Lebenserinnerungen, Beichten, Geständnisse
- die Autobiographie steht im Moment hoch im Kurs. Ob sich
dahinter voyeuristische Neugier verbirgt wie im Fall Reich-Ranicki
oder ein als uninteressant empfundenes eigenes Leben: was
die autobiographische Aussage andern Gattungen voraus hat,
ist ihr Anspruch, wahr zu sein. Wahr und sonst nichts. Ein
Text, der nicht lügt ! Der ungeschminkt sagt, was seinem
Autor, seiner Autorin widerfahren ist. In einer Welt der Verstellung,
des Bluffs und der Täuschung eine geradezu sensationelle
Eigenschaft.
Zumindest schien es so. Bis zum Fall Wilkomirski. Mit Anteilnahme
verschlangen wir die Geschichte von Binjamin Wilkomirskis
Kindheit als Jude im KZ. Kaum aber hatten wir das Buch beiseite
gelegt, mussten wir uns sagen lassen, es sei von vorne bis
hinten erfunden. Einem Fälscher auf den Leim zu gehen,
das sollte uns nicht mehr passieren ! Wir griffen zu unverdächtiger
Lektüre. Eine Jugend in der DDR - das bot sich wie von
selbst an, da lag kein Raum zum Mogeln drin. Die Banalität
des Alltags, die Phantasielosigkeit der Parteigenossen, alles
bekannt, alles nachprüfbar ! Der buchhalterische Ernst,
mit dem Michael Schindhelm in Roberts Reise die Stationen
seiner Schul- und Studentenzeit in der DDR und der UdSSR festhält,
kam uns gerade recht.
Dann der neue Schock. Michael Schindhelm erwies sich als
zweiter Wilkomirski. Der erste hatte sich ein Leben nach Mass
erfunden. Schindhelm erfand nicht, er liess aus. Auch er kam
dadurch zu einer zweiten Biographie; darin war seine Tätigkeit
als informeller Mitarbeiter der Stasi getilgt. Wir können,
nachdem der Schwindel aufflog, das ausgesparte Stück
Gauck-Akte ziemlich genau in Schindhelms Lebenspanorama einsetzen.
Aber was nützt uns das ? Wir fühlen uns betrogen.
Wem sollen wir künftig noch trauen ? Wer garantiert uns
Glaubwürdigkeit ?
Die Autobiographie war schon immer ein Medium der Retusche,
des Zurechtrückens. Aber noch zu keiner Zeit wurde sie
derart sorglos als Instrument der Karriereplanung eingesetzt.
Sie ist geworden, was die Banken im Finanzgeschäft schon
lange sind, ein Mittel zum Waschen von Identität. Wer
in seinem Leben Anstössiges findet, schreibt es zuhanden
der Öffentlichkeit um. Wer sich ins Gespräch bringen
möchte, erinnert sich den passenden Lebenslauf zurecht.
Das kann neben dem Prestige auch dem Bankkonto nützlich
sein. Der Verlag Simon & Schuster soll Hillary Clinton
für ihre Memoiren aus dem Weissen Haus einen Vorschuss
von acht Milionen Dollar angeboten haben. Uns steht, es ist
abzusehen, der Auftritt der allermeisten Biographinnen und
Biographen erst noch bevor. Nach allem, was wir wissen, werden
wir ihnen nicht mehr Aufmerksamkeit zu schenken brauchen als
den Teilnehmern einer gewöhnlichen Talk-Show.
Rudolf Bussmann
Page créée le 30.03.01
Dernière mise à jour le 20.06.02
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