Nein, das soll kein Nachruf werden.
lm Nachhinein weiss man's immer besser. Wer das Unfassbare
begreifen möchte, ist um Erklärungen und Deutungsmuster
nicht verlegen. Aglajas Ende scheint auf einen schlimmen Anfang
zu verweisen, fehlende Geborgenheit, Unordnung und frühes
Leid zuhauf, Kindheitstraumen, die das "Arbeitstier",
wie sie sich gern nannte, durch eine Überforderung ihrer
vitalen Kräfte in Schach hielt, bis die unverheilten
Wunden tödlich aufbrachen. Man erinnert sich an dunkle
Äusserungen Aglajas, wonach das Leben schlechthin eine
Zumutung sei und es ihr schwer falle, sich selber zu akzeptieren,
geschweige denn zu lieben. Man erinnert sich an etwas Unergründliches,
jäh Schreckhaftes, das bisweilen in ihre Augen trat,
und man macht sich Vorwürfe, solche Zeichen zu wenig
beachtet zu haben. Erst recht sind ihr Roman und ihre Kurzprosa
allenthalben von schartigen Stellen durchsetzt. Man hat diese
wohl wahrgenommen, aber nicht das reale Unheil, das sie hervorbrachte.
Sogar an der Geschichte von dem in der Polenta schmorenden
Kind wurde bloss notiert, wie es dem Zirkusmädchen gelang,
eine Horrorvision durch eine andere zu bannen, und dabei die
doppelt erlebte Angst und die Gewalt, die sich die Gedankenspielerin
antat, unterschätzt oder übersehen.
Dennoch weigere ich mich, Aglajas Texte
jetzt auf pathologische Elemente zu durchkämmen und ihr
Leben als ausweglose Leidensgeschichte zu sehen. Das traurige
Ende soll nicht als Verdikt über einen Lebensweg gelten,
der keineswegs unglücklich verlief, ja, ich bin manchmal
geneigt, geradezu von einer success story zu sprechen. Die
jugendliche Aglaja hatte den Plan, aus der Analphabetin eine
Schriftstellerin zu machen, energisch ins Werk gesetzt und
im Zug einer achtzehnjährigen schriftstellerischen Tätigkeit
das unvergleichliche Polenta-Kind geschaffen. Ich habe mich
geärgert, dass in den meisten Nachrufen von einem »hoffnungsvollen
Talent« die Rede war. Aglajas Roman ist kein literarisches
Debüt, keine Talentprobe, sondem ein Buch der Ankunft,
der Vollendung. Fast gleichzeitig, da sie im Aufbegehren gegen
ihr Milieu die deutsche Sprache lernte, keimte in ihr der
Wunsch, Schriftstellerin zu werden. Sogar in den Ferien, im
Gewühl italienischer Meeresstrände, machte sie beflissen
ihre Schreibexerzitien, die sie dann unverzüglich ihrem
Freund und Mentor Hannes Becher zur Begutachtung vorlegte.
Alsbald entstand unter dem Titel "Die Panflöte"
ein Roman, der ungedruckt blieb, und über die Jahre führte
sie ein Prosastückligeschäft, das sich in alle Himmelsrichtungen
reckte. Nicht ohne Stolz konnte sie sagen, dass sie längst
vor dem Polenta- Kind zu den in Anthologien meistpublizierten
Autoren des deutschen Sprachraums gehörte.
Die existentielle Dringlichkeit und
Energie, mit der sie sich die deutsche Sprache aneignete,
war bis zuletzt in ihren literarischen Sätzen spürbar.
Natürlich war ihr Schreiben nicht vor dem Scheitern gefeit,
doch was immer sie zu Papier brachte, war von ihrer ungestümen
Vitalität erfüllt. So lakonisch, schmucklos, elementar
ihre Sätze klangen, sie waren ihr stets unverwechselbar
eigen oder - um einen ihrer Lieblingsausdrücke zu verwenden
- sie waren niemals "ausgeliehen": ein jeder Satz
eine kraftvolle, geballte Einheit und dennoch in ein spannungsreiches
Gefüge gebunden. Sie selber sprach vom "Herzschlag"
ihrer Prosa. Ihre Texte enthalten nichts Müssiges, Ornamentales
oder lose Enden, sondem gehen immerzu dramatisch aufs Ganze.
