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Der fünfte Schlüssel am Bund

Um Punkt siebzehn Uhr dreißig verriegelt Ludwig Gübler die Schreibtischschublade, verlässt die Debitorenabteilung und begibt sich in die Herrengarderobe. Er wirft einen kritischen Blick in den Wandspiegel, durchkämmt seine aalglatten, mit Brillantine behandelten Haare, bis der Seitenscheitel einwandfrei sitzt. Danach schnürt er den Gürtel seines lehmfarbenen Regentrenchcoats ganz eng und prüft seine Rasur. Nach den täglichen „Sicherheitskontrollen“ verlässt er endgültig das Geschäft.

Mittwochs ist Einkaufen angesagt. Das ist ein Naturgesetz, von dem sich Ludwig nicht einmal durch dringende Aufträge des Abteilungsleiters abwenden lässt.

Um siebzehnuhrfünfundvierzig besteigt er den Bus. Zum Glück ist sein angestammter Platz, hinter dem Busfahrer noch frei. Hier fühlt er sich unbeaufsichtigt und kann sich am besten konzentrieren; er öffnet die Tageszeitung und beginnt zu lesen.

Nach einer Viertelstunde hält der Bus vor Kramer’s Speziesladen an. Schon Ludwigs Mutter kaufte hier ein. Seit fünf Minuten steht Frau Kramer hinter dem Ladentisch und wartet auf ihn.

„Guten Tag Herr Gübler.“ Ein erwartungsvolles Lächeln blitzt über ihr Gesicht; vielleicht würde er heute mal ein nettes Wort mit ihr sprechen? „Ich habe ihre Einkaufstüte, genau wie sie es wünschen zusammengestellt.“

„Guten Tag!“ Ludwig winkt mit dem abgezählten Geld und dem Einkaufzettel für nächsten Mittwoch, schnappt die Tüte, verabschiedet sich und verlässt den Laden.

Frau Kramer ist nicht überrascht, denn schon seit zwanzig Jahren kennt sie die Güblers und sie weiß, dass jeder Kunde anders ist, besonders Ludwig. In all den Jahren hat sie gelernt, auf die Wehwehchen der Kundschaft einzugehen. Sie hört den Geschichten geduldig zu, gibt aber keine guten Ratschläge.

Ludwig biegt in die Blumenackerstrasse – wo sich seine bescheidene Dreizimmerwohnung befindet–, gräbt nach den Hausschlüsseln in der Aktentasche und übersieht seinen Nachbarn, Herrn Fenzel.

Schon rasseln die Schlüssel und die Wohnungstür springt auf. Der Duft von desinfizierenden Reinigungsmitteln steigt ihm in die Nase, so dass er gleich alle Fenster öffnen muss. Kein einziger Teppich bedeckt den blitzblanken Parkettboden, denn in Teppichen lassen sich Staub, Schaben und Milben nieder. Das war nicht immer so, denn vor kurzem hatte Ludwig noch echte Kostbarkeiten aus dem Iran, China, aus Baku, und Dagestan in seiner Wohnung liegen; bis er eines Tages mit dem Staubsauger über einen der Perser fuhr und im Sonnenstrahl eine Staubwolke aufwirbeln sah. Noch am gleichen Tag sammelte er alle Teppiche ein, und warf sie in den Abfallcontainer.

Bevor er den Mantel auszieht, entledigt er sich seiner Lederschuhe und schlüpft in die warmen Hauspantoffeln, nicht etwa weil die Pantoffeln bequemer wären, nein, er will den gebohnerten Parkettboden schonen. Danach knipst Ludwig in der ganzen Wohnung das Licht ein. Bei dem Rundgang durch sein Reich, legt er die Hausschlüssel auf den Clubtisch im Wohnzimmer, zieht sich um, räumt die Einkäufe ordentlich an die dafür vorgesehenen Plätze und bereitet das Abendessen zu. Jedes Gramm ist berechnet und stimmt mit den Vorgaben im dicken Kochbuch überein, das er von seiner Mutter, vor nun zwanzig Jahren, zum dreißigsten Geburtstag erhielt. Notgedrungen! Ja, es ist ein altes Familienstück, das von einer Generation zur anderen weitergegeben wurde und da Ludwig das einzige Potential in der Güblerschen Sippschaft war, das noch für Nachfolger sorgen konnte, übergab ihm seine Mutter das gute alte Buch, zwar mit geteilten Gefühlen, aber der Tradition gehorchend. Die Güblers taten viel, einfach brav gehorchend, auch wenn dadurch eindeutig ein Nachteil entstand, denn seine Mutter war überzeugt, dass bei ihrem Sohn eine alte Tradition abbrechen würde.

