Lukas Bärfus
Von Claudia Porchet

Die großen, unlösbaren Probleme - aus Distanz betrachtet

Fünfzehn Bühnenwerke liegen inzwischen von Lukas Bärfuss vor; 2004 ist sein erstes Prosastück, «Die toten Männer», erschienen. Wer die letzten drei oder vier seiner Arbeiten kennt, wird kaum glauben, dass dieser Autor 1997 mit Samuel Schwarz und Udo Israel zusammen die widerborstige, experimentelle Theatergruppe 400asa gründete – finster entschlossen, die Menschen aufzuwühlen, zu provozieren und der kulturellen Gleichschaltung und Nivellierung ungezähmte und wilde Theaterformen entgegenzuschleudern. So ging es in Siebenmeilenstiefeln querbeet durch die Stile und Epochen. Genres, Textsorten, Motive und Darstellungsmittel jedweder Couleur kamen in den Schüttelbecher, Sparten wie Bildende Kunst, Musik, Sprechtheater, Tanz oder Literatur brachen 400asa exzessiv auf, genauso leidenschaftlich setzten sie die entstandenen Bruchstücke mit anderen Splittern, etwa aus dem Figurentheater oder den Bildmedien, zu einem möglichst disparaten Ganzen zusammen.

Die Grenzen ästhetischer Darstellbarkeit

400asa erkundeten die Probleme und Möglichkeiten theatralischer Darstellbarkeit, übten kategorisch Medienkritik aus und wussten gleichzeitig, dass es Nichts gab, was nicht schon medial vermittelt worden war. Eine unmittelbare Inspirationsquelle bildete beispielsweise die 1988 von Lars von Trier fürs Fernsehen produzierte «Medea». Die «14 Bildbeschreibungen», wie 400asa ihre multimediale Performance «Medeää» im Untertitel nannten, rekurriert explizit auf den Film des dänischen Regisseurs; ein Anspruch an originäres, künstlerisches Schaffen bzw. ästhetische Authentizität wird nicht erhoben. Kunst ist hier das Resultat einer ästhetischen Auseinandersetzung mit Stoffen und Bildsignalen oder: das Zitat eines Zitates eines Zitates.

Zu dieser Zeit hatte das institutionalisierte Theater die innovative Energie und subversive Kraft der Truppe längst erkannt, 400asa inszenierten im In- und Ausland und wurden mit Preisen überhäuft. Die Produktionsmaschine lief heiß; zwischen Januar und Juni 2000 wurden in Bern, Zürich und Wien nicht weniger als vier Produktionen uraufgeführt. Im Folgejahr dann schaffte Lukas Bärfuss mit «Die Reise von Klaus und Edith durch den Schacht zum Mittelpunkt der Erde» in Bochum und «Meienbergs Tod. Eine Groteske» am Theater Basel den vollständigen Durchbruch.

Stiller, strenger, kahler

Das war vor fünf Jahren. Die wilden Zeiten von Lukas Bärfuss sind definitiv vorbei. Der Tonfall des Autors ist bereits in den «Vier Bildern der Liebe» (2002) merklich stiller, die Form strenger, die Sprache kahler geworden. Den Vorwurf der Unverständlichkeit bzw. formalen Radikalität muss sich er sich nicht mehr gefallen lassen, dafür aber denjenigen des Schematismus. Seine Stücke vermitteln in der Tat den Eindruck, als ob sie im Versuchslabor entstanden wären und manch einer mag sich fragen, ob dieser Dramatiker jeweils mit Spaten und Meißel zu hantieren pflegt anstatt mit Papier und Bleistift. Die geometrische Tektonik, der lineare Aufbau und die stark funktionalisierten Figuren vermitteln klinische Kälte, woraus man jedoch keine voreiligen Schlüsse ziehen sollte. Bärfuss ist, nur weil er konzeptionell klar zu Werke geht, kein Kind der Gefälligkeit geworden. Er greift tabuisierte Themen auf; Behindertensex und Zwangspsychiatrie («Die sexuellen Neurosen unserer Eltern»), Religiosität («Der Bus») oder auch Sterbehilfe («Alices Reisen in die Schweiz») sind nicht gerade Motive, um die sich Autoren reissen. Berührungsängste indessen kennt Bärfuss nicht, und zwar nach wie vor nicht. Sein Zorn auf die Schuld der Gesellschaft, auf jenes Schweigen, durch das sich (insbesondere) die Schweiz aus der Verantwortung ziehen will, ist geblieben.

