Klaus Merz, *1945 in Aarau, lebt als freier Schriftsteller in
Unterkulm/Schweiz. Zuletzt «Jakob schläft»,
Eigentlich ein Roman, Haymon Verlag, Innsbruck 1997; «Garn»,
Prosa & Gedichte, 2000 ebd.; «Adams Kostüm»,
Drei Erzählungen, 2001 ebd.
Report
Für meinen Bruder Martin Merz (1950-1983)
Zwischen dreihundert Schweinehälften
hindurch, über glitschige Treppen, durch nasse Gänge,
schwitzenden Abwässerrohren entlang unbemerkt in den
innersten Kreis des Schlachthofes vordringen.
Es ist ein strahlender Tag heute, knalliger
Junimorgen, das Magazin hat drei Doppelseiten in Aussicht
gestellt. Mit einem Mikrophon in der Hand, der Canon am Hals,
Blutspritzer auf dem hellen Revers, freundlich von hinten
an die arbeitenden Schlachtmannschaften herantreten, Schuss,
und mitten in die verdutzten Gesichter hinein ein paar vertrauliche
Fragen stellen: Potenzfragen zum Beispiel. Oder die Frage
nach der eigenen, bevorzugten Todesart. Dann wieder verlegen
ins Blut schauen und unverhofft nachhaken. Oder noch besser:
Sie einfach erzählen lassen. Hier riecht es doch auf
Schritt und Tritt penetrant nach Geschichten. So sinnlich
geht es sonst nirgends mehr zu. Und dazu dann die Erotik des
Glanzpapiers. Die Frau mit der Leber verbirgt volles Haar
unter dem weißen Tuch. Und was will dir der Mann mit
dem Messer erzählen, der abends nach dem Ausweiden die
Kinder übernimmt, wenn seine Frau im Bären servieren
geht?
Nach dem Essen steckt er die Kleinen
ins Bett und baut an seinen Kriegsschiffen weiter: U-Boote,
Zerstörer, ein Flugzeugträger. Ein wenig militärisch
ist er schon eingestellt, aber nicht allzu stark. Vor allem
die Technik interessiert ihn an den Modellen. Die Ferien verbringt
er mit seiner Familie regelmäßig in Österreich.
Er hält jetzt die Innereien einer
Sau in der Hand. Ob es recht sei so, fragt er, und hält
still für ein Bild.
Sein Kollege im Plastikmantel, über
den das Blut in kleinen und großen, verzweigten und
geraden Rinnsalen fließt, hat nie nach Amerika auswandern
wollen wie seine zwei älteren Geschwister. Er pflegt
in seiner Freizeit seine Frau und den Garten. Rosenrabatten
um das fest installierte Wohnmobil am Hallwilersee. Sie haben
selbst keine Kinder, leider, aber alles Lebendige macht ihnen
sonst Spaß. Beim Fußballsport ist er heute nur
noch als Zuschauer aktiv. Die Bohnen geraten allerdings schlecht
dieses Jahr. Er warnt vor dem heimwehkranken Griechen mit
dem schwarzen Schnurrbart im Gummischurz, der alle Trauben
und Gurken und importierten Melonen hier viel kleiner findet
als zu Hause auf dem Markt in Chalkis. Soll er doch endlich
die Finken klopfen, anstatt hier andauernd herumzujammern.
Er jedenfalls geht jeden Tag gerne arbeiten. Gut, man hat
vielleicht früher auch so seine Träume gehabt, aber
dann ist halt die Bekanntschaft dazwischen gekommen, eine
Fehlgeburt.
Nein, gegen einen Schnappschuss hat
er nichts einzuwenden. Am besten von der Seite, damit das
Gegenlicht die Aufnahme nicht versaut. Er selber fotografiert
am liebsten Berglandschaften und natürlich den See.
Noch zwei, drei solcher Porträts
und die Reportage steht so, wie man sichs vorher schon ausgemalt
hat: den Mann mit den Innereien ganzseitig, groß.
Ob man auch an wahren Geschichten interessiert
sei, fragt unvermittelt ein untersetzter Vierzigjähriger,
der einen jetzt beiseite nimmt, als man auf ihn zutritt, damit
die halbierten Rinder ungehindert vorbeiziehen können.
Nicht von ihm selbst, von seinem Bruder
sei zu erzählen: Die Krankheit werde durch einen Virus
im Mutterleib hervorgerufen. Der Gehirnwasserstau weite die
Hirnkammer aus, ein Hydrocephalus, wie die Fachleute sagten.
Ob man sich das vorstellen könne, einen Bruder zu haben
mit großen Kavernen im Kopf, in denen unablässig
Wortgebilde entstünden, schmal und zerbrechlich wie Stalagmiten
oder Stalaktiten, nur wüchsen sie viel schneller als
Tropfsteingebilde, lagerten sich aber viel unscheinbarer ab:
in Stapeln von Papier.
