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Variations 5

Literaturzeitschrift der Universität Zürich - Revue littéraire de l'Université de Zürich
http://www.variations.uzh.ch

  Variations 5

 

Die vorliegende Nummer von Variations zeigt das Phänomen der Fälschung, des Falschen und der Verfälschung in seiner ganzen Vielfalt. Fälschungen - Faux - Fakes : schon der dreisprachige Titel dieser Ausgabe ist Programm, da er drei Begriffe synonymisch verwendet, die weit davon entfernt sind, dekkungsgleich zu sein. In die angestrebte Identität schleicht sich Differenz; das Original wird in Frage gestellt und in Bewegung gebracht. Die Trennung zwischen wahr und falsch ist so brüchig wie jene zwischen Dokumentation und Kreation. Denn ist nicht jede Kreation, und also auch die Fälschung, in einem gewissen Sinne wahr ?

  Inhaltsverzeichnis

Editorial

I Fälschungen / Faux / Fakes

Les romanesques d'Alain Robbe-Grillet (Christina Vogel)
Deception and Disclosure in Louis-Combet (David H. Jones)
Die Protokolle der Weisen von Zion (Nicole Hutter)
Fritz Recks Tagebuch eines Verzweifelten (Peter Hughes)
Las Vegas and beyond (Maya Huber)
Surrealism and Realist Representation (Thomas Olver)
Des Forêts et la "pratique de l'emprunt" (Karl Kürtös)
Exercices mimologiques proustiens (Luzius Keller)
Heaney's Beowulf (Thomas Honegger & Sabrina Müller)
Un Fabliau retrouvé (Alain Corbellari)
Nachforschungen zu Schuenze (D. Ammann & J. Seiberth)

II Literarische Texte

Imitations (Henri Petter)
Life-Structures (Gabriele Utz)
Berlin (Raphaël Baroni)
Poèmes (Michel Vanni)
Hurler dans le regard des autres (Sylvie Jeanneret)
Poèmes (Lucas Ndoh)
How to read a drawing ? (Marco Abbondio)
Pfau im Rauch (Christine Weder)
Cartes postales (Matthieu Messagier)

III Rezensionen, Projekte, Tagungsberichte

Rezensionen
Eros et littérature
Studientag Ignazio Silone
Körper und Schrift
Das Unbewusste in Zürich
Symbolik des Spiegels
Intorno a Guido Guinizzelli
Was ist Komparatistik
?

 

  Editorial


Im Frühjahr 1949 erschien in der Zeitschrift Combat ein bislang nur vom Titel her bekannter, verloren geglaubter Text von Arthur Rimbaud : "La Chasse spirituelle". Die meisten namhaften Kritiker sprachen von einer Sensation - mit Ausnahme des Surrealisten-Papstes André Breton, der selbst ein ausgewiesener Rimbaud-Kenner war. Er sei empört, schrieb er an die Redaktion von Combat, dass er Verantwortliche jener Kolumne in eine so vulgäre Falle getappt sei. "Nur jemand, der von Rimbaud nicht die leiseste Ahnung hat, kann behaupten, diese Zeilen seien von ihm geschrieben worden." Im Folgenden entspann sich in den Medien eine hitzige Diskussion fûr und wider die Authentizität von "La Chasse spirituelle", die erst zum Erliegen kam, als zwei junge Schauspieler zugaben, die Fälschung als Racheakt für einige schlechte Zeitungskritiken ihrer Rimbaud-Lesung verfasst zu haben. Breton triumphierte auf der ganzen Linie : Ein solches Missgeschick, so Breton zu einem Interviewer, hätte früher einen Kritiker definitiv davon abgehalten, seine Feder je wieder zu benutzen. Pikant ist jedoch, dass auch Bretons Attacken nicht ohne persönlichen Hintergrund waren. Die von ihm besonders ins Visier genommenen Kritiker, Maurice Nadeau und Maurice Saillet, hatten seine 1947 erschienene Ode à Charles Fourier zum Teil heftig kritisiert, Saillet sogar einmal unter einem falschen Namen.

Die Affäre um "La Chasse spirituelle" ist heute nur noch ein kurzes Kapitel französischer Literaturgeschichte. Auch die bedeutend weniger weit zurückliegende Publikation der gefälschten Hitler-Tagebücher im Stern ist heute nur noch eine Anekdote, die das (schlechte) Funktionieren der Massenmedien illustriert. Denn sind Fälschungen einmal als solche entlarvt, verlieren sie schnell ihre Bedeutung. Doch in dem (meist kurzen) Moment, wo die Fälschung mit dem (manchmal existenten, manchmal inexistenten) Original in ein Spannungsverhältnis tritt, macht sie den Blick frei auf die komplexen Mechanismen, die der Rezeption von Texten, Bildern, Objekten oder Informationen zugrunde liegen. Besonders interessant wird die Fälschung natürlich dort, wo grosse Geldbeträge oder der gute Ruf auf dem Spiel stehen: in der Kunst, in der Politik, inder Wissenschaft. Doch auch im Kleinen lauert das Falsche : diese Nachricht, jene Raudbemerkung entpuppt sich im Nachhinein als falsch und unterminiert den Glauben an das Richtige, Echte, Wahre vielleicht mehr als die spektakulärsten Fälle. Denn jede Fälschung, so Umberto Eco, "dient zur Unterminierung, will Verdacht erwecken gegen die Macht oder die Gegner, will Misstrauen gegen die Quellen erzeugen und Verwirrung stiften."