Alles Laue, Flaue, Mittlere empfand sie als Gräuel, und
ich erinnere mich, wie sie mir einmal einen Titelvorschlag
verwies mit der mokanten Bemerkung, er sei wohl geschmackvoll,
aber Pastell. Anderseits konnte sie sich vor Freude kam fassen,
als ich ihr das Wort "Wolkenleise" von Else Lasker-Schüler
zuspielte. Sie hielt es überhaupt mit suggestiven Wort-
und Satzprägungen, sowohl selbstverfassten wie fremden,
die sie auf Blanko-Postkarten kopierte und in ihrem Freundeskreis
herumschickte. Fand ein litera- rischer Text keine Gnade vor
ihr, nannte sie ihn »dünn« oder sagte: "Da
ist die Luft raus", ein Urteil, vor dem sie ihre eigenen
Produkte nicht verschonte. Kritik ertrug sie ohne weiteres,
wie sie überhaupt unzeremoniös mit literarischen
Dingen verfuhr .Kollegialen Neid, ein oft beanspruchtes Reiz-
und Abführmittel in den unseligen Gefilden literarischer
Konkurrenz, habe ich bei Aglaja nie entdecken können.
lm Gegenteil: Sie trat immer wieder für vom Erfolg weniger
begünstigte Autoren ein, zumal sie selber vor gar nicht
so langer Zeit, als sie mit ihren Texten herumgetingelt war,
nur marginal beachtet wurde. Inzwischen hatte sie es nicht
mehr nötig, ihre Stellung abzusichern, da ihr seit dem
Erscheinen des Polenta-Kindes Anerkennung überreich zuteil
wurde. Den Erfolg nahm sie dankbar zur Kenntnis, ohne darin
zu schwelgen. Die frühere Angst, in der Gosse zu landen,
sei ihr nicht fremd geworden, sagte sie etwa.
Sie machte keinerlei Wesens aus ihrer
schriftstellerischen Arbeit, die sie, wann immer es ihre befrachtete
Zeit erlaubte, in öffentlichen Lokalen verrichtete, um
dann, soviel ich weiss, den Tagesertrag noch am selben Abend
in den Computer zu tippen. Von diesem abgesegnet, besassen
die Texte für sie eine hinlängliche Verbindlichkeit,
um sie ihren Freunden zu unterbreiten oder vorzulesen. Bei
Aglajas vielfältigen Tätigkeiten war es bisweilen
nicht leicht, ein Treffen mit ihr zu vereinbaren, doch wenn
es dazu kam, hat sie sich ihm ausgiebig gewidmet. Bei solchen
Gelegenheiten war Aglaja - ich weiss kein anderes Wort, um
ihre Ausstrahlung zu beschreiben - überaus "präsent".
Sie schien immer auf der Höhe des Augenblicks zu leben.
Sie mochte fröhlich oder traurig sein, aber niemals künstlich
aufgekratzt oder grundlos niedergeschlagen. Sie liebte es,
wenn sich das Leben in Geschichten einspinnen liess, und war
nicht minder erpicht, solche zu hören wie sie selber
zu erzählen. Ihrer bündigen literarischen Ausdrucksweise
entsprach ihre mündliche Schlagfertigkeit, mit der sie
eine behagliche Rede unterbrach, um sich dann schallend über
die Verblüffung des Gesprächspartners zu amüsieren.
Obwohl sie seit dem Erscheinen ihres Buches eine schier endlose
Reise von Leseveranstaltungen absolvierte, nahm sie diese
Pflichten ernst, freute sich über eine rege Anteilnahme
oder wunderte sich bei einem Kränzchen wohlsituierter
älterer Damen über deren angebliche "Schlagsahnenseelen".
