Im Frühjahr 1949 erschien in der Zeitschrift Combat ein
bislang nur vom Titel her bekannter, verloren geglaubter Text
von Arthur Rimbaud : "La Chasse spirituelle". Die
meisten namhaften Kritiker sprachen von einer Sensation -
mit Ausnahme des Surrealisten-Papstes André Breton,
der selbst ein ausgewiesener Rimbaud-Kenner war. Er sei empört,
schrieb er an die Redaktion von Combat, dass er Verantwortliche
jener Kolumne in eine so vulgäre Falle getappt sei. "Nur
jemand, der von Rimbaud nicht die leiseste Ahnung hat, kann
behaupten, diese Zeilen seien von ihm geschrieben worden."
Im Folgenden entspann sich in den Medien eine hitzige Diskussion
fûr und wider die Authentizität von "La Chasse
spirituelle", die erst zum Erliegen kam, als zwei junge
Schauspieler zugaben, die Fälschung als Racheakt für
einige schlechte Zeitungskritiken ihrer Rimbaud-Lesung verfasst
zu haben. Breton triumphierte auf der ganzen Linie : Ein solches
Missgeschick, so Breton zu einem Interviewer, hätte früher
einen Kritiker definitiv davon abgehalten, seine Feder je
wieder zu benutzen. Pikant ist jedoch, dass auch Bretons Attacken
nicht ohne persönlichen Hintergrund waren. Die von ihm
besonders ins Visier genommenen Kritiker, Maurice Nadeau und
Maurice Saillet, hatten seine 1947 erschienene Ode à
Charles Fourier zum Teil heftig kritisiert, Saillet sogar
einmal unter einem falschen Namen.
Die Affäre um "La Chasse
spirituelle" ist heute nur noch ein kurzes Kapitel französischer
Literaturgeschichte. Auch die bedeutend weniger weit zurückliegende
Publikation der gefälschten Hitler-Tagebücher im
Stern ist heute nur noch eine Anekdote, die das (schlechte)
Funktionieren der Massenmedien illustriert. Denn sind Fälschungen
einmal als solche entlarvt, verlieren sie schnell ihre Bedeutung.
Doch in dem (meist kurzen) Moment, wo die Fälschung mit
dem (manchmal existenten, manchmal inexistenten) Original
in ein Spannungsverhältnis tritt, macht sie den Blick
frei auf die komplexen Mechanismen, die der Rezeption von
Texten, Bildern, Objekten oder Informationen zugrunde liegen.
Besonders interessant wird die Fälschung natürlich
dort, wo grosse Geldbeträge oder der gute Ruf auf dem
Spiel stehen: in der Kunst, in der Politik, inder Wissenschaft.
Doch auch im Kleinen lauert das Falsche : diese Nachricht,
jene Raudbemerkung entpuppt sich im Nachhinein als falsch
und unterminiert den Glauben an das Richtige, Echte, Wahre
vielleicht mehr als die spektakulärsten Fälle. Denn
jede Fälschung, so Umberto Eco, "dient zur Unterminierung,
will Verdacht erwecken gegen die Macht oder die Gegner, will
Misstrauen gegen die Quellen erzeugen und Verwirrung stiften."
In genau diesem Aspekt liegt der Reiz
und auch der Wert der Fälschung und des Falschen schlechthin.
Die durch das Falsche provozierte Infragestellung des Originals
erlaubt nicht nur einen Einblick in die Mechanismen der Rezeption,
sondern auch in jene der Produktion. Gewiss : Um ein Original
von einer Fälschung unterscheiden zu können, benötigt
man, wie André Breton, nicht nur solides Grundwissen,
sondern auch eine gehörige Menge Intuition. Doch im Fall
von Rimbaud hatte Breton sich jene Eigenschaften nicht nur
durch das genaue Studium der Werke Rimbauds, sondern paradoxerweise
auch durch Imitation erworben - eine Praxis, die unter Künstlern
gang und gäbe ist, die aber von der eigentlichen Fälschung
nicht eben weit entfernt ist. Was man selbst imitiert hat,
erkennt man leichter als Original. Und nicht nur das : Die
Imitation und auch die Fälschung sind gleichsam wertvolle
Etappen auf dem Weg zu einem eigenständigen, originellen
Werk - einem Werk, das dann auch wieder imitiert, pastichiert
und, warum nicht, gefälscht werden kann.
