Grenzen, Übergänge zwei Begriffe, deren intellektueller
Reichtum sich nicht nur auf philosophischer und theologischer
Ebene, sondern auch an literarischen Beispielen entfaltet.
Nachdem bereits Platon die Grenze als ein wesentliches Merkmal
des Seienden erkannt hat, stellt Aristoteles die Existenz
des Unbegrenzten, Unendlichen grundsätzlich in Frage.
Einzig im Bereich der Mathematik sei diese Existenz als Möglichkeit
denkbar. Dieser Ansatz ist zu erweitern: Grenze ist der Ort,
an dem sich Endliches und Unendliches treffen, sie ist das
beiden Gemeinsame, das kaum zu fassen und doch von zentraler
Bedeutung für jede Erkenntnis ist. Die Literatur im weitesten
Sinn legt Zeugnis ab von der Suche nach dieser Grenze; sie
dokumentiert die Vielfalt eines Grenzgangs, der die Grenze
einzig im Überschreiten plötzlich fassen, gleichzeitig
aber auch wieder verlieren kann.
Die vorliegende Nummer der Zeitschrift
Variations untersucht in Artikeln, Bildern und kreativen Texten
verschiedene Grenzen und Übergänge zwischen Künsten,
Genres, Stilen, Motiven, Zeiten und Räumen. Das Überschreiten
von Grenzen schafft Sinn und Illusion, bedeutet manchmal verzweifelte
Erkenntnis der menschlichen Beschränktheit, manchmal
aber auch lustvolle Revolte. Daraus resultieren die Faszination,
aber auch die existentielle Tragweite des Themas. Es geht
hierbei einerseits um die intellektuelle Herausforderung als
virtuoses Spiel zwischen teils markanten, teils verschwimmenden
Dichotomien, andererseits aber auch um grundlegende Aspekte
des Lesens und Verstehens. Die nachfolgenden Artikel sind
Zeichen dafür, wie Spiel und Hermeneutik in immer neue
und überraschende Konstellationen treten. Das Konzept
Grenze ist zugleich Phantom und Matrix: Es ist
Struktur, die sich im Überschritten-Werden als produktiver
Schein entpuppt.
Dagmar Wieser hat in ihrem Artikel
einen stereoskopischen" Ansatz gewählt und
vergleicht das Wechselspiel der Identitäten bei Heine
und Nerval. Beide Dichter imaginieren ihre ideale Heimat jenseits
des Rheins; beide müssen sich später der entzauberten
Realität stellen. In ihrer Analyse der Versnovelle Der
Welt Lohn von Konrad von Würzburg verdeutlicht Christine
Weder die zentrale Rolle des Todes als Grenze der Nichtigkeit
dieser Welt, eine Begrenztheit, die sich in der hässlichen
Rückseite der personifizierten Frau Welt manifestiert.
Ausgehend vom Motiv des Ozeans zeigt Sylvie Jeanneret in ihrem
Beitrag zu Hugo und Wagner, wie sich der Hang zum Masslosen
bei ersterem in scharfumrissenen Gegensätzen niederschlägt,
während er beim zweiten eher in sanften Übergängen
aufgehoben wird. Auch Jean-Paul Gavard-Perrets Artikel zu
Beckett befasst sich mit der Begegnung von Literatur und Musik
bzw. von Sprache und Stille. Wie nah die Komik dem Tod, der
sich auf einer Ebene sinnloser Gewalt manifestiert, stehen
kann, wird aus Johannes Kellers Untersuchung eines Märe
von Hans Rosenplüt ersichtlich. Raphael Zehnder führt
uns schliesslich zur unmittelbaren Moderne, indem er die Poetik
der französischen Rapper unter die Lupe nimmt.
Im zweiten Teil der Zeitschrift stehen
Gedichte von Markus Hediger und Lello Voce neben erzählerischen
Texten von Marek Kedzierski und Johannes Binotto. Auch die
graphischen Beiträge dieser Nummer setzen sich mit der
Thematik der visuellen Grenzerfahrungen auseinander. Die Photos
von Reto Hadorn1 grenzen in Triptychen die literarischen Texte
voneinander ab, jene von Felix Wey2 eröffnen und beschliessen
den kritischen Teil. Tomas Rizek3 liess sich vom Thema zu
drei Bildern inspirieren. Sie bilden den Abschluss des literarischen
Teils.
Der dritte Teil ist nach wie vor Rezensionen
und Projektbeschrieben gewidmet, präsentiert sich aber
graphisch und inhaltlich in neuer Form. Die Rezensionen sind
kürzer, dafür zahlreicher und in pointierterer Form
vertreten. Die breite Palette der vorgestellten Bücher
erlaubt einen vielschichtigen Einblick in die gegenwärtige
Forschung und Literatur. Neu hinzugekommen sind Berichte von
ausgewählten Veranstaltungen, die sich durch ein fächerübergreifendes
Interesse auszeichnen.
1.Reto Hadorn ist Soziologe in Bern. Seine
Aufnahmen stammen aus dem Val dHérens und aus
dem Centovalli.
2. Felix Wey ist Photograph und lebt im aargauischen Wohlen.
3. Tomas Rizek (1963) ist Maler und Illustrator. Er lebt in
Prag.
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Dernière mise à jour le 20.06.02
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