst du. Den von Pfeilen durchbohrten heiligen Sebastian."

"Ich meine Cornelius. Du solltest ihn kennenlernen, Cornelius Busch, ein netter Mensch. Aber seit dieser Affäre vollkommen verstört. Da kauft sich Cornelius Busch doch ein kleines schmukkes Prosabändchen mit dem vielversprechenden Titel "Als ich das erste Mal mit einem Jungen im Bett lag", geht nach Hause, liest darin herum - wamm ! schlägt ihm sein Name ins Gesicht. Nicht bloss einmal. Die Autorin Birgit Kempker bringt es fertig, ihn über 300 Mal systematisch durch den Text zu ziehen. Stell dir das vor, du liegst gebunden auf dem Rücken und kannst dich nicht wehren !"

"Moment, Herbert. Hat denn jemand behauptet, der gebundene Cornelius Busch sei identisch mit dem lesenden ?"

"Sei nicht albern. Nichts ist natürlicher, als dass sich Cornelius Busch in seiner Intimsphäre verletzt fühlt ! Das Landgericht Essen gab ihm übrigens recht. Es verurteilte den Grazer Droschl Verlag dazu, die gesamte Restauflage des Bandes zu vernichten und Cornelius 35'000 Schilling Schmerzensgeld zu zahlen. Deutsche Gerichte wissen eben noch, was Satisfaktion heisst."

Ich höre, wie Herbert am andern Ende der Leitung Luft holt. "Nun sieht es natürlich auch für Friedrich Schiller und seinen Verlag nicht gut aus. Seine "Räuber" werden den Prozess nicht überleben."

"Wie, es gibt einen Prozess gegen Schiller ?"

"Noch nicht. Aber es leben, ich habe im Telefonbuch nachgesehen, in Deutschland immerhin sechs Franz Moor, da liegt jederzeit eine Sammelklage drin. Oder würdest du dich ungestraft als Räuberhauptmann beschimpfen lassen?" Da ich schweige, fährt er fort: "Schluss mit der üblen Nachrede ! Tut euch zusammen, Emma Bovarys ! Erhebt Einspruch, Anna Kareninas, lasst euren Namen nicht länger besudeln. Trotzdem überläuft mich bei jedem Buch, das ich in die Hand nehme, ein kalter Schauer. Auch wenn du vor Gericht gewinnst, ein Rest von Verdacht bleibt immer hängen. In meiner Stellung kann ich es mir auf keinen Fall erlauben..."

"Vergiss es, Herbert. Kein Schriftsteller der Welt käme auf die Idee, einen Namen wie den deinen auch nur für eine Nebenfigur zu verwenden."

Herbert meldet sich erst nach einer Weile wieder zu Wort, verärgert, wie mir scheint. "Weshalb nennst du mich immerzu Herbert ? Ich heisse Humbert", sagte er. "Humbert Humbert, das müsstest du eigentlich wissen."

Rudolf Bussmann

 

Page créée le 30.08.00
Dernière mise à jour le 20.06.02


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