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entwürfe 32
Zeitschrift für Literatur
http://www.entwuerfe.ch

  entwürfe - Zeitschrift für Literatur n°32

ISBN 3-906729-16-8

Ballade

Jeden Abend kommt die Faust geflogen
haut ein Stück Kopf aus dem Kopf.

Jede Nacht fliegt ein Stück Kopf
um den Kopf um die Faust
klingt ein Stück Zeit aus der Zeit.

Fliegt nie der Kopf
klingt nie die Faust
klingt nie ein Stück Kopf
ein Stück Faust aus der Faust.

Jeden Morgen fliegt ein Stück Zeit um die Zeit
schüttelt den Kopf die Faust stottert
NIENIE statt zu klingen.

Wann ein Stück Lied. Das Wort Vogel. Geflogen. NUNU.
Nix vergessen. Ein Stücck Fuss auf den Fuss

Urs Allemann

 

  Editorial n°32


Fleisch

Wenn Sprache eine Wohnung ist, so ist der Begriff ein Vorraum zu verschiedenen Zimmern. Der Begriff "Fleisch" eröffnet Einblick nach allen Seiten, ins Schlafzimmer, in die Küche, ins Wohnzimmer und ins Bad. Fleisch ist präsent auf dem Teller, auf der Waage und im Bett. Fleisch ist Nahrung, Fleisch steht stellvetretend für den Körper, für die Sexualität, für das Leben selbst. Und im Umgang mit Fleisch manifestieren sich feine soziale, ökonomische und ideologische Unterschiede, die sich wiederum am eigenen Körper, am eigenen Fleisch ablesen lassen. Fleisch ist präsent, und doch hat der Begriff viel von seiner ideologischen Sprengkraft verloren. Wurde im 19. Jahrhundert der Fortschritt eines Volkes an der Menge verzehrten Fleisches gemessen oder im Gegenzug jeder Fleischkonsum als widernatürlich gegeisselt, so haben sich die Fronten - wenn sie überhaupt noch existieren - doch stark aufgeweicht. Der moderne Vegetarier mag seine Wurzeln bei Bircher und Kollath haben, vielmehr ist der Fleischverzicht jedoch ein Zeichen von gesunder Ernährung, Erfolg und Glück. Und umgekehrt ist das saftige Steak, natürlich massvoll genossen, ein Lustfaktor, dem man nicht zugleich den sozialen Aufstieg unterschiebt. Auch auf dem Feld der fleischlichen Genüsse ist einiges in Bewegung geraten. Das Fleisch des andern mag Lust und Verführung sein, auch ohne Ehevertrag ist es jedoch nicht mehr des Teufels.

Das aktuelle Heft wirft einige Blicke in die verschiedenen Zimmer und Hinterzimmer des Fleisches, steht im Schlachthaus zwischen aufgehängten Rinderhälften und Plastikwannen, steht neben einer gefüllten Gefriertruhe, blickt auf die Schlachtplatten eines Landgasthofs. Es sind drastische Aus- und Einblicke allesamt, und nicht selten wird es auch eklig oder fremd und bizarr. Die Texte gehen nahe ran und sehen hin, wo man gewöhnlich den Blick abwendet. Und doch bleibt eine Scheu, die toten Körper, das leblose Fleisch wirklich zu berühren. Die Texte kreisen vielmehr um eine anziehend abstossende Sinnlichkeit, mit der sie nicht wirklich fertig werden. Der Ton verändert sich, wenn wir neben den Lebendigen sitzen, im Wirtshaus neben den schwergewichtigen, melancholischen Männern, zwischen den nackten Leibern beim Sonnenbad, neben dem zerbrechlichen, vom Fleisch gefallenen Körper einer alten Frau. Hier forschen die Texte dem Mysterium Vitalität nach, das sich in der unterschiedlichen Ausformung des Körpers zeigt. So ist die Auseinandersetzung mit Fleisch letztlich eine Beschäftigung mit Leben und Tod, vielleicht noch besser, eine Beschäftigung auf Leben und Tod.

Existenzielle Anregung und lustvolle Aneignung bei der Textaufnahme wünschen

Michael Schmid und Yvonne Stocker

Das Beefsteak gehört zur selben Blutmythologie wie der Wein. Es ist das Herz des Fleisches, das Fleisch im Reinzustand, und wer es zu sich nimmt, assimiliert die Kräfte des Rindes.

 

  Report / Klaus Merz

Klaus Merz, *1945 in Aarau, lebt als freier Schriftsteller in Unterkulm/Schweiz. Zuletzt «Jakob schläft», Eigentlich ein Roman, Haymon Verlag, Innsbruck 1997; «Garn», Prosa & Gedichte, 2000 ebd.; «Adams Kostüm», Drei Erzählungen, 2001 ebd.