In jenem seltenen Fall, wo die Fälschung
so gelungen ist, dass sie von niemandem entlarvt werden kann,
geschieht etwas noch Eigenartigeres : die Fälschung wird
zum Original. In diesem durchaus unheimlichen Sinn aber ist
wiederum jedes Original potentiell eine Fälschung, die
eines Tages entlarvt werden könnte. Genau das meint Eco,
wenn er von der disruptiven Kraft der Fälschung spricht
: das Falsche, das wir ausserhalb (des Gesetzes, des Museums,
der Zeitung, des Buches) wähnten, ist immer schon präsent
: als Gefahr, aber auch als Chance. Als Beunruhigung, aber
auch als Vergnügen.
Die Geschichte wie auch der Begriff
der "Fälschung" selbst sind untrennbar mit
denjenigen des "Originals" verbunden. Eine Kopie
oder Imitation, die sich explizit als solche zu erkennen gibt,
macht noch keine Fälschung aus - wie uns das Beispiel
der Hongkonger "real imitations" Markenuhren lehrt.
Sie mutiert erst dann zur Fälschung, wenn sie den Betrachter
glauben machen will, sie sei das Original selbst - was jedoch
einen relativ stabilen Originalbegriff voraussetzt. Das Mittelalter,
insofern es nicht selbst als kolossale Geschichtsfälschung
angezweifelt wird (vgl. die von Historikern verworfene und
widerlegte, aber trotzdem populäre These von Heribert
Illig, der die Karolingerzeit als nachträgliche Fälschung
der Ottonen sieht), wie auch die späte Neuzeit sind zwei
Zeitalter, deren kulturspezifische Gegebenheiten die Problematik
des Fälschungsbegriffs hervortreten lassen.
Im Mittelalter war die Idee eines stabilen,
ein für alle Mal festgelegten Originals ausserhalb der
kirchlich-liturgischen Sphäre weder anstrebenswert noch
leicht zu verwirklichen. Gerade in der Dichtung und Kunst
gehörten die Imitation und anpassende Rezeption zur Tagesordnung.
Das Hauptaugenmerk war nicht so sehr auf der fixierten Form,
sondern auf der situativen Funktion des Werks. Da im Umfeld
der sekulären kulturellen Produktion lange Zeit der Anreiz
fehlte, sich mit fremden Federn zu schmücken und diese
als seine eigenen auszugeben, sind eigentliche Fälschungen
kaum vorhanden. Anders verhält es sich dort, wo klar
zwischen "verum et falsum" unterschieden werden
musste - in Fragen der Religion und des Rechts. Das Christentum,
als Buchreligion, teilt mit dem Judentum die Auffassung, dass
die Heilige Schrift (bzw. der Talmud) als Wort Gottes höchste
Autorität besitzt. Die Tradierung des Wortlauts und,
im frühen Christentum, die Etablierung des Kanons bedurfte
deshalb besonderer Sorgfalt. Mit der zusätzlichen Festlegung
der "auctores", d.h. der religiös-säkulären
Autoritäten ausserhalb der Bibel, entstand ein relativ
stabiles und abgeschlossenes Referenzsystem. Damit wurde aber
auch der Anreiz geschaffen, Schriften und Werke, die die eigenen
Positionen vertraten, als von "auctores" verfasst
auszugeben. Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass sich die
Kirche schon sehr früh mit den möglichen (vor allem
philologisch-historischen) Methoden befasste, um die Unterscheidung
von echt und falsch vornehmen zu können.