Ob er eines der Gedichte aufsagen solle,
fragt der Schlächter, lässt seinen Rinderkopf in
den Container fallen, fährt sich mit dem sauberen Handrücken
über die Stirn. Durchs Kipptor werden Knochensplitter
ausgefahren, der Mann denkt in den Lärm des Schlachthofes
hinein, rezitiert:
Stiller Abend.
Meine Augen suchen
die Blütenblätter
der unsichtbaren Blume.
Rot sind ihre Herzenskeime.
Sie leuchten durch das Tuch, das du entfaltest,
um deine Erinnerung
darin zu verbergen.
Das sei ein Gedicht des Vierzehn-,
Fünfzehnjährigen gewesen, zu neueren Texten werde
er noch kommen. Es ist ihm deutlich anzusehen, dass er vorderhand
nicht mehr gedenkt, Rinderköpfe vom Rumpf zu trennen,
sondern weiterreferieren will. Die ganze Arbeit den Kollegen
alleine machen lassen, aber das Messer nicht aus der Hand
legen, sondern beim Reden gefährlich in der Luft herumfuchteln
mit der Klinge. Der Kamerad flucht den Rindern auf griechisch
in die Ohren hinein.
Notgedrungen bleibt man zwischen einem
Container und dem Mann im weißen Gummischurz, in kniehohen
Feuerwehrstiefeln stehen, fingert am Aufnahmegerät herum
und spürt, wie der andere nur darauf wartet, weiterreden
zu können, seinen Bruder zu vergegenwärtigen.
Dabei weiß man doch genau, dass man der Redaktion heute
nicht mit solcher Lyrik vorbeikommen muss. Die Literatur der
Bresthaften hat zwar vor Jahren die Protokolle aus der Schwerindustrie
abgelöst, doch die ausgemergelte Innerlichkeit hat sich
nun endlich ins pralle Leben der Schlachthöfe hinübergerettet.
- Aber der Bruder des Dichters will sich diesem Gebot der
Stunde nicht fügen, fasst einen von unten herauf scharf
ins Auge, sucht nach einer gewissen Behaftbarkeit hinter der
randlosen Brille im Reportergesicht.
Vom Handschweiß seien die runden
Griffrohre an den Rädern des Rollstuhles seines Bruders
rostig geworden. Denn da sei nichts gewesen mit Gehen. Jede
Treppe ein unüberwindbarer Berg, alles parterre, nie
eine Aussicht nirgendwohin, wenn da nicht ab und zu einer
gewesen wäre, der ihn in die Höhe gestemmt hätte.
Und die Rente sowieso nur von der Hand in den Mund. Wäre
er nicht ins Schlachthaus gegangen, nachdem man ihm in der
Druckerei gekündigt hatte, es hätte kaum genug Proteine
gegeben für seinen Brüetsch, der keinen Käse
vertragen habe. Nicht einmal die Rollstuhlrohre hätte
er mehr zum Rosten bringen können. Aber über
seine Worte gehe ihm nichts. Alfabetizacion es liberacion,
dieser neue Dritte-Welt-Slogan, damit habe der Chilene am
Schussapparat schon Recht; der Satz gelte aber ebensogut für
seinen Bruder, der sein Leben lang auch ein halber Eingeborener
geblieben sei, wenn man überhaupt verstehe, wie er das
meine, einer, der halt nach innen schaut, weil es außerhalb
nicht viel zu sehen gegeben habe für ihn:
Innerlich aufwogend
in mir die Wasser,
die kein anderer sieht.
Etwas suchend,
das hier und doch
am anderen Ende liegt.
Etwas, das keine Worte erheischt.
Die andere Seite.
Ich suche sie vergebens.
Die Tage müssen noch kommen.
Das wolle er selber auch hoffen, sagt
der Schlächter, zieht nun seine Arbeitsschürze aus.
Seinen Bruder wolle er nicht in den Arbeitskleidern deklamieren,
das habe der nicht verdient. Er nimmt wieder die Hand vor
die Stirn, aber das Messer legt er nicht weg.
Wie nur hinüberwechseln, Herrgott,
zum Italiener mit den schwarzen Augen unterm weißen
Käppirand, der einer vorbeigehenden Jugoslawin rasch
mit dem Sauschwanz gekommen ist: Diese ganz andere Ergiebigkeit
im Hinblick auf einen scharfen Report, der mit der schlichten
Feststellung von 73,2 Kilogramm Fleischkonsum pro Kopf und
Jahr zu beginnen hätte.
Es ist zum Weinen, daß einem
dieser Dichterbruder stets die halbe Aussicht verdeckt, während
durch die dünnen Ledersohlen der schnellen Schuhe schon
das Blutwasser dringt und einem das Gegenüber jetzt das
Mikrophon aus der Hand zerrt, sodass man zu seinem Leidwesen
auch noch mit ihm verbunden ist durch eine zähe, drahtige
Nabelschnur, in die er hineinzurezitieren beginnt, ein Werk
des Siebzehnjährigen, wie er behauptet:
Einst gespielt
im Winde die Locke
blond wie die Blume,
die keinen Namen hat
und deren Farbe
im Winde getrübt wurde.
