Braucht es eine weitere Literaturzeitschrift in einem übersättigten
Markt? Ist nicht schon heute die Menge der Serien, Reihen
und Hefte kaum mehr zu überblicken? Die Zahl der Publikationen
ist zwar gross, doch betreten die Variations in verschiedener
Hinsicht Neuland und entgehen dadurch der Gefahr, in der Masse
unterzugehen. Neu ist die Fokussierung der Zeitschrift auf
die an der Universität Zürich betriebene Literaturwissenschaft.
Im Gegensatz zu anderen Universitäten hat Zürich
keine derartige Zeitschrift. An den einzelnen Instituten ist
zwar eine rege Forschungstätigkeit im Gang, doch wird
meist isoliert gearbeitet. Es fehlt das Wissen um verwandte
Projekte, Diskussion und Meinungsaustausch sind rar, Synergien
werden nicht genutzt. In diesem Bereich möchte die Zeitschrift
den dringend notwendigen Austausch fördern.
Neu ist bei den Variations auch die
Auswahl der Autorinnen und Autoren: Es sollen sowohl Studierende
als auch der Mittelbau wie auch die Privatdozenten und Professoren
zum Zug kommen. Wir möchten ein Forum für alle Stände
der Universität Zürich schaffen. Es geht um die
Sache Literatur, nicht um eine mehr oder weniger offene Selbstdarstellung
einzelner Gruppen. Das gemeinsame Anliegen soll den fächerübergreifenden
wie auch den ständeübergreifenden Zusammenhalt fördern.
Mit der Zeitschrift sollen sich Studierende und Dozierende
der Literaturwissenschaft gleichermassen identifizieren können.
Die Redaktion der Zeitschrift setzt
sich, dies der dritte Schritt auf Neuland, aus Assistierenden
des Deutschen und des Romanischen Seminars zusammen. Der Mittelbau
ist insofern in einer privilegierten Stellung, als er in seiner
Mittelstellung zwischen den Ständen vermitteln kann und
damit die Möglichkeit hat, die scheinbar unterschiedlichen
Interessen unter einen Hut zu bringen. Wir zielen aber nicht
auf ein konturloses Einerlei, sondern möchten die faszinierende
Vielfalt dokumentieren, die sich in der Literatur und im Nachdenken
über Texte verbirgt. In diesem Anliegen verbinden sich
die Schritte auf Neuland mit dem Rekurs auf Bewährtes.
Die Zeitschrift Variations bietet Raum
für literarische und literaturwissenschaftliche Beiträge.
Die hier vorliegende erste Nummer, die programmatisch dem
Thema Variations gewidmet ist, gibt einen Einblick
in die Arbeit mit Texten. Verschiedene Möglichkeiten
dieser Arbeit spiegeln sich im dreiteiligen Aufbau der Zeitschrift.
Im ersten Teil finden sich im weitesten Sinn literaturwissenschaftliche
Beiträge. Katharina Gerber zeigt uns Variationen des
Nixenmotivs in der Spannung zwischen feuchten Weibern"
und bebbernden Männern". Der Aufsatz von Roger
Francillon analysiert das Motiv des Ruban von
Ronsard bis Rousseau und von dUrfé bis Beaumarchais,
während Michel Jeanneret das Zusammenspiel von imitatio
und variatio zur Zeit der Renaissance untersucht. Wladimir
Krysinskis Studie, die, ausgehend von der Musik, die Literatur
des 20. Jahrhunderts unter dem Gesichtspunkt der Variation
von bestimmten semantischen und strukturellen Grundkonstanten
untersucht, beschliesst diesen ersten Teil.
Der zweite Teil umfasst literarische
Texte. Es scheint uns wichtig, neben der sogenannten Sekundärliteratur
auch und vor allem das Primäre zu berücksichtigen.
Nicht zufällig steht diese Sektion im Zentrum unserer
Zeitschrift. Die Literatur ist es, was den ersten mit dem
dritten Teil der Variations verbindet. Gleichzeitig ist der
Mittelteil thematisch ungebunden, während die Beiträge
des ersten Teils jeweils einem Leitthema gewidmet sein werden.
Die literarischen Texte dieser Nummer stammen von Hans-Jost
Frey, Sylvie Jeanneret, Pietro De Marchi, Jérôme
Meizoz, Ralf Schlatter, Bettina Spoerri und Brooks LaChance.
Die Photographien zwischen Teil I und Teil II stammen von
Rose-Marie Genoud.
Im dritten Teil bringen wir Rezensionen
von Neuerscheinungen, die ein fächerübergreifendes
Interesse verdienen, sowie Forschungsberichte und Tagungshinweise
aus den einzelnen Fachbereichen.
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Quintilian beschreibt die variatio
als Mittel gegen das taedium des Publikums. Sie
bezweckt Abwechslung in Gedankenführung (gedanklicher
ornatus) und sprachlichem Ausdruck (sprachlicher
ornatus). Das taedium hängt eng
mit der angesprochenen Übersättigung des Marktes
zusammen. Die Variations möchten das taedium
nicht nur durch rhetorische Brillanz, sondern vor allem auch
durch die Qualität der Beiträge in delectatio
verwandeln. Die Literaturwissenschaft der Universität
Zürich soll sich im Rahmen der Variations in ihrem ganzen
Reichtum präsentieren könne.