In der Rechtssprechung und der Politik
erlangten Fälschungen - und die Mittel und Wege, solche
zu entlarven - erst zu dem Zeitpunkt zentrale Bedeutung, als
sich der Rechtsanspruch vermehrt auf das schriftlich fixierte
Dokument stützte. Während im frühen Mittelalter
das Dokument oft nur als Gedächtnisstütze für
die vor Zeugen verkündeten Beschlüsse und Abmachungen
verwendet wurde und somit wenig Eigengewicht hatte, änderte
sich dies im Verlaufe der Zeit, so dass die "Fälschungsattraktivität"
der Urkunden und Chroniken zunahm. Die wohl bekannteste wirtschaftskriminelle
Form der Fälschung der Neuzeit, diejenige von Banknoten,
ist ein direkter Ableger dieser mittelalterlichen Entwicklung
- Geldscheine waren ursprünglich nichts anderes als Urkunden,
welche dem Besitzer den aufgedruckten Gegenwert in Gold zusicherten.
In den bildenden Künsten - Reliquien
und religiöse Artefakte ausgenommen - war dies zum ersten
Mal in grösserem Umfang zur Zeit der Renaissance der
Fall, als die Nachfrage nach Artefakten der Antike das vorhandene
Angebot übertraf. Gleichfalls wurden mit der gesteigerten
Wertschätzung der Person des Dichters und Künstlers
die Voraussetzungen geschaffen, dass das von ihm geschaffene
Original gegenüber etwaigen Imitationen oder Kopien ein
höheres Ansehen genoss - war sich konkret in den Preisen
niederschlug. So lange der künstlerische Prozess ein
gewisses Mass an handwerklich-dichterischem Können voraussetzte,
bestand eine enge Verbindung zwischen Künstler und Werk.
Eine erfolgreiche Fälschung musste sich deshalb um die
möglichst genaue Wiedergabe der werktypischen Charakteristiken
bemühen.
Die Tatsache, dass einflussreiche Kunstströmungen
des 20. Jahrhunderts (Dada, Surrealismus, Pop Art) begannen,
den künstlerischen Prozess zumindest teilweise vom handwerklich-dichterischen
Können des Künstlers loszulösen und die Werke
aus "ready mades" zusammenzusetzen bzw. massenproduzierte
Gegenstände in den Werkstatus zu erheben, warfen Fragen
zu "Echtheit" und "Imitation" auf, die
bis heute diskutiert werden.
Die vorliegende Nummer von Variations
zeigt das Phänomen der Fälschung, des Falschen und
der Verfälschung in seiner ganzen Vielfalt. Fälschungen
- Faux - Fakes : schon der dreisprachige Titel dieser Ausgabe
ist Programm, da er drei Begriffe synonymisch verwendet, die
aber weit davon entfernt sind, deckungsgleich zu sein. In
die angestrebte Identität schleicht sich Differenz; das
Original wird in Frage gestellt und in Bewegung gebracht.
Die Trennung zwischen wahr und falsch ist so brüchig
wie jene zwischen Dokumentation und Kreation. Ist nicht jede
Kreation, und also auch die Fälschung, in einem gewissen
Sinne wahr ?
Einen ersten Überblick über
die essayistischen Beiträge in dieser Nummer bieten die
jeweils am Ende jedes Artikels angefügten abstracts.
Der zweite Teil der vorliegenden Ausgabe von Variations beinhaltet
neben Texten von Henri Petter und Christine Weder auch eine
Auswahl von Texten der Literaturgruppe Athanor. Eine erste
Serie von Bildern stammt von Gabriele Utz1, eine zweite von
Marco Abbondio2. Die "cartes postales" von Matthieu
Messagier runden den literarisch-kreativen Teil ab.
1. Gabriele Utz lebt seit 1997 in Zürich.
Ausstellungen in Basel, Deutschland und Zürich. Siehe
auch : http://espectro.com
2. Marco Abbondio studiert Anglistik und
Kunstgeschichte an der Universität Zürich. Seine
Zeichnungen wurden im Sommer 2000 am Englischen Seminar ausgestellt.
|