Jetzt blassgelb,
fast ins Weiße spielend.
Die rote Mütze
in ihrem Innern
wie der Jüngling,
der an ihr vorbeigeht.
Also warten, bis er nachgibt, dieser
Notoriker. Die weißen Kacheln über dem Sautisch
zählen. Oberflächlich atmen, damit der schale Geruch
nicht zu tief eindringt. - Wie rasch ist man doch als Sensibler
lädiert. Die Risiken des Berufes halt. - Gut, dass dieser
Mensch sonst nur auf seine Rinder losgeht mit der Lyrik seines
Bruders, der eines Tages, nasser Oktober, von dannen gegangen
sei. Ganz allein gemacht, den letzten Gang. Auf den kleinen
Füßen. Die Sprechpausen werden jetzt zunehmend
länger, als drohte dem Rezitator Atemnot.
Zernagt und zerfressen
die Herzschalen der Vergessenen.
Boote aus Knochensplittern
fahren die Aschefetzen in die Tiefe.
Der habe gewusst, wovon er rede. Habe
aber andererseits auch lachen und zuhören können.
Trotz allem. Auch davon gebe es ja immer weniger hienieden.
Vielleicht weil ihnen die Hallräume in den Köpfen
oder weiß nicht wo fehlten. So sei es bis jetzt an ihm,
dem Bruder, hängen geblieben, ihm jeweils abends, wenn
er aus dem Fleisch komme, ein paar Worte nachzurufen. Über
den finstersten Fluss hinüber, sozusagen wo ein schwarzes
Schiff anlege und sich einem das Schilf feucht auf die Stirne
senke, um bei den Worten seines Bruders zu bleiben, denn andere,
eigentlichere Formulierungen stünden ihm ja gar nicht
zur Verfügung.
Ja, wenn man tagelang im Blut gestanden
habe, gebe einem der Schnee schon Rätsel auf. Aber. .
.
Vielleicht
wird einmal alles vergessen,
was schön war.
Es wird vergessen,
weil niemand
richtig daran dachte.
Das sei so ein Satz, den er manchmal
jemandem mitteilen möchte. Fast Tag für Tag kämen
ja in letzter Zeit Journalisten im Schlachthof vorbei, stünden
Schriftsteller vor Ort, um beim Ausweiden und Auf-die-Knochen-Stoßen
zuzuschauen. Manchmal kotzten die recherchierenden Dichter
zwar in die bereitstehenden Darmwannen hinein, und die Schlachtmannschaften
hielten sich die Bäuche vor Lachen, während er unter
diesen suchenden Leuten unablässig nach jemandem Ausschau
halte, der »seine Stimme nicht verändern müsse,
um zu antworten«, wie es in einem Text seines Bruders
heiße. Dieser habe ja sein kurzes Leben lang nach solchen
Partnern gesucht und sei nicht fündig geworden, weil
ihm leider der Zugang zu geistigen Menschen weitgehend versagt
geblieben sei und sich erst postum, auf dem Weg über
die Schlachthöfe sozusagen, nun eine Möglichkeit
aufzutun scheine, bei differenzierteren Köpfen Gehör
zu finden, als es sein einfaches Bruderhirn sei.
Nur der Mann gibt einem unvermittelt
das Mikrophon zurück, langt nach der ausgezogenen Gummischürze
auf dem Tisch, seine Augen, die die Augen eines Untersetzten
sind, stehen jetzt plötzlich auf der Höhe der eigenen,
das Beobachten und Abwarten gewöhnten Blauaugen des Kopfarbeiters
, nur, sagt er und bekommt ein abgewandtes Gesicht,
die Linke einem Rind schon an den Hals gelegt, in der Rechten
das lange Messer, nur sei man auch nicht der Richtige, das
spüre einer, der so lange mit Tieren zu tun gehabt habe
wie er. Für wirklich wichtige Mitteilungen dürfe
man eben nicht irgendjemanden ins Vertrauen ziehen, da bleibe
man lieber bei seiner eigenen, unbeholfenen, dafür aber
brüderlichen Rezitation und bitte jetzt nur noch sehr
höflich, jedoch ohne Schonzeit, raschestens hinüberzuwechseln
zum Kollegen mit dem Wuschelhaar, der einen sicherlich bereitwilliger
in ein anderes Vertrauen ziehen werde.
Die Blutspritzer auf dem Revers seien
übrigens mit Natron zu bestreuen. Tropfenweise kaltes
Wasser dazugeben und zu einer Paste kneten. Fünfzehn
bis zwanzig Minuten warten, dann mit einem Schwamm abwischen,
fügt er wie beiläufig hinzu. Und jetzt aufpassen
beim Weitergehen, dass man nicht plötzlich selber am
Stechkarussell hänge und dem Hohlmesser zum Opfer falle.
(Die zitierten Gedichte stammen aus:
Martin Merz, Zwischenland. Gesammelte Gedichte und Prosanotizen,
1983.)
Klaus Merz
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