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Drehpunkt 111

Die Schweizer Literaturzeitschrift
http://www.dreh-punkt.ch

  drehpunkt 111
 

drehpunkt 111

 

Herausgegeben von
Rudolf Bussmann und Martin Zingg

Nr. 111, Oktober 2001
Henri Michaux

  Inhaltsangabe


Liebe Leserin, lieber Leser
Fisimatenten

In der Melone schlug ein Herz

Eleonore Frey : Michaux
Henri Michaux : Wissensbisschen
Jean Starobinski : Zeugnis, Kampf und Ritual

Montecristo zwischen den Zähnen

Christoph Geiser : Vor dem Gesetz
Alexandra Lavizzari : Gedichte
Yeboaa Ofosu : Konstitution
Eine Nacht im Leben von Isolde Schaad

Hinweise und Besprechungen

Rudolf Bussmann über Peter Stamm
Elsbeth Pulver über Klaus Merz
Frank Wittmann über Christoph Simon
Werner Morlang über Christian Haller
Christoph Wegmann über Beat Brechbühl
Martin Zingg über Werner Morlang und andere
Neuerscheinungen von Schweizer Autorinnen und Autoren
Die Autorinnen und Autoren
Impressum

 

  Liebe Leserin, lieber Leser


"In der Melone schlug ein Herz." Wer den Satz gelesen hat, wird nie mehr eine Melone in seiner Hand halten, ohne ihren Puls zu spüren. Sein Verfasser Henri Michaux war als Dichter und Künstler den Dingen, ihren Geheimnissen, aber auch ihrem befremdlichen Sein dicht auf der Spur. Als unermüdlicher Reisender, der in allen Kontinenten ebenso zu Hause war wie auf den Abenteuerschiffen des Meskalins, er-fuhr er die Welt in den Grenzgebieten zwischen Innen und Aussen. 1954 publizierte der gebürtige Belgier (der ein Jahr darauf die französische Staatsbürgerschaft annahm) einen Zyklus ungewöhnlicher und faszinierender Aphorismen unter dem Titel "Tranches de Savoir". Diese exquisiten Häppchen, in deutscher Sprache bisher nicht greifbar, hat der Dichter und Übersetzer Franz Wurm für diese Nummer übertragen. Um Ihnen zumindest einen kleinen Einblick in die Raffinesse des Originals zu verschaffen, geben wir die erste Seite zweisprachig wieder. Der Essay von Eleonore Frey führt in das Universum des Poeten ein. während der Genfer Philosoph Jean Starobinski das Schaffen des Malers und Zeichners Michaux auslotet. Diese zweite, andere Seite des herausragenden Doppeltalents führen die das Heft durchziehenden Michaux-Tuschzeichnungen vor Augen.

Zu finden sind des weiteren Auszüge aus dem Schaffen zeitgenössischer Autoren, unter anderem ein Reisetexte von Christoph Geiser, Gedichte von Alexandra Lavizzari und Isolde Schaads nächtliche Fahrten.

Wir danken an dieser Stelle allen, die am Heft mitgearbeitet haben, insbesondere Franz Wurm für seine bewundernswerte Übersetzungsarbeit. Ein besonderer Dank geht an die Galerie Georg Nothelfer, Berlin, für die Abdruckrechte der Bilder sowie an die Editions Gallimard, Paris, für jene der Michaux-Texte.

Rudolf Bussmann und Martin Zingg

 

  Fisimatenten

Zürich. SDA. Die Reihe der Vorwürfe gegen Schweizer Autoren und Verlage setzt sich fort. Wie das Zürcher Anwaltsbüro Lothar & Lothar verlauten liess, haben sich der laufenden Sammelklage mehrere prominente Personen angeschlossen, die gewillt seien. ihr Schweigen zu brechen. So macht die Familie des verstorbenen Komponisten Paul Sacher geltend, der jüngste Roman des Schriftstellers Urs Widmer verbreite gezielt die Unwahrheit. Der Dahingegangene habe sich Zeit seines Lebens nie, wie im Roman behauptet, im Wintergarten zwischen Orchideen gewälzt und Palmen umgeworfen, schon gar nicht während des Beischlafs; vielmehr habe er stets Lilien und den grossen Rhododendron bevorzugt. - Einen Beitritt soll ebenfalls die in New York lebende Sekretärin Lynn erwägen, welche nach eigenem Bekunden seit über 25 Jahren an einer durch das Buch Montauk ausgelösten Identitätskrise leide. Der Autor Max Frisch lasse sie darin wider besseres Wissen rothaarig statt blond in Erscheinung treten. Und heute morgen wandte sich die Erbengemeinschaft Claire Zachanassian mit der Erklärung an die Öffentlichkeit, sie werde im Rahmen der Sammelklage für die Rehabilitierung der Millionärin und Gründerin der Claire Zachanassion Bank Suisse AG kämpfen. Die negative Berichterstattung über Tante Klärly auf dem Theater füge der Bank Jahr für Jahr erheblichen materiellen Schaden zu.