Reflexionen und Zweifel

Der Dramatiker macht es sich dabei nicht leicht, er recherchiert hartnäckig und gründlich und hört erst dann auf, wenn er die emotional, psychologisch, sozial und politisch relevanten Punkte herausgearbeitet hat. Er konzentriert sich dabei auf Widersprüche, die er verdichtet und gärende Konflikte, die er weiterführt und konsequent zum schalen, bitteren Ende führt.

Wenn man die «Die sexuellen Neurosen unserer Eltern» kennt, weiss man um die elterliche Sorge um ein geistig zurückgebliebenes Mädchen, man kennt aber auch die gesellschaftliche Scham und den kalten wissenschaftlichen Blick bzw. lebensfeindlichen Zynismus der Wissenschaft. Ebenso ist man den seelischen und körperlichen Einschränkung sowie der medikamentös unterdrücken Lebenslust und -Freude einer geistig behinderten jungen Frau, Dora, vertraut und nimmt sie in ihren Wünschen ernst. Doras Willen nach einem freien Liebesleben nimmt man jedoch bereits mit wachsendem Unbehagen zur Kenntnis, und beim sexuellen Missbrauch durch einen Phädophilen wächst die Empörung. Die Themenkomplexe Zwangssterilität und -Psychiatrisierung versetzen einen in betroffenes und ratloses Schweigen, bei Fragen nach wertem und unwertem Leben schliesslich – und nichts anderem dient die Funktion dieses Theaterstücks – schlägt man verschämt die Augen nieder. Möglicherweise verspürt man beim Verlassen des Theatersaals Erleichterung, wohlwissend, den moralischen Abgründen, die sich kurz geöffnet haben, noch einmal glimpflich entkommen zu sein.

Dieses konzeptionelle Vorgehen (die Suche nach aktuellen Debatten, das differenzierte Aufsplittern von Themen in möglichst viele Aspekte, die Konfrontation des Publikums mit Widersprüchen) hat ihm den Ruf eines kalten, mechanisch arbeitenden Autors eingebracht. Zu unrecht. Denn Bärfuss geht über die reine Zustandsbeschreibung (ein weiterer Vorwurf) sehr wohl hinaus. Er differenziert nicht nur Inhalte, sondern schafft auch oder vor allem (tragische) Geschichten von Menschen ohne Zukunft und Vergangenheit. Durch die beängstigende Zeit- und Ortlosigkeit seiner Figuren werden seine Stücke zu Parabeln, die über das Einzelschicksal eines behinderten Mädchens, einer suizidalen jungen Frau, einer schizoiden Frömmlerin hinausweisen – auf Allgemeingültiges und Allgemeinschliches.

Bärfuss schockiert nicht mehr, er schafft und ermöglicht auch in seinem Prosadebüt Distanz – und einen kühlen und nüchternen Blick auf die großen ethischen (und unlösbaren Probleme). Eine Distanz, die Denkprozesse in Gang setzen soll. Und die uns nicht mit Gewissheiten versorgt, sondern Reflexionen und Zweifel in uns auslöst.

 

Gespräch

- Sie haben Ihre dramatische Arbeit 1997 durch und mit 400asa aufgenommen und auch weitergeführt. «Meienbergs Tod. Eine Groteske» haben Sie noch zusammen mit der Truppe entwickelt, «Vier Bilder der Liebe» ist in ungebundener Autorschaft entstanden. Zwischen diesen beiden Arbeiten gibt es einen Riss. Was ist ästhetisch passiert?

- Ich habe mir ein paar Dinge beigebracht, ich habe versucht, gegen mein Temperament zu schreiben, Sachen auszuprobieren, die ich mir nicht zugetraut habe. Eine strenge dramaturgische Struktur in Form eines Reigens zum Beispiel, dazu aber nicht chorische apersonale Gesänge, wie ich das vorher schon gemacht hatte, sondern Figuren mit einer gewissen psychologischen Plausibiltät zu zeichnen. Ich habe mich in ein Milieu gewagt, dass ich nicht kannte. Inhaltlich betraf dies die obere Mittelschicht, eine mir vollkommen fremde Welt, äusserlich das deutsche Stadttheatersystem, und zwar ohne Rückhalt der eigenen Truppe, sondern als Dramatiker. Vor den „Vier Bilder der Liebe“ war ich Autor, danach war ich Dramatiker.

- Was haben Sie von 400asa mitgenommen, was zurückgelassen?