Ludwig hat seine Lieblingsrezepte. Einfach mussten sie sein. Er habe keine Zeit für komplizierte Gerichte. Also, kein „Kalbsfilet mit Basilikumsößle und Tomatenspätzle“ wie es in einem von Mutters Rezepten stand; Zubereitungszeit, vierzig Minuten. Da hätte er Lorbeer, Nelken, Knoblauch, Lauchstange, Möhren, Sellerie, Petersilienwurzel, Schalotten, Crème fraîche und badischen Riesling kaufen müssen. Nein, da blieb er viel lieber bei einer Omelette mit Schnittlauch, so wie heute Abend. Trotz der Einfachheit, sei der Zubereitung schickliche Gewissenhaftigkeit angebracht. Da dürfe man nicht schlampen. Zum Essen gibt es dann ein Glas köstlichen Burgunder Spätlese trocken, der einzige Wein, den Ludwig an Vorrat in seinem Keller gelagert hat.

Nach dem Abendessen schaut Ludwig die Tagesschau. Immer auf dem gleichen staatlichen Kanal, als sei es eine Pflicht. Er konzentriert sich auf den Sprecher. Sobald die Sprecherin die Themen präsentiert, schaltet er um, denn er ist überzeugt, dass Politik etwas für Männer sei. „Frauen haben in der Politik nichts zu suchen!“ pflegte seine Mutter jeweils zu sagen, natürlich bestärkt durch die Worte ihres Mannes, dass Frauen diese heiklen Themen niemals verstünden. Sie hätten genug Probleme mit ihren Familien und ihrem Haushalt. Obwohl Ludwig nicht immer verstehen konnte, warum Frauen schlechte Politikerinnen seien, vertraute er noch heute den Worten seiner Eltern und schaltete auf den zweiten Kanal. Es schien fast, als hätte er dazu keine eigene Meinung und lange komplizierte Überlegungen verwirrten ihn nur.

Nachdem der Sprecher seine Themen präsentiert hat, und die Tagesschau von lästiger Werbung abgelöst wird, reflektiert Ludwig noch vor sich hin. Man kann sich ja kaum mehr auf die Strasse wagen, ohne ausgeraubt oder attackiert zu werden. Früher hatte man einfach mehr Ehrfurcht vor den Menschen, aber heute sei alles so kurzlebig geworden. Trotzdem müsse jeder selber an seinem Befinden arbeiten. Und wenn er sich in seiner Haut nicht wohlfühle, dann sei er selber schuld. Bei solchen Gedanken sitzt Ludwig angespannt auf dem Sofa, konzentriert sich, als warte er auf irgendeinen philosophischen Geistesblitz und spielt mit einem Gegenstand, der herumliegt. Sein Schlüsselbund. Doch, plötzlich bemerkt er, dass ein Schlüssel nicht an seinen Schlüsselbund gehört. Das kann doch nicht wahr sein! Da ist der Haus-, der Briefkasten-, der Fahrrad- und der Garderobenschlüssel vom Geschäft. Wohin gehört denn der fünfte Schlüssel? Er findet kein passendes Schloss! Ich muss mich einfach besser konzentrieren. Wenn er sich intensiv konzentrieren will, holt er ein Glas frisches Sprudelwasser. Andere Leute stecken sich eine Zigarette oder etwas Süßes in den Mund, wenn sie eine Aufgabe erledigen müssen, die besondere Aufmerksamkeit von ihnen abverlangt. Nicht Ludwig!