Report

Für meinen Bruder Martin Merz (1950-1983)

Zwischen dreihundert Schweinehälften hindurch, über glitschige Treppen, durch nasse Gänge, schwitzenden Abwässerrohren entlang unbemerkt in den innersten Kreis des Schlachthofes vordringen.

Es ist ein strahlender Tag heute, knalliger Junimorgen, das Magazin hat drei Doppelseiten in Aussicht gestellt. Mit einem Mikrophon in der Hand, der Canon am Hals, Blutspritzer auf dem hellen Revers, freundlich von hinten an die arbeitenden Schlachtmannschaften herantreten, Schuss, und mitten in die verdutzten Gesichter hinein ein paar vertrauliche Fragen stellen: Potenzfragen zum Beispiel. Oder die Frage nach der eigenen, bevorzugten Todesart. Dann wieder verlegen ins Blut schauen und unverhofft nachhaken. Oder noch besser: Sie einfach erzählen lassen. Hier riecht es doch auf Schritt und Tritt penetrant nach Geschichten. So sinnlich geht es sonst nirgends mehr zu. Und dazu dann die Erotik des Glanzpapiers. Die Frau mit der Leber verbirgt volles Haar unter dem weißen Tuch. Und was will dir der Mann mit dem Messer erzählen, der abends nach dem Ausweiden die Kinder übernimmt, wenn seine Frau im Bären servieren geht?

Nach dem Essen steckt er die Kleinen ins Bett und baut an seinen Kriegsschiffen weiter: U-Boote, Zerstörer, ein Flugzeugträger. Ein wenig militärisch ist er schon eingestellt, aber nicht allzu stark. Vor allem die Technik interessiert ihn an den Modellen. Die Ferien verbringt er mit seiner Familie regelmäßig in Österreich.

Er hält jetzt die Innereien einer Sau in der Hand. Ob es recht sei so, fragt er, und hält still für ein Bild.

Sein Kollege im Plastikmantel, über den das Blut in kleinen und großen, verzweigten und geraden Rinnsalen fließt, hat nie nach Amerika auswandern wollen wie seine zwei älteren Geschwister. Er pflegt in seiner Freizeit seine Frau und den Garten. Rosenrabatten um das fest installierte Wohnmobil am Hallwilersee. Sie haben selbst keine Kinder, leider, aber alles Lebendige macht ihnen sonst Spaß. Beim Fußballsport ist er heute nur noch als Zuschauer aktiv. Die Bohnen geraten allerdings schlecht dieses Jahr. Er warnt vor dem heimwehkranken Griechen mit dem schwarzen Schnurrbart im Gummischurz, der alle Trauben und Gurken und importierten Melonen hier viel kleiner findet als zu Hause auf dem Markt in Chalkis. Soll er doch endlich die Finken klopfen, anstatt hier andauernd herumzujammern. Er jedenfalls geht jeden Tag gerne arbeiten. Gut, man hat vielleicht früher auch so seine Träume gehabt, aber dann ist halt die Bekanntschaft dazwischen gekommen, eine Fehlgeburt.

Nein, gegen einen Schnappschuss hat er nichts einzuwenden. Am besten von der Seite, damit das Gegenlicht die Aufnahme nicht versaut. Er selber fotografiert am liebsten Berglandschaften und natürlich den See.

Noch zwei, drei solcher Porträts und die Reportage steht so, wie man sichs vorher schon ausgemalt hat: den Mann mit den Innereien ganzseitig, groß.

Ob man auch an wahren Geschichten interessiert sei, fragt unvermittelt ein untersetzter Vierzigjähriger, der einen jetzt beiseite nimmt, als man auf ihn zutritt, damit die halbierten Rinder ungehindert vorbeiziehen können.

Nicht von ihm selbst, von seinem Bruder sei zu erzählen: Die Krankheit werde durch einen Virus im Mutterleib hervorgerufen. Der Gehirnwasserstau weite die Hirnkammer aus, ein Hydrocephalus, wie die Fachleute sagten. Ob man sich das vorstellen könne, einen Bruder zu haben mit großen Kavernen im Kopf, in denen unablässig Wortgebilde entstünden, schmal und zerbrechlich wie Stalagmiten oder Stalaktiten, nur wüchsen sie viel schneller als Tropfsteingebilde, lagerten sich aber viel unscheinbarer ab: in Stapeln von Papier.

Ob er eines der Gedichte aufsagen solle, fragt der Schlächter, lässt seinen Rinderkopf in den Container fallen, fährt sich mit dem sauberen Handrücken über die Stirn. Durchs Kipptor werden Knochensplitter ausgefahren, der Mann denkt in den Lärm des Schlachthofes hinein, rezitiert:

Stiller Abend.
Meine Augen suchen
die Blütenblätter
der unsichtbaren Blume.
Rot sind ihre Herzenskeime.
Sie leuchten durch das Tuch, das du entfaltest,
um deine Erinnerung
darin zu verbergen.