La variation, cest le tourisme
de lesprit. Si elle nous fait faire un tour, cest
pour nous amuser, pour nous dépayser. Mais surtout,
elle doit nous ramener, après un certain temps, à
notre case départ. A moins quon ne lait
jamais quittée. La variation est, par son essence même,
un phénomène de surface. Elle nous donne à
voir ou à entendre une altérité, mais
cest pour que le même quau fond nous aimons
ne nous ennuie pas. Laltérité quelle
nous offre ne prend son sens que par rapport même quelle
refoule pendant quelques instants. La variation ne nous fait
pas avancer. Discours horizontal, elle nous déplace.
Et parfois, quand le tour est accompli, quand nous devons
reprendre notre place, nous réalisons tout à
coup que cette place nest elle aussi que la variante
dune autre place. Alors nous comprenons que la variation
ne soppose pas à la fixité, mais à
une autre variation.
variatio delectat: Abwechslung macht
Freude. Und deshalb ist die Variation auch dies: Nicht nur
verschoben, sondern enthoben, versetzt an einen anderen Ort.
Und weitergespielt. Durchqueren wir Horizonte, springen wir
auf Assoziationen auf, gehen wir in alle Richtungen gleichzeitig
und lassen wir uns auf den Meeresgrund sinken. Um schliesslich
unseren Ursprung zu vergessen, um im unendlichen Spiel manchmal
wieder für einen Augenblick das Gefühl zu haben,
etwas Grundsätzlichem auf der Spur zu sein. Und doch:
Wo sind die Grenzen der Freude bei der variatio?
Oui, variation explore le même
sans pareil, exalte le laisser-aller ludique ... et exacerbe,
sans jamais lexaucer notre désir de lexhaustif.
Loin de nier cet élan inné, la variation sen
nourrit, en vit ... et en rit à la fois, car
ainsi varie le monde on natteint jamais à
lun de lhorizon. Variation explore le même
sans pareil, exalte le laisser-aller ludique et exorcise lillusoire
désir de lexhaustif.
La technique de la variation repose
sur deux procédés: la transformation dun
matériel donné et ladjonction déléments
nouveaux à ce matériel. Musicale à lorigine,
la variation se présente comme un principe formel polyvalent
et polysémique: sil est susceptible de donner
lieu à des récits soumis au procédé
structurellement défini du thème/variation,
ce concept est dabord un lieu métaphorique qui
échappe aux règles strictement musicales. Le
roman, ou le poème, deviennent un jeu formel, où
se confrontent différentes versions dune histoire,
ou dune vie, pour parvenir à donner une signification
ambivalente à luvre. Recommencement illusoire
dune vie déjà finie, la variation fascine
par son caractère antithétique de mobilité/immobilité.
Variationen entgrenzen: Ursprünge
verschleiern sich im unendlichen Spiel. Geheimnisse entstehen,
verändern sich, werden gelüftet und entstehen an
anderer Stelle neu. In der Dichtung stehen dafür Motive
wie Wolken, Schleier oder Fächer. Das Spiel mit Geheimnissen
bildet die Faszination der Dichtung. variatio delectat.
Variationen begrenzen: Der Ursprung
bleibt gegenwärtig, ohne dass er wieder erreicht werden
könnte. Variationen sind a priori gefesselt. Sie bewegen
sich zwar von ihrem Ursprung fort, doch gelingt dies paradox
immer nur in einer Annäherung an diesen Ursprung. Das
Zusammenspiel beider Bewegungen führt zum delectare,
in seiner existentiellen Ausprägung aber auch zum desperare.
variatio desperat: gefesselt und gleichzeitig heimatlos kann
die Variation weder entschieden vorwärts noch rückwärts
gehen.
Streng genommen ist die Variation unnütz.
Sie schweift ab statt auf den Punkt zu kommen, sie amüsiert
statt zu belehren, sie spielt statt zu arbeiten. Sie fliegt
statt zu gehen, sie tanzt statt zu stehen, sie blendet statt
zu sehen. Sie A statt zu B, sie ja statt zu nee, sie hurra
statt zu herjee. Ja, streng genommen ist die Variation unnütz.
Doch Unnützes macht ja immer am
meisten Spass. Wenn es sich auch immer definiert sehen muss
durch das Notwendige. Doch die Grenze zwischen den beiden
kann durchlässig werden, das Spiel der Variationen solange
weitergehen, bis zuerst das Notwendige das Unnütze, das
Unnütze das Notwendige wird und schliesslich das Unnütze
das Notwendige und schliesslich das Unnütze ein anderes
Unnützes und das Notwendige ein anderes Notwendiges und
das Unnütze ein anderes Notwendiges und das Notwendige
ein anderes Unnützes, bis zuletzt nicht mehr erkennbar
ist, was das anfängliche und was das spätere. Doch
die Überraschung bleibt immer neu. Wie das Auge fasziniert
und aufmerksam bleibt durch die unendlichen Veränderungen
der Plastik-Stückchen des Farbmusters in der Karton-Guckröhre.
Il y a variation et variation: il existe
des variations centrifuges et des variations centripèes.
Les premières nont pas peur de faire peau neuve,
les secondes préfèrent tourner autour du pot
hypothétiue. Tandis que celles-ci sacharnent
à cerner une cible incertaine, celles-là ornent
simplement la suite de ce qui précède sans trop
se soucier du centre, certes nécessaire mais en somme
superflu.
Intrépide élan,
la variation est recommencement là où tout semble
achèvement: image du phénix secouant ses cendres,
variation transforme le passé en modernité,
le connu en inconnu, la réalité en imaginaire,
le silence en paroles. Variation serait inextinguible, inébranlable,
incontournable, inépuisable ... irremplaçable.
Page créée le 16.10.99
Dernière mise à jour le 20.06.02
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