Die Klage wurde angeregt durch Herrn Johannes Duft (87), Onkel in St. Gallen, der sich im neuen Roman seines Neffen Thomas Hürlimann unter falschem Namen aufgeführt sieht und bereits erfolgreich das Verbot einer Lesung des Autors, in einer St. Galler Buchhandlung durchsetzen konnte. Er und seine Haushälterin, Fräulein Stark (87), hatten dem Verfasser in einem mehrseitigen Grundsatzpapier zahlreiche weiter Verstösse gegen die Realität nachgewiesen.

Ziel der Sammelklage bleibe, so der Sprecher weiter, den in der Literatur vorherrschenden unbedenklichen Umgang mit tremder Wirklichkeit zu unterbinden. Die Branche soll dazu verpflichtet werden, den ihr zufliessenden Reichtum von Rückständen der Phantasie und des Erzähltriebs reinzuwaschen, bevor er in Umlauf gesetzt werde. Man strebe eine Praxis mit harten Bussen resp. Publikationsverboten für Zuwiderhandelnde an. Zu diesem Zweck soll beim zuständigen Gericht ein Musterprozess angestrengt werden, der etc. etc.

Rudolf Bussmann

 

  Tranches de savoir / Wissensbisschen

Tranches de savoir

Là, l'homme ennuyé s'enkyste. Toujours quelques années de gagnées...

Wissensbisschen

Da kapselt, wer bedrängt ist, sich ein. Immerhin ein paar Jahre gewonnen.

Il lui tranche la tête avec un sabre d'eau, puis plaide non coupable et le crime disparaît avec l'arme qui s'écoule.
Er haut ihm den Kopf ab mit einem Säbel aus Wasser, beteuert dann seine Unschuld, und das Verbrechen verschwindet mit der Waffe, die davonfliesst.
Il n'est pas rare qu'un fils de Directeur de Zoo naisse les pieds palmés, C'est néanmoins, comme tout malheur, une surprise.
Cependant que l'enfant est évacué vers l'Extrême-Nord où l'on espère qu'il se confondra avec la présentation d'une nature plus appropriée, la famille, de secrète qu'elle était, devient extrêmement, infiniment secrète. Qui peut se vanter d'avoir connu à fond la famille d'un directeur de Zoo ?
Nicht selten wird der Sohn eines Zoo-Direktors mit Schwimmhäuten an den Füssen geboren. Trotzdem kommt das, wie jedes Unglück, als Überraschung.
Derweil man das Kind in den Hohen Norden abschiebt in der Hoffnung, es werde dort im Bild einer angemesseneren Natur aufgehen, wird die Familie, von verschlossen wie sie war, aufs äusserte, ja, unendlich verschlossen. Wer kann sich rühmen, die Familie eines Zoo-Direktors bis ins letzte gekannt zu haben ?
Quand un borgne arrive à la gare des boiteux, il y a rassemblement. Et si c'est un paralytique qui arrive, il y a rassemblement, il y a mécontentement, il y a malveillance dans les expressions, et aisance du diable et salut à la terre. Mais il est refoulé de la gare et des abords de la gare, qui n'est pas la sienne, avec mépris et commandement qu'il s'en aille puisque aussi bien il a trouvé quelqu'un dans le filet de la pitié pour se faire traîner partout où il lui plaît. Qu'il parte, profitant de sa veine exorbitante. La gare des boiteux est suffisamment encombrée.
Wenn ein Einäugiger auf dem Bahnhof der Lahmen ankommt, gibt es einen Auflauf. Und kommt ein Paralytiker an, so gibt es einen Auflauf mit bösen Mienen und Frohlocken des Teufels und Heil dir, Frau Welt. Aber man drängt ihn vom Bahnhof weg und von den Zugängen zum Bahnhof, der nicht der seine ist, mit Verachtung drängt man ihn weg und mit der Aufforderung, zu verschwinden, zumal er im Fangnetz des Mitleids schon jemanden gefunden hat, von dem er sich kann schleppen lassen, wohin es ihm gefällt. Er soll sein Mordsglück nützen und gehn. Der Bahnhof der Lahmen ist schon verstopft genug.

L'éléphant avec une fracture du bassin voudrait être petit, tout petit, petit, comme une araignée jeunette que le vent emporte, s'il est un peu soudain, emporte, enroule, enlève dans les cieux de la facilité, des prolongements, de la perpétuation, loin, loin, loin, au-delà des plumes, des peluches, des sphérules, sans un os du poids d'un cil, sans un seul os, sans en savoir besoin, dans la vie, dans la vie en l'air , dans la vie repartie.

Ein Elefant mit Beckenbruch möchte klein sein, ganz klein, so klein wie ein Spinnlein, wie ein blutjunges Spinnlein, das der Wind davonträgt, wenn er ein bisschen plötzlich ist, das er dahinträgt, einrollt, davonhebt in die Himmel der Leichtigkeit, des Verweilens, der Dauer, weit, weit, weit, über alles Gefieder hinaus, über alle Fusseln und Flusen, ohne ein Knöchelchen.
Henri Michaux
Suite: Drehpunkt 111/2001
Henri Michaux
Fortsetzung in Drehpunkt 111/2001

LENOS VERLAG
SPALENTORWEG 12
CH- 4051 BASEL
Tel. (061) 26134 14, Fax: (061) 26135 18

 

Page créée le 30.10.01
Dernière mise à jour le 20.06.02


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