- Nichts zurückgelassen, ich bin einfach weitergegangen. Ich habe meiner Arbeit mit 400asa unendlich viel zu verdanken. Bei der täglichen Arbeit mit dem Ensemble habe ich alles gelernt, was es über Theater zu lernen gibt, dramaturgisch, szenisch, organisatorisch. Ich habe gelernt, wann Texte sprechbar sind, wie Schauspieler funktioneren, ich habe gelernt, wie die Oeffentlichkeit auf die theatrale Rede reagiert. Ich habe gelernt, über meine Arbeit zu sprechen, meine Absichten verständlich zu machen. Das ist für einen Schriftsteller, der den Sinn seiner Arbeit im Schreiben sieht, in der Verfassung eines autonomen Kunstwerks, eine harte, aber für mich notwendige Schule.

- Sie erkundeten mit der Gruppe immer auch die Probleme und Möglichkeiten theatralischer Darstellbarkeit. Ist das auch in den letzten fünf Arbeiten, «Meienbergs Tod. Eine Groteske», «Vier Bilder der Liebe» Die sexuellen Neurosen unserer Eltern»«Die sexuellen Neurosen unserer Eltern», «Der Bus» und in «Alices Reise in die Schweiz» der Fall? Falls ja, wie und wo genau?

- Alle meine Stücke sind Auseinandersetzungen mit dem Theater, mit der Rolle, mit dem Spiel. Dazu muss man nur die ersten Szene von „Der Bus“ lesen, das ist nichts anderes als eine Einführung ins Theater. Der Busfahrer Hermann setzt eine Theorie des Theaters auf, eine Poetik des Augenblicks. „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ sind eine Einführung in die Sprachkritik. Eine Auseinandersetzung damit, dass unser Reden und unser Handeln nicht einhergehen. Die Rollen zeichnen sich weniger durch ihr Handeln, als durch ihren Sprachgebrauch aus. Die Beschäftigung mit dem Theater, mit der Sprachverfertigung, mündet ganz schnell in eine allgemeine Betrachtung der Gesellschaft. Wir alle sind Schauspieler, wie sie sprechen wir einen fremden Text in einer fremden Sprache, der Sprache unserer Mutter. Würden wir unsere eigene sprechen, keiner verstünde uns.

- Kritisieren Sie in «Meienbergs Tod. Eine Groteske», «Die sexuellen Neurosen unserer Eltern», «Der Bus» und in «Alices Reise in die Schweiz» Ihr Heimatland?

- Das interessiert mich nicht, und ich wüsste nicht, wie ich eine solche Kritik literarisch realisieren könnte. Es fehlt mir auch die Vorstellung von „der Schweiz“, von diesem Heimatland. Wer wäre das? Die Behörden? Die Menschen? Welche Menschen? Ich kenne keine Gesellschaft, ich kenne nur Individuen. Ich weiss wie problematisch dieser Satz ist, wenn es um Politik geht. Maggie Thatcher hat ihn benutzt, um die Zerschlagung der Gewerkschaften zu begründen. In der Kunst aber ist er gültig, für die Literatur hat ihn Nabokov formuliert, woran man auch sieht, dass man die beiden Bereiche besser nicht vermischt. Was im einen Bereich legitim ist, ist im anderen verbrecherisch.

In meiner Arbeit versuche ich, genau zu sein, genau in der Recherche, in der Beobachtung, genau auch in der literarischen Umsetzung. Ich verstehe mich als Phänomenologe, das heisst, ich untersuche die Erscheinungen der Wirklichkeit und messe sie an den Vorstellungen, an der Ideologie, die sich Menschen von dieser Wirklichkeit machen. „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ handelt unter anderem von Menschen, die liberal denken und repressiv handeln. Mir geht es dabei aber nicht darum, Menschen oder Haltungen zu denunzieren, etwa, weil ich mehr weiss als sie, oder sogar eine Lösung kenne. Ich mag meine Figuren zu sehr, ich liebe ihren Kampf, ihren Willen, und ich liebe gerade auch und immer wieder die Scheusale und die Lügner. Meine Lust besteht in der Darstellung der Ausweglosigkeit, das kann man pervers nennen, und tatsächlich ist für mich Theater eine Institution für die asozialen Triebe der Gesellschaft. Und wenn ich an anderer Stelle von der Moral gesprochen habe und davon, dass ich glaube, das Theater, die Kunst überhaupt, thematisiere die Moral, dann meine ich damit nicht alleine die bürgerliche Moral, sondern die Art und Weise des menschlichen Zusammenlebens, was man tun und lassen soll, die Vorstellung eines guten Lebens. Das ist, seit der Mensch Mensch ist, sein ewiges Thema.