Das sei ein Gedicht des Vierzehn-, Fünfzehnjährigen gewesen, zu neueren Texten werde er noch kommen. Es ist ihm deutlich anzusehen, dass er vorderhand nicht mehr gedenkt, Rinderköpfe vom Rumpf zu trennen, sondern weiterreferieren will. Die ganze Arbeit den Kollegen alleine machen lassen, aber das Messer nicht aus der Hand legen, sondern beim Reden gefährlich in der Luft herumfuchteln mit der Klinge. Der Kamerad flucht den Rindern auf griechisch in die Ohren hinein.

Notgedrungen bleibt man zwischen einem Container und dem Mann im weißen Gummischurz, in kniehohen Feuerwehrstiefeln stehen, fingert am Aufnahmegerät herum und spürt, wie der andere nur darauf wartet, weiterreden zu können, seinen Bruder zu vergegenwärtigen. – Dabei weiß man doch genau, dass man der Redaktion heute nicht mit solcher Lyrik vorbeikommen muss. Die Literatur der Bresthaften hat zwar vor Jahren die Protokolle aus der Schwerindustrie abgelöst, doch die ausgemergelte Innerlichkeit hat sich nun endlich ins pralle Leben der Schlachthöfe hinübergerettet. - Aber der Bruder des Dichters will sich diesem Gebot der Stunde nicht fügen, fasst einen von unten herauf scharf ins Auge, sucht nach einer gewissen Behaftbarkeit hinter der randlosen Brille im Reportergesicht.

Vom Handschweiß seien die runden Griffrohre an den Rädern des Rollstuhles seines Bruders rostig geworden. Denn da sei nichts gewesen mit Gehen. Jede Treppe ein unüberwindbarer Berg, alles parterre, nie eine Aussicht nirgendwohin, wenn da nicht ab und zu einer gewesen wäre, der ihn in die Höhe gestemmt hätte. Und die Rente sowieso nur von der Hand in den Mund. Wäre er nicht ins Schlachthaus gegangen, nachdem man ihm in der Druckerei gekündigt hatte, es hätte kaum genug Proteine gegeben für seinen Brüetsch, der keinen Käse vertragen habe. Nicht einmal die Rollstuhlrohre hätte er mehr zum Rosten bringen können. – Aber über seine Worte gehe ihm nichts. Alfabetizacion es liberacion, dieser neue Dritte-Welt-Slogan, damit habe der Chilene am Schussapparat schon Recht; der Satz gelte aber ebensogut für seinen Bruder, der sein Leben lang auch ein halber Eingeborener geblieben sei, wenn man überhaupt verstehe, wie er das meine, einer, der halt nach innen schaut, weil es außerhalb nicht viel zu sehen gegeben habe für ihn:

Innerlich aufwogend
in mir die Wasser,
die kein anderer sieht.
Etwas suchend,
das hier und doch
am anderen Ende liegt.
Etwas, das keine Worte erheischt.
Die andere Seite.
Ich suche sie vergebens.
Die Tage müssen noch kommen.

Das wolle er selber auch hoffen, sagt der Schlächter, zieht nun seine Arbeitsschürze aus. Seinen Bruder wolle er nicht in den Arbeitskleidern deklamieren, das habe der nicht verdient. Er nimmt wieder die Hand vor die Stirn, aber das Messer legt er nicht weg.

Wie nur hinüberwechseln, Herrgott, zum Italiener mit den schwarzen Augen unterm weißen Käppirand, der einer vorbeigehenden Jugoslawin rasch mit dem Sauschwanz gekommen ist: Diese ganz andere Ergiebigkeit im Hinblick auf einen scharfen Report, der mit der schlichten Feststellung von 73,2 Kilogramm Fleischkonsum pro Kopf und Jahr zu beginnen hätte.

Es ist zum Weinen, daß einem dieser Dichterbruder stets die halbe Aussicht verdeckt, während durch die dünnen Ledersohlen der schnellen Schuhe schon das Blutwasser dringt und einem das Gegenüber jetzt das Mikrophon aus der Hand zerrt, sodass man zu seinem Leidwesen auch noch mit ihm verbunden ist durch eine zähe, drahtige Nabelschnur, in die er hineinzurezitieren beginnt, ein Werk des Siebzehnjährigen, wie er behauptet:

Einst gespielt
im Winde die Locke
blond wie die Blume,
die keinen Namen hat
und deren Farbe
im Winde getrübt wurde.
Jetzt blassgelb,
fast ins Weiße spielend.
Die rote Mütze
in ihrem Innern
wie der Jüngling,
der an ihr vorbeigeht.

