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Drehpunkt 115

Die Schweizer Literaturzeitschrift
http://www.dreh-punkt.ch

  drehpunkt 115 / Aus Berlin
 

drehpunkt 115

Liebe Leserin, lieber Leser

Berlin ist seit einigen Jahren wieder die Hauptsadt Deutschlands. Berlin, die Stadt zwischen neuer Urbanität und altehrwürdiger Grösse, gilt inzwischen auch als das Zentrum der deutschen Literatur. Nirgendwo, so wird behauptet, sei die Autoendichte pro Quadratmeter so gross wie in Berlin. Da möchte man natürlich gerne Genaueres wissen.

In der vorliegenden Nummer des "drephunkt" präsentieren wir Prosatexte und Gedichte von Autorinnen und Autoren, die in Berlin leben und schreiben. Von Thomas Lehr, Kathrin Röggla, Ulf Stolterfoht, Sherko Fatah, Eva Corino, Monika Rinck und Ulrich Schlotmann. Mit von der Partie ist auch der "Surfpoet" Thomas Beinlich, der seine Texte am liebsten in Kneipen vorträgt.

Der Kritiker und Autor Helmut Böttiger erklärt in einem Gespräch, weshalb ausgerechnet Berlin der Literatur so förderlich ist, das die Stadt zum Zentrum der "neuen deutschen Literatur" werden konnte. Dieter Stolz beleuchtet die Rolle von Marketing und Qualität im literarischen Bereich. Und der Germanist Peter Ensberg, der für uns mit grosser Umsicht die Auswahl der Texte besorgt hat, fragt nach, was an der "neuen deutschen Literatur" denn eigentlich das Neue ist.

Regula Hügli hat eigens für diese Nummer eine Reihe von Bildern geschaffen. Ihr und allen, die zu dieser Nummer beigetragen haben, danken wir an dieser Stelle herzlich.

Und Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, wünschen wir eine anregende Lektüre !

Rudolf Bussmann und Martin Zingg

 

  Fisimatenten


Der Missstand bestand seit langem, aber erst vor zwei Jahren wurde er aufgedeckt und öffentlich gemacht : Die Stadt Basel, Metropole mit renommierten Firmen, Fussballern, Architekten, Museen sowie einem berühmten Gebäck hat keinen international gültigen literarischen Leistungsausweis. Sie verfügt über keinen Basler Stadtroman.

Im folgenden wird ziemlich oft das Wort Basler auftauchen. Es ist unumgänglich. Denn um den Schandfleck zu tilgen, tat sich ein privates Basler Sponsorengremium mit dem Basler Literaturhaus zusammen und schrieb einen Roman aus. Einen Basler Roman. Nein, den Basler Stadtroman. Das heisst - der Hinweis auf Döblins Berlin, Joyces Dublin und Musils Wien in der Ausschreibung war deutlich - den Roman einer Stadt von Rang. Die Sache war den Gönnern attraktive 30'000 Franken wert.

Was das "Tabakskollegium" sich von seiner Aktion genau versprach, darüber kann man im nachhinein nur rätseln. Einen Roman, der in Basel spielt? Das tun die Hunkeler-Geschichten von Hansjörg Schneider zur allgemeinen Zufriedenheit. Eine heimische Kulisse als Hintergrund für ein bedeutendes Geschehen? Die Kulisse existiert, prominent genug, in Hesses Steppenwolf. Basler Köpfe, künstlerisch verewigt? Die blicken, wenn auch als Karikaturen, seit Arnold Böcklins Zeiten auf die Stadt hernieder. Fragen wir nicht weiter. Man schreib aus, man las. Man urteilte, man wählte. Ein Wiener sollte es schliesslich richten, Eberhard Petschinkas Projekt überzeugte die Jury. Zumindest dessen erste 18 Seiten. Als das Werk Ende 2002 vorlag, war die Verlegenheit gross. Man hatte einen schönen Titel, Zcirkus der Wünsche. Aber nicht den Basler Stadtroman. Shit.

Dass der Autor mit seinem Opus trotz geflissentlichem Nennen von Basler Ecken die "Tout Bâle" - Quote nicht erreicht hatte, war schlimm genug. Musste er sich über die Ausschreibung auch noch lustig machen? Er habe gar nie im Sinn gehabt, einen Stadtroman zu schreiben, liess er verlauten. Starker Tobak. Zwar mag man sich in der Tat nur schwer vorstellen., Dos Passos habe sich mit der Absicht an den Schreibtisch gesetzt, den New Yorker Stadtroman zu schreiben. Und wer würde behaupten, Der Glöckner von Notre-Dame gehe auf den Entschluss Victor Hugos zurück, einen Stadtroman in die Welt zu setzen. Aber die beiden schrieben auch nicht den Basler Stadtroman, für den ganz andere Gesetze gelten.

Petschinkas Beleidingung konnte man nicht auf sich sitzen lassen. Man quittierte sie, in den Worten eines Jurymitglieds, mit einem "knallharten Grosstadtentscheid". Die Lesung im Theater Basel wurde kurzfristig abgesetzt. Die Lesung im Literaturhaus geriet zum Tribunal der Jury, die den Autour vor versammeltem Publikum zur Rechenschaft zog. Die zweite Hälfte des Preisgelds werde, teilte man dem erstaunten Gewinner mit, nicht ausbezahlt.

Übrigens, was kommt im Buch eigentlich vor? Unter anderem ein Maler (geil und potent) mit Atelier; ein Auftraggeber (reich und verliebt); mehrere Modelle (hübsch und willig), ein Quartier (Drogehhandel und Strich); Weltpolitik (Krieg und Gewalt). Gewürzt mit einer Prise Homoerotik, einem Hauch Kinderporno. Ein Stadtroman? Vor zwanzig Jahren würde man ihm urbanen Chic attestiert haben. Vor zweihundert Jahren hätten seine kulturkritischen Bemerkungen ("basel - eine prächtige kulisse. wenn man das mittelalter liebt") beim Lesen ein Schmunzeln entlockt.

Zählen wir alles zusammen. Erstens, wir haben einen Roman. Zweitens, wir haben einen Basler Roman und eine literarische Posse dazu. Drittens wir haben - ei, da fehlt doch was? Genau. Die Stadt.

Rudolf Bussmann

 

  Inhaltsangabe

Liebe Leserin, lieber Leser
Fisimatenten

Aus Berlin
Einleitung von Peter Ensberg
Kathrin Röggla : drei Prosatexte
Eva Corino : Gedichte
Sherko Fatah : Selima
Ulf Stolterfoht : Gedichte
Thomas Lehr : Zürich 1989
Monika Rinck : Gedichte
Ulrich Schlotmann : Die Freuden auf der Jagd
Tom Beinlich : Ich bin die Frau Brauer und stehe hier neben ihrem Mann
Gespräch mit Helmut Böttiger
Gerspräch mit Dieter Stolz

Besprechungen und Hinweise
Rudolf Bussmann über Friederike Kretzen
Frank Wittmann über Fleur Jaeggy
Christoph Wegmann über Nicolas Bouvier
Werner Morlang über Peter Weber
Elsbeth Pulver über Peter Weber
Elsbeth Pulver über Jürg Schubiger
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Die Autorinnen und Autoren
Impressum

 

Page créée le: 10.04.03
Dernière mise à jour le 10.04.03

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