- Ihre Stücke werden auf den grossen Bühnen in ganz Europa gespielt. Hat der internationale Erfolg Ihr Verhältnis zur Schweiz in irgendeiner Form verändert?

- Ich habe vor allem viel gelernt. Ich wollte den Erfolg, das heisst, ich wollte von meiner Arbeit leben können, das war mein Ziel, als ich Schriftsteller wurde. Wenn das nicht mehr möglich sein sollte, würde ich etwas anderes tun. Ich glaube, darin bin ich sehr schweizerisch. Gleichzeitig kann ich es nicht leiden, wenn sie jemand selbst marginalisiert, und das ist wiederum sehr unschweizerisch. Ich habe auch gelernt, lokal zu sein, mich um meine nächste Umgebung zu kümmern. „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ hatten als Auslöser die Zwangsmassnahmen in der zürcherischen Psychiatrie, ich fand es schon erstaunlich, dass man sich in Basel dafür interessierte. Nun wird das Stück in Ecuador gespielt, in Australien und in ganz Europa. All business is local, wie man so sagt.

- 400asa hat mit wilden, dynamischen Arbeiten auch provoziert. Seitdem Sie nicht mehr für diese Gruppe schreiben, sind Ihre Stücke zahmer geworden. Ist das eine Konzession ans etablierte Theaterpublikum?

- Jede Kunst zähmt den Künstler, um Leben festzuhalten, oder zu beschreiben, meinetwegen, -wenn sie denn grossen Ausdruck erlauben - zu erschaffen, muss er Leben geben. Schreiben fesselt mich an den Schreibtisch, es verlangt eine gewisse Kontemplation, und so ausschweifend die Literatur auch sein mag, sie wird den Schriftsteller zähmen. Ich weiss, sie spielen auf einen anderen Aspekt an, auf jenen der Form, und vielleicht ist da ein anderes Wort korrekter. Kann man sagen, meine Stücke seien versöhnlicher geworden? Ich glaube nicht. Ich glaube, die Essenz, wenn so etwas zu finden ist, der Geschichte von Dora ist vieles, versöhnlich ist sie nicht. Ebensowenig die Geschichte von Erika, und wenn ich mir mein neuestes Stück anschaue, „Die Probe“, dann wäre es mir lieb, es wäre so versöhnlich wie der Bus. Es hat sich aber tatsächlich einiges verändert. Ich habe mich lange Jahre gefragt, warum die Menschen ins Theater gehen. Ich fand das immer eine Unglaublichkeit, mich haben volle Theater provoziert, weil ich im Grunde glaubte, die Menschen sollten mit ihrer Zeit etwas anderes anfangen als ins Theater zu gehen und stumm dasitzend einem erfundenen Geschehen folgen. Ich wollte eigentlich, dass sie aufstehen und nach Hause gehen, ich hatte einen Vertreibungsfuror, namentlich in Stücken wie „Vier Frauen. Ein Singspiel“, das sich in einer sehr geordneten, strengen Form, unflätig über Sozialdemokraten, Frauen und Lehrerinnen äussert. Oder „Medeää. 214 Bildbeschreibungen“ ist in einem Kunstdänisch verfasst, man versteht von den Dialogen nun wirklich kein Wort. „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ ist ein Titel, der geradezu dazu auffordert, zu Hause zu bleiben, der verhandelte Stoff, ein behindertes Mädchen entdeckt die Sexualität, ist auch nicht gerade einer, mit dem man sich in seiner Freizeit auseinandersetzen möchte. Die Vertreibung der Menschen aus dem Theater ist mir allerdings nie gelungen, das ist mein Drama, ich war als Dramatiker erfolgreicher, als ich es sein wollte. Es kamen immer mehr Menschen in meine Stücke, und eines Tages, ich glaube, es war während einer Vorstellung der „Sexuellen Neurosen“ habe ich mein Scheitern akzeptiert. Die Menschen haben ein nicht ausrottbares Bedürfnis nach Verwandlung, nach dem Maskenspiel, und das Theater ist die Kunstform, die diesem Bedürfnis entspringt. Und so habe ich begonnen, dies als Geschenk zu begreifen, oder wenigstens als Tatsache zu akzeptieren.