In genau diesem Aspekt liegt der Reiz und auch der Wert der Fälschung und des Falschen schlechthin. Die durch das Falsche provozierte Infragestellung des Originals erlaubt nicht nur einen Einblick in die Mechanismen der Rezeption, sondern auch in jene der Produktion. Gewiss : Um ein Original von einer Fälschung unterscheiden zu können, benötigt man, wie André Breton, nicht nur solides Grundwissen, sondern auch eine gehörige Menge Intuition. Doch im Fall von Rimbaud hatte Breton sich jene Eigenschaften nicht nur durch das genaue Studium der Werke Rimbauds, sondern paradoxerweise auch durch Imitation erworben - eine Praxis, die unter Künstlern gang und gäbe ist, die aber von der eigentlichen Fälschung nicht eben weit entfernt ist. Was man selbst imitiert hat, erkennt man leichter als Original. Und nicht nur das : Die Imitation und auch die Fälschung sind gleichsam wertvolle Etappen auf dem Weg zu einem eigenständigen, originellen Werk - einem Werk, das dann auch wieder imitiert, pastichiert und, warum nicht, gefälscht werden kann.

In jenem seltenen Fall, wo die Fälschung so gelungen ist, dass sie von niemandem entlarvt werden kann, geschieht etwas noch Eigenartigeres : die Fälschung wird zum Original. In diesem durchaus unheimlichen Sinn aber ist wiederum jedes Original potentiell eine Fälschung, die eines Tages entlarvt werden könnte. Genau das meint Eco, wenn er von der disruptiven Kraft der Fälschung spricht : das Falsche, das wir ausserhalb (des Gesetzes, des Museums, der Zeitung, des Buches) wähnten, ist immer schon präsent : als Gefahr, aber auch als Chance. Als Beunruhigung, aber auch als Vergnügen.

Die Geschichte wie auch der Begriff der "Fälschung" selbst sind untrennbar mit denjenigen des "Originals" verbunden. Eine Kopie oder Imitation, die sich explizit als solche zu erkennen gibt, macht noch keine Fälschung aus - wie uns das Beispiel der Hongkonger "real imitations" Markenuhren lehrt. Sie mutiert erst dann zur Fälschung, wenn sie den Betrachter glauben machen will, sie sei das Original selbst - was jedoch einen relativ stabilen Originalbegriff voraussetzt. Das Mittelalter, insofern es nicht selbst als kolossale Geschichtsfälschung angezweifelt wird (vgl. die von Historikern verworfene und widerlegte, aber trotzdem populäre These von Heribert Illig, der die Karolingerzeit als nachträgliche Fälschung der Ottonen sieht), wie auch die späte Neuzeit sind zwei Zeitalter, deren kulturspezifische Gegebenheiten die Problematik des Fälschungsbegriffs hervortreten lassen.

Im Mittelalter war die Idee eines stabilen, ein für alle Mal festgelegten Originals ausserhalb der kirchlich-liturgischen Sphäre weder anstrebenswert noch leicht zu verwirklichen. Gerade in der Dichtung und Kunst gehörten die Imitation und anpassende Rezeption zur Tagesordnung. Das Hauptaugenmerk war nicht so sehr auf der fixierten Form, sondern auf der situativen Funktion des Werks. Da im Umfeld der sekulären kulturellen Produktion lange Zeit der Anreiz fehlte, sich mit fremden Federn zu schmücken und diese als seine eigenen auszugeben, sind eigentliche Fälschungen kaum vorhanden. Anders verhält es sich dort, wo klar zwischen "verum et falsum" unterschieden werden musste - in Fragen der Religion und des Rechts. Das Christentum, als Buchreligion, teilt mit dem Judentum die Auffassung, dass die Heilige Schrift (bzw. der Talmud) als Wort Gottes höchste Autorität besitzt. Die Tradierung des Wortlauts und, im frühen Christentum, die Etablierung des Kanons bedurfte deshalb besonderer Sorgfalt. Mit der zusätzlichen Festlegung der "auctores", d.h. der religiös-säkulären Autoritäten ausserhalb der Bibel, entstand ein relativ stabiles und abgeschlossenes Referenzsystem. Damit wurde aber auch der Anreiz geschaffen, Schriften und Werke, die die eigenen Positionen vertraten, als von "auctores" verfasst auszugeben. Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass sich die Kirche schon sehr früh mit den möglichen (vor allem philologisch-historischen) Methoden befasste, um die Unterscheidung von echt und falsch vornehmen zu können.