Gedankenabwesend, wortkarg oder in sich gekehrt habe ich sie
selten erlebt, ausser während ihrer langen psychosomatischen
Leidenszeit. Dennoch trug sich in ihrem Gesicht etwas zu,
das ihr lebenssprühendes Naturell dämpfte. Ihr offenes
Wesen, ihr staunender Kinderblick wurden durch eine auffällige
Gewohnheit, die Lippen einzuziehen, gleichsam zurückgenommen.
Sie war eben unbefangen und scheu, unerschrokken und furchtsam
zugleich, als würde sie von einem Schlüsselerlebnis
ihrer Kindheit heimgesucht: einer fatalen Mischung aus Allmachtsphantasien
und Gefühlen der Minderwertigkeit.
Von Zirkusromantik wollte Aglaja nichts
wissen, aber das Zirkuskind hat sie öffentlich zur Schau
getragen. Gegen das Alternmüssen, das Sterbenmüssen
rebellierte sie heftig und berief sich dabei gelegentlich
auf Canetti. Zwar hoffte sie, dass ihr das Altern auf schöne
Weise gelingen möge; im Grunde genommen begehrte sie,
zwei-, dreihundert Jahre aIt zu werden. Jedenfalls hätte
sie niemals Kindlichkeit als Quelle dichterischer Imagination
preisgegeben. Das allererste Lieblingszitat, das sie mir schenkte,
stammt von Henry Miller und lautet: "Das Wichtigste ist,
sich Überlegenheit anzueignen und im Alter den Mut zu
entwickeln, das zu tun, was Kinder taten, als sie noch nichts
wussten. "Über den Verlust kindlicher Verwegenheit,
kindlicher Phantasie im Dasein der Erwachsenen hat sie sich
gesprächsweise oft aufgehalten und war doch zutiefst
berührt, als anlässlich einer Lesung aus dem in
Entstehung begriffenen Buch ein Zuhörer monierte, man
würde ihrer Alter-ego-Figur deren 37 Jahre nicht anmerken.
Dieser Roman handelt, zumindest in einer ersten Fassung, zentral
vom Sterben ihrer Tante, die während vieler Jahre die
Stelle der Mutter bei Aglaja vertreten hatte. lm Bemühen,
sich von der Polenta-Kind-Prosa abzusetzen, brachte sie sich
selber als erwachsene Anna in der dritten Person ein, und
es wollte ihr zunächst tatsächlich nicht so recht
gelingen, dieser Figur ein überzeugendes Profil zu verleihen.
Auch klagte sie darüber, dass ihr der Text zu düster
geriet. Indessen fand sie zur ersten Person samt abgründiger
Heiterkeit zurück, und solange es ihr noch vergönnt
war, an dieser neuen Fassung zu arbeiten, war sie über
das Ergebnis sehr zufrieden.
War die Angst, die anarchische Kindlichkeit
einzubüssen, der von ihr so genannte "Knackpunkt"
ihrer seelischen Verletzung? ln guten Zeiten erzählte
sie mir mit überschäumender Begeisterung die Geschichte,
wie sie einmal von einem fremden Kind in ein Zimmer gelockt
wurde, das Kind sich dann auf den Boden legte, seinen Bauch
entblösste und sie wie ein zutraulicher Hund dazu animierte
es zu streicheln. ln einem der letzten Texte von Aglaja mit
dem Titel "Café Papa" kommt diese Begebenheit
vor, doch das arglose Liebesspiel ist hier zur mörderischen
"GÄNSE AUSSCHLACHEREI" mutiert.
Aglaja ist tot. Es fällt mir schwer,
von Aglaja in der Vergangenheitsform zu reden. Es tut manchmal
weh, ihre Texte zu lesen. Aber ich freue mich auf die Zeit,
da uns das Wunderbare, das Beglückende ihres Dagewesenseins
und ihres Schreibens neu aufgehen wird.
Werner Morlang
Page créée le 30.10.02
Dernière mise à jour le 30.10.02
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