- Sie greifen Tabuthemen auf. Die geometrische Tektonik, der lineare Aufbau und die stark funktionalisierten Figuren vermitteln jedoch klinische Kälte. Damit schaffen Sie Distanz – um dem Lese- und Theaterpublikum einen kühlen und nüchternen Blick auf die großen ethischen (und letztlich unlösbaren) Probleme zu ermöglichen?

- Ich kenne keine Tabuthemen, es ist doch gerade so, dass man über alles überall in jedem Zusammenhang reden kann. Ausser vielleicht über den wahren Charakter von Sport, aber das werden wir auch noch schaffen. Und ich habe nie erlebt, dass es in meinen Stück kalt wird, oder Figuren nur funktionieren. Im Gegenteil: Das Publikum scheint oft aufgewühlt zu werden und nicht genau zu wissen, was sie von der Sache halten sollen. Mir gefällt, wenn das Publikum um seine Haltung ringt. Falsche Gefühle interessieren mich, wenn man merkt, was ich jetzt denke, das ist nicht richtig, was ich jetzt fühle, ist unmoralisch. Ich mag es, wenn in meinen Stücken gelacht wird. Lachen ist Kontrollverlust, und was gibt es Schöneres, als öffentlichen, geteilten Kontrollverlust?

- Wie verstehen Sie unter einer zeitgemässen Autorschaft? Wie muss sie sein, die Funktion eines Schriftstellers in der heutigen Zeit?

- Dazu habe ich keine Meinung. Ich glaube an die Vielfalt. Es gibt kein Richtig oder Falsch. Und ich glaube, dass ein Künstler keine Verpflichtung hat. Wenigstens sollte er in diesem Glauben arbeiten können.

- Vor zwei Jahren ist Ihr Prosadebüt «Die toten Männer» erschienen. Sie haben sich auch schon mehrfach dazu geäussert, sich als Romancier etablieren zu wollen. Sind die dramatischen Formen ausgeschöpft? Oder werten Sie Prosa stark auf? Was interessiert an der einen, was an der anderen Gattung?

- Wenn in einem Stück eine Figur in einer Szene behauptet, sie liebe das Meer, und in der nächsten behauptet sie, sie verabscheue es, dann empfinden wir dies im Theater, im Gegensatz um Roman, nicht als Widerspruch, sondern als Vielschichtigkeit der Figur. Der Schauspieler hält in seiner Person alle Widersprüche zusammen, und widersprüchlich sind wir ja alle. Ich liebe am Theater eben dies, dass es den Widerspruch fruchtbar macht. Prosa schreiben fordert eine andere, tiefere Konsistenz. Ihr Vorteil ist, dass man als Leser Zeit hat, die Zeit beherrscht. Man kann blättern, überfliegen, im Text zurückgehen. Das ist im Theater nicht möglich, wir sind gefangen in den Stühlen, und der Autor muss diesem Umstand Rechnung tragen.

- Was wird von Lukas Bärfuss in nächster Zeit zu hören, sehen oder auch zu lesen sein?

- Warten wir es ab!

