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Drehpunkt 109

Die Schweizer Literaturzeitschrift
http://www.dreh-punkt.ch

  drehpunkt 109
 

drehpunkt 109

 

Herausgegeben von
Rudolf Bussmann und Martin Zingg

Nr. 109, März 2001

  Inhaltsangabe


Liebe Leserin, lieber Leser
Fisimatenten.

Man läuft dem Leben hinterher

Martin Walser : Das Liebesleben
Brigitte Fuchs : Gedichte
Ernst Burren : Miggu gang furt
Dieter P. Meier-Lenz : Gedichte
Ulrich Glotzbach : Das Protokoll
Eva-Maria Berg : Gedichte
Fabio Pusterla : Gedichte
Jürg Schubiger : Haller und Helen
Eine Nacht im Leben von Elisabeth Wandeler-Deck

Hinweise und Besprechungen

Rudolf Bussmann über Kurt Aebli, Iren Baumann und Martina Hügli
Werner Morlang über Erika Burkart
Elsbeht Pulver über Regina Ullmann
Christoph Wegmann über Jürgen Theobaldy
Christoph Wegmann über Wanda Schmid
Martin Zingg über den Berner Almanach
Martin Zingg über Theres Roth-Hunkeler
Martin Zingg über Yvette Z'Graggen
Neuerscheinungen von Schweizer Autorinnen und Autoren
Die Autorinnen und Autoren
Impressum

 

  Liebe Leserin, lieber Leser


Ein Merkmal der Literatur ist gewiss die Tatsache, dass sie sich nichts vorschreiben lässt. Keine Stile, keine Themen : die Literatur, das macht einen beträchtlichen Teil ihres Reizes aus, besteht aus vielen Überraschungen. Dennoch kommt sie immer wieder auf ihre Grundthemen zurück, die Liebe natürlich, die Trennung, den Tod. Und auf das Thema Alter, zu dem Liebe, Trennung und Tod den bewegten Hintergrund bilden. Alt sein, Älterwerden hat gerade in den letzten Jahren immer wieder Autorinnen und Autoren zur Auseinandersetzung bewegt; deren Spuren sind in der Schweizer Prosa von Max Frisch (Der Mensch erscheint im Holozän, 1979) und Walter Vogt (Altern, 1981) bis zu Erica Pedretti (Kuckuckskind oder Was ich ihr unbedingt noch sagen wollte, 1998) zu verfolgen.

Mit dem Thema befassen sich drei Texte in dieser Nummer. Ernst Burren führt es beklemmend beiläufig in seinen Mundarttext ein; Jürg Schubigers Romanbeginn setzt uns seinem genius loci aus, dem Altersheim, während Martin Walser, einen Morgen im Leben einer Ehe beschreibend, die Abgründe vorführt, die das Älterwerden einer Beziehung mit sich bringen kann.

Unter den übrigen Beiträgen - vorwiegend Lyrik - bilden die Gedichte des Tessiners Fabio Pusterla einen besonderen Schwerpunkt.

Den Autorinnen und Autoren danken wie für die Mitarbeit, insbesondere auch Herta Müller, die zu diesem Heft einige ihrer wunderschönen Gedichtcollagen beigesteuert hat. Gerne benutzen wir ferner die Gelegenheit, uns bei den erfreulich zahlreichen Abonnentinnen und Abonnenten zu bedanken, die ihr Abonnement erneuert und den Betrag grosszügig auferundet haben. Eine freudige Überraschung und ein Ansporn zugleich.

Rudolf Bussmann und Martin Zingg

 

  Fisimatenten

Lebenserinnerungen, Beichten, Geständnisse - die Autobiographie steht im Moment hoch im Kurs. Ob sich dahinter voyeuristische Neugier verbirgt wie im Fall Reich-Ranicki oder ein als uninteressant empfundenes eigenes Leben: was die autobiographische Aussage andern Gattungen voraus hat, ist ihr Anspruch, wahr zu sein. Wahr und sonst nichts. Ein Text, der nicht lügt ! Der ungeschminkt sagt, was seinem Autor, seiner Autorin widerfahren ist. In einer Welt der Verstellung, des Bluffs und der Täuschung eine geradezu sensationelle Eigenschaft.

Zumindest schien es so. Bis zum Fall Wilkomirski. Mit Anteilnahme verschlangen wir die Geschichte von Binjamin Wilkomirskis Kindheit als Jude im KZ. Kaum aber hatten wir das Buch beiseite gelegt, mussten wir uns sagen lassen, es sei von vorne bis hinten erfunden. Einem Fälscher auf den Leim zu gehen, das sollte uns nicht mehr passieren ! Wir griffen zu unverdächtiger Lektüre. Eine Jugend in der DDR - das bot sich wie von selbst an, da lag kein Raum zum Mogeln drin. Die Banalität des Alltags, die Phantasielosigkeit der Parteigenossen, alles bekannt, alles nachprüfbar ! Der buchhalterische Ernst, mit dem Michael Schindhelm in Roberts Reise die Stationen seiner Schul- und Studentenzeit in der DDR und der UdSSR festhält, kam uns gerade recht.

Dann der neue Schock. Michael Schindhelm erwies sich als zweiter Wilkomirski. Der erste hatte sich ein Leben nach Mass erfunden. Schindhelm erfand nicht, er liess aus. Auch er kam dadurch zu einer zweiten Biographie; darin war seine Tätigkeit als informeller Mitarbeiter der Stasi getilgt. Wir können, nachdem der Schwindel aufflog, das ausgesparte Stück Gauck-Akte ziemlich genau in Schindhelms Lebenspanorama einsetzen. Aber was nützt uns das ? Wir fühlen uns betrogen. Wem sollen wir künftig noch trauen ? Wer garantiert uns Glaubwürdigkeit ?

Die Autobiographie war schon immer ein Medium der Retusche, des Zurechtrückens. Aber noch zu keiner Zeit wurde sie derart sorglos als Instrument der Karriereplanung eingesetzt. Sie ist geworden, was die Banken im Finanzgeschäft schon lange sind, ein Mittel zum Waschen von Identität. Wer in seinem Leben Anstössiges findet, schreibt es zuhanden der Öffentlichkeit um. Wer sich ins Gespräch bringen möchte, erinnert sich den passenden Lebenslauf zurecht. Das kann neben dem Prestige auch dem Bankkonto nützlich sein. Der Verlag Simon & Schuster soll Hillary Clinton für ihre Memoiren aus dem Weissen Haus einen Vorschuss von acht Milionen Dollar angeboten haben. Uns steht, es ist abzusehen, der Auftritt der allermeisten Biographinnen und Biographen erst noch bevor. Nach allem, was wir wissen, werden wir ihnen nicht mehr Aufmerksamkeit zu schenken brauchen als den Teilnehmern einer gewöhnlichen Talk-Show.

Rudolf Bussmann

 

Page créée le 30.03.01
Dernière mise à jour le 20.06.02


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