In der Rechtssprechung und der Politik erlangten Fälschungen - und die Mittel und Wege, solche zu entlarven - erst zu dem Zeitpunkt zentrale Bedeutung, als sich der Rechtsanspruch vermehrt auf das schriftlich fixierte Dokument stützte. Während im frühen Mittelalter das Dokument oft nur als Gedächtnisstütze für die vor Zeugen verkündeten Beschlüsse und Abmachungen verwendet wurde und somit wenig Eigengewicht hatte, änderte sich dies im Verlaufe der Zeit, so dass die "Fälschungsattraktivität" der Urkunden und Chroniken zunahm. Die wohl bekannteste wirtschaftskriminelle Form der Fälschung der Neuzeit, diejenige von Banknoten, ist ein direkter Ableger dieser mittelalterlichen Entwicklung - Geldscheine waren ursprünglich nichts anderes als Urkunden, welche dem Besitzer den aufgedruckten Gegenwert in Gold zusicherten.

In den bildenden Künsten - Reliquien und religiöse Artefakte ausgenommen - war dies zum ersten Mal in grösserem Umfang zur Zeit der Renaissance der Fall, als die Nachfrage nach Artefakten der Antike das vorhandene Angebot übertraf. Gleichfalls wurden mit der gesteigerten Wertschätzung der Person des Dichters und Künstlers die Voraussetzungen geschaffen, dass das von ihm geschaffene Original gegenüber etwaigen Imitationen oder Kopien ein höheres Ansehen genoss - war sich konkret in den Preisen niederschlug. So lange der künstlerische Prozess ein gewisses Mass an handwerklich-dichterischem Können voraussetzte, bestand eine enge Verbindung zwischen Künstler und Werk. Eine erfolgreiche Fälschung musste sich deshalb um die möglichst genaue Wiedergabe der werktypischen Charakteristiken bemühen.

Die Tatsache, dass einflussreiche Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts (Dada, Surrealismus, Pop Art) begannen, den künstlerischen Prozess zumindest teilweise vom handwerklich-dichterischen Können des Künstlers loszulösen und die Werke aus "ready mades" zusammenzusetzen bzw. massenproduzierte Gegenstände in den Werkstatus zu erheben, warfen Fragen zu "Echtheit" und "Imitation" auf, die bis heute diskutiert werden.

Die vorliegende Nummer von Variations zeigt das Phänomen der Fälschung, des Falschen und der Verfälschung in seiner ganzen Vielfalt. Fälschungen - Faux - Fakes : schon der dreisprachige Titel dieser Ausgabe ist Programm, da er drei Begriffe synonymisch verwendet, die aber weit davon entfernt sind, deckungsgleich zu sein. In die angestrebte Identität schleicht sich Differenz; das Original wird in Frage gestellt und in Bewegung gebracht. Die Trennung zwischen wahr und falsch ist so brüchig wie jene zwischen Dokumentation und Kreation. Ist nicht jede Kreation, und also auch die Fälschung, in einem gewissen Sinne wahr ?

Einen ersten Überblick über die essayistischen Beiträge in dieser Nummer bieten die jeweils am Ende jedes Artikels angefügten abstracts. Der zweite Teil der vorliegenden Ausgabe von Variations beinhaltet neben Texten von Henri Petter und Christine Weder auch eine Auswahl von Texten der Literaturgruppe Athanor. Eine erste Serie von Bildern stammt von Gabriele Utz1, eine zweite von Marco Abbondio2. Die "cartes postales" von Matthieu Messagier runden den literarisch-kreativen Teil ab.

1. Gabriele Utz lebt seit 1997 in Zürich. Ausstellungen in Basel, Deutschland und Zürich. Siehe auch : http://espectro.com

2. Marco Abbondio studiert Anglistik und Kunstgeschichte an der Universität Zürich. Seine Zeichnungen wurden im Sommer 2000 am Englischen Seminar ausgestellt.

 

  Redaktion und Herausgegeben von

Redaktion

Nicole Frey
Thomas Honegger
Thomas Hunkeler
Sylvie Jeanneret
Johannes Keller
Sonja Kolberg
Sabrina Müller
Thomas Stein

Herausgegeben von

Thomas Honegger
Thomas Hunkeler
Sylvie Jeanneret

 

Page créée le 22.01.01
Dernière mise à jour le 20.06.02

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