Klares Wasser, gleich klare Gedanken! Wasser dringt aus eigenem Antrieb zwischen den Ritzen hervor und bewahrt seine Reinheit, Klarheit und seine kühle Frische. Das natürliche Vorbild des Wassers beeindruckt Ludwig, so dass er in Gedanken den Weg zu seinem Ursprung zurückverfolgt. Die reinigende Kraft, die zarte Frische seines Duftes und die Weichheit von tausend pflegenden Händen haben Ludwig schon so manche Fragen beantwortet. Ihm wird bewusst, wie belanglos Zeit ist. Zeit spielt keine Rolle, und ich werde den Weg des Schlüssels zurückverfolgen, bis ich genau weiß woher er kommt. Also, besorgt er sich frischen Sprudel.

Minuziös durchstöbert er alle Gegebenheiten, alle Erlebnisse der letzten Tage – es sind nicht sehr viele, denn Ludwig hat einen systematischen Alltag. Trotz dieses unverrückbar übersichtlichen Einerleis findet er nichts, dass ihm die Existenz dieses verflixten Schlüssels an dem Bund rechtfertigen könnte.

Verzweifelt geht er um einundzwanzig Uhr fünfundvierzig zu Bett, denn das gehört auch zu seiner Regelmäßigkeit. Schon mit fünfzehn Jahren konnte ihn seine Mutter von der Tatsache überzeugen, dass der Mensch den heilkräftigsten Schlaf zwei Stunden vor Mitternacht finde. Natürlich hatte ihm die Mutter diese Geschichte nur erzählt, damit sie den Balg endlich los wurde und er einschlief. Und stammte die Wassergeschichte nicht auch von Mutter?

Schon Mitternacht vorbei, und er hat noch kein Auge geschlossen. Ludwig wälzt sich von einer Seite auf die andere. Sein Herz pocht in der Brust, und seine Gedanken rasen durch das Hirn, als kommunizierten alle hundert Milliarden Nervenzellen gerade jetzt miteinander. Bilder von Schlüsseln, von Schlössern, von verschlossenen Türen berieselten ihn. Nächtliche Hilflosigkeit. Alle nur vorstellbaren Türen stellten sich vor ihm auf. Mächtige Tore aus Eichenholz lachten ihn aus, machten sich lustig über ihn. Seine dünnen Glieder zitterten, die knochigen Hände mit seinen spitzigen Fingern suchten verzweifelt nach den richtigen Schlüsseln, um die Tore zu öffnen. Sein asthenischer Körper von tonnenschwerer Last geknechtet. Mit größter Anstrengung versuchte sich Ludwig aus dem bösen Traum zu befreien, in den er schutzlos gefallen war. Angekettet!

Doch plötzlich schnellt sein schweißgebadeter Oberkörper hoch, und aus seinem trockenen Mund entweicht ein panisches „Nein“. Ludwig schnappt nach Luft; jemand hat ihm die Kehle zugeschnürt, hat ihn gewürgt. Seine Glieder zittern. Er erhebt sich und will in der Küche ein Glas Wasser holen. Nein, bloß kein Wasser! Vier Uhr. Noch nie hatte er geträumt und noch nie kam es vor, dass er mitten in der Nacht erwachte. Er schlief traumlose Nächte. Aber eines war jetzt sicher, er würde sich nicht mehr hinlegen. Nein, er würde ganz klar den fünften Schlüssel an seinem Bund demaskieren. Er wusste, dass hinter allem eine erklärbare, plausible Wahrheit steckt; seine Gedanken waren im Moment einfach getrübt und gelähmt. Er musste warten, bis sein Gehirn wieder auf Rationalität schalten würde. Aber wieso sollte er eine Lösung herbeisuchen? Ja, gab es überhaupt eine? Es konnte nur ein Versehen sein. Irgend jemand hat ihm einen schlechten Scherz gespielt und den Schüssel an seine Bund gehängt. Vielleicht liegt der rechtmäßige Besitzer jetzt auch hellwach im Bett?

Dass Ludwig aber so vernunftwidrige Gedanken hegt, ist ihm unverständlich, denn Irrationalität hatte bislang keinen Raum in seinem Buchhalterleben; Es war gleich einer Bilanz, immer ausgeglichen. Und jetzt? Kein gewöhnlicher Schlüssel sollte es je wagen, sein Leben aus den gewohnten Bahnen zu werfen! Das durfte nicht sein. Er war bereit zu kämpfen.