Also warten, bis er nachgibt, dieser Notoriker. Die weißen Kacheln über dem Sautisch zählen. Oberflächlich atmen, damit der schale Geruch nicht zu tief eindringt. - Wie rasch ist man doch als Sensibler lädiert. Die Risiken des Berufes halt. - Gut, dass dieser Mensch sonst nur auf seine Rinder losgeht mit der Lyrik seines Bruders, der eines Tages, nasser Oktober, von dannen gegangen sei. Ganz allein gemacht, den letzten Gang. Auf den kleinen Füßen. Die Sprechpausen werden jetzt zunehmend länger, als drohte dem Rezitator Atemnot.

Zernagt und zerfressen
die Herzschalen der Vergessenen.
Boote aus Knochensplittern
fahren die Aschefetzen in die Tiefe.

Der habe gewusst, wovon er rede. Habe aber andererseits auch lachen und zuhören können. Trotz allem. Auch davon gebe es ja immer weniger hienieden. Vielleicht weil ihnen die Hallräume in den Köpfen oder weiß nicht wo fehlten. So sei es bis jetzt an ihm, dem Bruder, hängen geblieben, ihm jeweils abends, wenn er aus dem Fleisch komme, ein paar Worte nachzurufen. Über den finstersten Fluss hinüber, sozusagen wo ein schwarzes Schiff anlege und sich einem das Schilf feucht auf die Stirne senke, um bei den Worten seines Bruders zu bleiben, denn andere, eigentlichere Formulierungen stünden ihm ja gar nicht zur Verfügung.

Ja, wenn man tagelang im Blut gestanden habe, gebe einem der Schnee schon Rätsel auf. Aber. . .

Vielleicht
wird einmal alles vergessen,
was schön war.
Es wird vergessen,
weil niemand
richtig daran dachte.

Das sei so ein Satz, den er manchmal jemandem mitteilen möchte. Fast Tag für Tag kämen ja in letzter Zeit Journalisten im Schlachthof vorbei, stünden Schriftsteller vor Ort, um beim Ausweiden und Auf-die-Knochen-Stoßen zuzuschauen. Manchmal kotzten die recherchierenden Dichter zwar in die bereitstehenden Darmwannen hinein, und die Schlachtmannschaften hielten sich die Bäuche vor Lachen, während er unter diesen suchenden Leuten unablässig nach jemandem Ausschau halte, der »seine Stimme nicht verändern müsse, um zu antworten«, wie es in einem Text seines Bruders heiße. Dieser habe ja sein kurzes Leben lang nach solchen Partnern gesucht und sei nicht fündig geworden, weil ihm leider der Zugang zu geistigen Menschen weitgehend versagt geblieben sei und sich erst postum, auf dem Weg über die Schlachthöfe sozusagen, nun eine Möglichkeit aufzutun scheine, bei differenzierteren Köpfen Gehör zu finden, als es sein einfaches Bruderhirn sei.

Nur – der Mann gibt einem unvermittelt das Mikrophon zurück, langt nach der ausgezogenen Gummischürze auf dem Tisch, seine Augen, die die Augen eines Untersetzten sind, stehen jetzt plötzlich auf der Höhe der eigenen, das Beobachten und Abwarten gewöhnten Blauaugen des Kopfarbeiters –, nur, sagt er und bekommt ein abgewandtes Gesicht, die Linke einem Rind schon an den Hals gelegt, in der Rechten das lange Messer, nur sei man auch nicht der Richtige, das spüre einer, der so lange mit Tieren zu tun gehabt habe wie er. Für wirklich wichtige Mitteilungen dürfe man eben nicht irgendjemanden ins Vertrauen ziehen, da bleibe man lieber bei seiner eigenen, unbeholfenen, dafür aber brüderlichen Rezitation und bitte jetzt nur noch sehr höflich, jedoch ohne Schonzeit, raschestens hinüberzuwechseln zum Kollegen mit dem Wuschelhaar, der einen sicherlich bereitwilliger in ein anderes Vertrauen ziehen werde.

Die Blutspritzer auf dem Revers seien übrigens mit Natron zu bestreuen. Tropfenweise kaltes Wasser dazugeben und zu einer Paste kneten. Fünfzehn bis zwanzig Minuten warten, dann mit einem Schwamm abwischen, fügt er wie beiläufig hinzu. – Und jetzt aufpassen beim Weitergehen, dass man nicht plötzlich selber am Stechkarussell hänge und dem Hohlmesser zum Opfer falle.

(Die zitierten Gedichte stammen aus: Martin Merz, Zwischenland. Gesammelte Gedichte und Prosanotizen, 1983.)

Klaus Merz

 

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Page créée le 19.12.02
Dernière mise à jour le 19.12.02

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