Lukas Bärfuss : Erinnerungen an den Dramatiker Martin Babian

Martin Babian sei, so hört man, auf der Strasse zusammengebrochen, im Universitätsspital, wohin man ihn brachte, hätten die Ärzte nichts mehr für ihn tun können, das Loch, das der Infarkt in sein Herz gerissen habe, sei von der Grösse einer Zweifrankenmünze gewesen, und das scheint glaubhaft: Auch im Leben hat es Babian nie zu einem Fünffrankenstück gebracht. Martin Babian war ein unangenehmer Mensch, warum soll man es verheimlichen? Die meiste Zeit übellaunig und, um ein modernes Wort zu gebrauchen, frustriert. Ich selbst habe es stets vorgezogen, ihn unter freiem Himmel zu treffen. Da störte es keinen, wenn er laut wurde. Eine Gaststätte besuchte ich mit ihm bloss einmal. Nach einer Viertelstunde setzte uns der Wirt vor die Tür und erteilte uns ein Lokalverbot auf Lebenszeit. Babian war das natürlich egal, Restaurant konnte er sich ohnehin nicht leisten, mich allerdings traf den Ausschluss sehr. Es war mein Lieblingslokal, mit einer vorzüglichen Küche, der Grund, weswegen ich überhaupt mit dem Dramatiker hingegangen war. Ein ordentlicher Kartäuserbraten und eine gute Flasche Burgunder, dachte ich, müssten selbst einen Mann wie Martin Babian besänftigen. Ich schrieb dem Wirt in dieser Sache einen Brief und erniedrigte mich darin, aber alles, was ich erreichte, war ein dreiseitiges, wütendes Schreiben gegen den Berufsstand der Schriftsteller. Wir müssten uns nicht wundern, wenn unser Ansehen so miserabel sei, wie es nun eben sei. Das Verhalten meines Kollegen sei ohne Frage unentschuldbar, noch niederträchtiger sei allerdings mein feiger, denunzierender Brief, mit dem ich mich von meinem Kollegen abzusetzen versuche, anstatt mich auf die Seite Babians zu schlagen, solidarisch, brüderlich. Und alles bloss, damit ich weiter Rahmleber und Goldkartoffeln für zweiunddreissig Franken fünfzig fressen könne. So erging es einem mit Martin Babian. Eine Bitternis blieb zurück, wann immer man ihn traf oder von ihm die Rede war. Das war auch so, als ich das erste Mal von ihm hörte, an einer Geburtstagsfeier eines angejahrten Schauspielers, er wurde sechzig, wenn ich mich recht erinnere. Wir feierten in einer Orangerie, ausserhalb einer Kreisstadt. Bald hatten die Gäste an diesem Samstagnachmittag zu viel getrunken. Die frühe Sonne tat ein Übriges, und die Stimmung schwankte von da an zwischen Wut und Resignation. Von einem Schluck zum anderen sagte ich mir: Nur noch dieses Glas, und in fünf Minuten bist du weg, aber wie so oft in diesen Fällen, sollte ich schliesslich bis zuletzt bleiben, bis auch der letzte Gast gegangen war. Irgendwann machte sich der angetrunkenen Gastgeber daran, der Gesellschaft einen Monolog vorzutragen, die Rede eines alt gewordenen Sohnes, der sich nach seiner längst verstorbenen Mutter sehnt, eine lächerliche Jammerei, eine präpotente Klage, die bloss geschrieben schien, um die Anerkennungssucht eines Schauspielers der Lächerlichkeit preiszugeben. Mir war der Verfasser unbekannt, und später, bei einer Gelegenheit, aus Gedankenlosigkeit, als nachgeschenkt wurde, heuchelte ich Interesse und fragte den Schauspieler, ob er eben einen eigenen Text vorgetragen habe. Darauf eine Schmähung vor den versammelten Gästen. Das sei eben die Schande mit Idioten wie mir, verkündete der Schauspieler, dass wir uns nicht mit der Tradition beschäftigten. Er würde es verstehen, wenn wir die Dichter der Vätergeneration ablehnten und ihre literarischen Konzepte umzustossen versuchten. Dafür hätte er allen Respekt, aber wir seine so dumm, wir würden weder den Namen Martin Babians kennen, noch seine Verdienste, geschweige denn die Werke. Kein Wunder, sei die Theaterkunst so heruntergekommen, verludert, wie er es nannte, kein Wunder, ereiferte er sich weiter mache sich unter Berufsleuten selbst an einem Geburtstagsfest Begräbnisstimmung breit. Wir würden die ganze Kultur verderben. Und nahm noch einen Schluck und wandte sich ab. Ohne es zu ahnen, hatte der Schauspieler mich an meinem wunden Punkt getroffen. Ich hasse mich für meine Bildungslücken, und in den folgenden Tagen suchte ich in den Buchhandlungen einen Autoren namens Martin Babian, leider ohne Erfolg. In der Stadtbücherei fand