Zwar ging Ludwig nicht mehr schlafen, aber er war alles andere als frisch und erholt, als er um fünfuhrdreißig die Wohnung verließ. Gedankenversunken eilte er zur Bushaltestelle und war sich nicht mehr sicher, ob er seine Wohnungstür verriegelt hatte? Komisch, sonst gehört er doch nicht zu den Menschen, die immer noch einmal prüfen, ob die Tür wirklich verriegelt ist, nachdem sie den Schlüssel gedreht haben.

„Herr Gübler, wieso haben Sie die Rechnung von Klein & Söhne noch nicht abgebucht?“ Herr Dinkernagel, der Abteilungsleiter stand mit gehobenem Zeigefinger vor im und fuchtelte heftig mit einer Überweisungsbestätigung in der linken Hand. Jählings fuhr Ludwig aus seinen Grübeleien auf. Das war ihm noch nie passiert. Er hatte vergessen, eine bezahlte Rechnung auszubuchen. Das könnte ihm die Arbeitsstelle kosten. Es war unverzeihlich. Nun wird Klein & Söhne seinetwegen eine Mahnung erhalten. Das wäre doch alles nicht so schlimm, wenn er nur wüsste, was mit dem fünften Schlüssel los war. Er wollte seine Arbeitskollegin fragen; man weiß ja nie, vielleicht gehört er ihr?
„Na, klar! Das ist doch... ja, natürlich. Das ist der Schlüssel zu meinem Gästezimmer. Wo hast du ihn denn her?“
„Eh! Er... er war einfach an meinem Schlüsselbund!“ Ludwig spürt, wie sein Herz pocht. Eine unangenehme Wärme kriecht durch seinen Körper, bis unter die Haarwurzeln.

„Da, bitte, bitte...“ Er löst dieses Unding vom Ring des Schlüsselanhängers und streckt es ohne lange zu überlegen Gertrud entgegen. Ludwig ist erleichtert. Als ließen sich alle Tore plötzlich mit diesem Schlüssel öffnen, als würde ihm eine untrügerische Klarheit durch all die offenen Tore entgegenströmen und sich Glück ausbreiten, da wo vorher noch Beklemmung seine Brust beengte. Der Schlüssel offenbarte sich jetzt wie ein geheimer Kodex. Die Macht, die verschlossenen Türen anhaftete, zerfiel vor Ludwigs Augen, wie ein loses Kartenhaus. Keine mächtigen Eichenholztore mehr, die ihn lächerlich machten. Er hatte die Lösung. Ihm öffneten sich nicht nur all die verschlossen Türen und Tore, nein, er glaubte plötzlich auch den Ausweg aus seinem schmalen Durchgang, der sein Leben bislang war, gefunden zu haben. Am liebsten hätte er Gertrud geküsst, sie zu „Kalbsfilet mit Basilikumsößle und Tomatenspätzle“ eingeladen, aber schließlich musste man sich doch beherrschen, oder? Was hätte Gertrud bloß von ihm gedacht? Dieser plötzliche Wandel. Wahrscheinlich hätte sie geglaubt, er sei nun völlig durchgeknallt.

Dieser Donnerstag verlief, trotz dem besonderen Ereignis, schließlich doch wie schon gehabt. Den Feierabend verbrachte Ludwig vor seinem Fernsehapparat, mit einem leichten Essen und... Natürlich, ein Glas Burgunder Spätlese, wäre nun ideal, um diese verrückte Geschichte mit dem Schlüssel abzuschließen.

Eigentlich schon komisch. Wie kam denn der Schlüssel an seinen Schlüsselbund? Hat ihn Gertrud aus Versehen drangehängt? Er hätte sie fragen müssen!

Ach, was soll’s! Jetzt war doch alles wieder in Ordnung. Ich werde eine Flasche Wein holen und einfach genießen, dabei schnappte er sich den Schlüsselbund, lief in den Keller und wollte die Tür zum Kellerabteil öffnen, fand aber den passenden Schlüssel nicht.

 

© Jean-Claude Rubin

 

Page créée le 01.04.02
Dernière mise à jour le 01.04.02


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