Theres Roth-Hunkeler, *1953; lebt und
arbeitet als Autorin literarischer und kulturjournalistischer
Texte in St. Gallen. Letzte Publikation: Erzähl die Nacht,
Roman, rotpunktverlag, 2000.
Nachtwanderung
Dunkelheit. Darkness. Du willst dazwischen.
Drängst dich zwischen die Sprachen, zwischen die Wörter
und machst dich dort klein. Ziehst die Beine an deinen Körper,
richtest dich ein im Wort- und Sprachzwischenraum, embryonal,
vorsprachlich ganz bestimmt, willst hier fortan wohnen, insbesondere
hier schlafen. In diesem Dunkel. Im Dunkel des Kontinentalgrabens.
In seiner ganzen Tiefe. Nur im Kopf gibt es winzige Verbindungen:
Darkness und Dunkelheit. Im karierten Wörterheft von
einst stand sogar Dunkelheit = Darkness. Nun bist du dir nicht
mehr sicher. Seit du schlaflos lagst in den hellen Nächten
Islands. Seit du die Tafelberge gesehen hast und die sich
auffächernde Geologie und die Wunderwörter Granit,
Gneis und Glimmerschiefer wieder aufgetaucht sind und die
Synapsen in der Schwärze des Kopfes stimuliert wurden
und Basalt sich zur Gesteinsammlung legte und Desmin und Kalzit
und Pyrit: Dunkelheit. Darkness. Seit sich in dir der Kontinentalgraben
fortsetzt und die Meere auseinanderreißt wie Liebende,
trennt, was zusammengehört, seit alledem richtest du
dich ein im Leerschlag zwischen Dunkelheit und Darkness. Im
Norden morgens um drei die Helle. Du sahst keinen Mond, der
doch im Märchen immer so kalt ist, du sahst nur die Bilder,
von denen du dachtest, sie könnten den Mond zeigen, Mondlandschaften,
sagen wir, obwohl nur ganz wenige Menschen Mondlandschaften
wirklich gesehen haben. Aber du brauchtest endlich nicht mehr
mit Kunstlicht im Zimmer zu schlafen. Denn seit einiger Zeit
hattest du zuhause das Licht nicht mehr gelöscht, wenn
du zu Bett gingst. Da war eine Anwesenheit vorgekommen im
Dunkeln, die du nicht deuten konntest, und deshalb hattest
du es vorgezogen, nur noch einzuschlafen, wenn alle Lichter
an waren, deine Wohnung hell erleuchtet bis zum Morgen. Das
Licht nie ausmachen. In der Helle einschlafen. Es gelang nur
mühsam. Erst in der Helle des Nordens hast du dich wieder
nach Dunkelheiten gesehnt und das Zauberwort Darkness gedacht,
als würde sich im Übersetzen endlich der Wechsel
von Hell zu Dunkel vollziehen. Und jetzt bist du zurück.
Und kannst dich nur noch wundern über deine Lichtmarotte
von vor der Reise in den Norden. Du liegst wieder im Dunkeln,
im Stockdunkeln, und es ist dir mehr als recht. Und du beginnst
wieder. Springst von Stein zu Stein. Machst Nacht für
Nacht deine kleinen Wanderungen. Machst deine Spielchen. Gegen
die Schlaflosigkeit. Das alphabetische kleine Einmaleins.
Buchstabierst dich da durch. Vom N zum A. Vom Mann zur Liebe
zur Kälte. Von der Jagd zur Insel. Von den Händen
zum Geschlecht. Und Fragen. Und Eifersucht. Du Dummchen. Chanel
Nr. 5. Bilder. Adieu Alleinchen. Und wieder über alle
Bilder zu deinem Duty-Free-Parfüm Chanel Nr.5. Und dann
denselben Pfad zurück bis zu euren Händen. Und der
letzte, der weitgespannte Abschnitt vom H zum T. Wie zuverläßig
die Versalien. Wie gut du Tritt fasst. Die Innigkeit. Der
Juni. Die Klammer. Die Lust. Die Münder. Die Nähe.
Die Ohren. Die Poesie. Die Qual. Die Ruhe. Die Sanftheit.
Die Tiefe. Nach der Ankunft in Frankreich wandern. Dann in
Italien. Und schließlich den Sprung über den Graben.
Night. Welch ein Glück, dass die Nächte alle mit
N beginnen. N ist der Buchstabe für nie und für
nein. Im Isländischen gibt es mehr als zwanzig Wörter
für Wind. Das fällt dir ein, wenn du dir deine Beine
viersprachig vertreten hast und immer noch nicht müde
bist oder so, oder wie sagt man? Leider sprichst du kein Spanisch.
Du denkst an den Brüllwind, der dich packte und drohte,
dich in den Graben zu stoßen. Du teilst den Winden ihre
Zimmer zu, Einzelzimmer, damit sie schlafen können. Du
knipst die Lampe an und wieder aus. Dunkelheit. Darkness.
Theres Roth-Hunkeler
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Page créée le 19.12.02
Dernière mise à jour le 19.12.02
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