ich schliesslich eine vergilbte Anthologie des lokalen Schriftstellerverbandes, eine lieblos gemachte Broschur, nur gedruckt, um die staatlichen Druckkostenzuschüsse einzuheimsen. Dort fand ich einen Text Babians, und ich glaubte zuerst, es würde sich um denselben handeln, den ich an der Feier gehört hatte. Wieder ging es nämlich um einen Sohn, der um seine Mutter trauert; und wieder war es nichts als eine weinerliche Elegie, mit einem entscheidenden Unterschied: Nun hatte die Mutter selbst einen Auftritt, der mit lächerlichen Licht- und Regieanweisungen angekündigt wurde. Sanftmilchig müsse die Lichtstimmung sein, die Mutter von der ersten Schauspielerin des Ensembles gespielt werden, überirdische Schönheit sei unabdingbar, solcher Unsinn stand da, und sogar der Kostümbildnerei wurden Anweisungen gemacht: schwarze Bluse mit weissen Punkt und Puffärmeln seien zwingend, dazu ein enger schwarzer Rock mit Bordüren. Mehr von Babian fand ich nicht. Ich war, offen gestanden, nicht sehr traurig darüber. Leibhaftig sah ich Babian zum ersten Mal an den Solothurner Literaturtagen vor einigen Jahren. Ich hatte an jenem strahlenden Maitag zum ersten Mal im Landhaussaal, gelesen, vor grossem Publikum, mit Erfolg, ich darf es sagen, und abends traf sich der versammelte literarische Betrieb zum jährlichen Bankett der Autoren. Das Besondere dabei: Es gab ausschliesslich kaltes Fleisch. Roastbeef, kalter Braten, Siedfleisch, Vitello Tonnato - sonst nichts, kein Gemüse, keine Kartoffeln, ausschliesslich Fleisch, und dazu bloss Rotwein, ein lokaler, guter, so gut die lokalen Weine eben sein können. Du hast es geschafft, lieber Freund, sagte ich zu mir, höher gehts in deinem Beruf nicht, ein Bankett aus reinem Fleisch, dies ist der Dichterhimmel, und hier ist Endstation. Falls du noch eine Herausforderung suchst, dann wirst du dich anderweitig umsehen müssen. Als die meisten Gäste das Bankett bereits verlassen hatten, erblickte ich in einer Ecke des alten Saales einen Mann, der sich sehr seltsam benahm. Er belegte mitgebrachte Brötchen mit dem übrig gebliebenen Fleisch, wickelte diese danach in Alufolie und packte alles in eine lederne Reisetasche: Martin Babian, das wusste ich auf der Stelle. Ich hatte zu viel getrunken, ich gebe es zu, und das Fleisch machte mich bissig. Ein kleiner Ärger mit einem erfolglosen, hamsternden Dichter, der es auf unbekannte Weise geschafft hatte, an eine Einladung zu kommen, kam mir gerade recht. Ich wusste es damals eben nicht besser. Denn wie gross der eigene Ärger sein mochte, Babian überschwemmte ihn mit seinem Ärger, und wie bitter meine Galle auch war, sie war zuckersüss verglichen mit Babians Geifer. Ich erinnere mich nicht, was damals in Solothurn Inhalt seiner Suada war, wahrscheinlich seine Lieblingsopfer, die Germanisten, Feuilletonisten, Dramaturgen, Lektoren, kurz alle, die auf irgendeine Weise ihr Geld mit dem geschriebenen Wort verdienen; selbst Korrektoren hasste er. „Eine der berühmtesten Lügen der Germanisten“, rief er einmal bei einer Gelegenheit durch den Stadtpark, “ist jene, dass man, um das Werk eines Dichters zu beurteilen, nichts über seine Person zu wissen brauche. Was glauben sie, mein junger Freund, weshalb ihre Stücke gespielt und Ihre Texte gedruckt werden? Weil ihr Geschreibsel zu irgendetwas taugt? Nein, weil sie mit den Damen und Herren Germanisten und mit den Lektoren nach der Lesung ein Glas Wein trinken gehen und sich deren Langweiligkeiten anhören. Weil Sie stets ein sauberes Hemd tragen. Weil man sie präsentieren kann wie eine Preiskuh, deswegen, und weil sie hinterher hübsch danke sagen. Ich sage ihnen: Wenn sie einmal verreckt sind, wenn sie ihre lausigen Texte nicht mehr mit einem gebügelten Lächeln verkaufen können, wenn von ihnen nichts mehr da sein wird, ausser ein paar armseligen Wortsalate, dann wird man sie und ihre Person innerhalb einer Woche vergessen, und keiner wird je wieder nach ihnen fragen. In meinen Falle hingegen wird es genau umgekehrt sein. Nach meinem Tod wird der Weg zu meinen Texten frei sein, die guterzogenen Damen und Herren in den Verlagen und Redaktionen werden sich nicht mehr über meine Ehrlichkeit entrüsten und über meinen Mundgeruch und die nachlässige Garderobe hinwegzusehen brauchen, und dann, lieber Freund, werden meine Texte gedruckt, gespielt und bewundert werden. Der ewige Ruhm wird folgen.“ „Lieber Martin Babian“, entgegnete ich, „ich sehe nicht, wer sich für Ihre Texte interessieren könnte. In ihren Stücken geht es immer nur um Sie. Und um Ihre Mutter.“ Da wurde er gelb wie das fallende Herbstlaub. „Wagen sie nicht, ein Wort über meine Mutter zu sagen“, keifte er. „Sie war eine tiefe Person, mysteriöser und tiefer als alles, was sie sich in ihrem Provinzlerhirn vorstellen können.“ „Mag sein. Und es ist recht, wenn sie ihr ein Dramolett, einen Akt, oder meinetwegen eine Trilogie gewidmet hätten. Aber ihr ganzes Werk dreht sich nur um sie und Ihre Mutter.“ „Wer kann etwas dagegen haben?“ „Im Theater, Babian, muss es um die ganze Gesellschaft gehen.“ Er lachte bitter. „Ich weiss nicht, was das ist, die Gesellschaft.“ Wie ich ihn so dastehen sah, in unserem Stadtpark, im Licht des Martinisommers, abgehetzt, als hätte er gerade einen Waldlauf hinter sich, mit seinen zerkauten Stiften im Revers, den Papieren, die aus den zerbeulten Taschen lugten, dann war klar, dass er nichts von der Gesellschaft verstand. „Ist das Publikum“, fuhr ich fort, „nicht ein kleiner Ausschnitt der ganzen Gesellschaft? Manifestiert sich nicht in ihm die Öffentlichkeit? Und sollte daher nicht die öffentliche Rede Thema und Stoff des Theaters sein? In ihren Stücken, Babian, sieht man ihre Mutter beim Kartoffelschälen. Wie ihre Mutter Griessbrei rührt. Ihre Mutter, die sich beim Lehrer für sie einsetzt.“ „Sie kennen die Lehrer-Szene?“ „Sie unterschätzen mich, Babian.“ „Eine meiner besten Szenen“, sagte er leise, „sie hat mich ein ganzes Jahr gekostet.“ Da hatte ich hatte beinahe Mitleid mit ihm. Ich sagte: „Warum schreiben sie nicht Erzählungen, warum nicht einen Roman? Sie haben Talent, Babian, das will ich gar nicht bezweifeln.“ „Finden Sie?“ „Ich würde sie einen Chronisten des Intimen nennen. Aber das Intime spielt auf der Bühne nun einmal keine Rolle. Ich mag ihnen keine Vorschriften machen, aber ich finden, sie sollten besser keine Stücke schreiben. Es ist die falsche Form.“ „Sie fürchten doch bloss meine Konkurrenz“, grinste er, und da lachten wir für einmal gemeinsam. Er gestand, dass er dramatische Texte verfasse, weil es ihm nicht genüge, über seine Mutter bloss zu schreiben. Sein Verlangen nach ihr sei ohne Massen, und sein grösster Wunsch sei, sie noch einmal zu sehen, leibhaftig, auf der Bühne, ihr noch einmal zuhören zu können, sie unter Umständen sogar zu riechen. Leider sei ihm das bisher nicht vergönnt gewesen. Dieses Geständnis rührte mich zu Tränen. Ich liess meine Beziehungen spielen, sprach mit einem befreundeten Regisseur, und bald darauf fand an einem Dienstagabend auf der Probebühne unseres Stadttheaters eine kleine Vorführung von Texten Martin Babians statt. Die Schauspielerin, die Babians Mutter spielte, war nicht die talentierteste im Ensemble, aber sie war ihrer Rolle durchaus gewachsen. Es wurde eine kurzweilige Stunde, und Babian benahm sich, wie man es noch nie gesehen von ihm hatte. Er liess sich von den anwesenden achtundzwanzig Zuschauern feiern, nahm den Applaus gelassen entgegen, verneigte sich, als hätte er Übung darin. Mit spitzem Mund nippte er am Premierensekt, unterhielt sich galant mit der Hauptdarstellerin, machte ihr Komplimente und beantwortete ernst und mit Humor die wenigen Fragen, die man ihm zu seinem Werk stellte. Mit einem Wort, der Dramatiker schien glücklich. Um zehn Uhr abends war der Zauber vorbei. Martin Babian aber, kaum hatten wir das Theater verlassen, fiel in seine alte Rolle zurück, beschimpfte mich und den Regisseur, wir hätten dies nur arrangiert, um ihn lächerlich zu machen. Er lästerte über die Schauspielerin, ihre Darstellung sei unerträglich, sie sei bloss noch im Ensemble, weil sie ein Unkündbare sei, und er steigerte sich in seinem Zorn, bis Tränen über seine Wangen kullerten. So habe ich Martin Babian zuletzt gesehen, verbittert wie immer, aber ich will mir Mühe geben, dass in meinem Gedächtnis bleibt, wie er war, als er einmal ein richtiger Dramatiker sein durfte, an der Uraufführung seines Werkes, stolz und grosszügig, gelassen und feierlich.