Editorial

Das Jahrbuch Viceversa Literatur widmet sich seit nunmehr drei Jahren dem Literatur- und Kulturaustausch in der mehrsprachigen Schweiz. Sucht Viceversa den Dialog oder die Debatte? Stehen die Gemeinsamkeiten im Zentrum, oder zeichnen sich kulturelle Gräben ab? Wird gar eine multikulturelle Vielfalt beschworen, die es in der Realität so nicht gibt?

Die Relevanz einer Zeitschrift hängt nicht nur vom Prestige ihrer Autorinnen und Autoren ab, sondern vor allem auch von der Fähigkeit, Zu sammenhänge aufzuzeigen, Begegnungen und Diskussionen anzuregen und – wieso nicht – Kontroversen zu provozieren. Die Literatur (ver-)führt zur vertieften Überlegung, sie vermag aber noch mehr: Der Dichter ist «sowohl ein Glied in der Kette der Tradition», er ist aber auch «selbständig, gebunden und frei, abhängig und verwegen», so charakterisiert Andri Peer das paradoxe Wesen des Literaten und der Literatur.

Die Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe widerspiegeln dieses Vermögen und diesen Anspruch von Literatur. Sie alle sind konsequente Grenzgänger zwischen den Sprachen, Kulturen und den Künsten. Sie jonglieren aber auch virtuos mit Versatzstücken fremder Texte und Bilder. Frédéric Pajaks Bücher passen in keine Kategorie, es sind Gesamtkunstwerke, in denen Text und Bild ein Eigenleben führen und zugleich miteinander korrespondieren. Unbekümmert bringt er so unverwechselbare Persönlichkeiten
wie Luther, Nietzsche oder Cesare Pavese miteinander ins Gespräch und in einen Dialog mit der eigenen Autobiografie. Im Französisch des Tunesiers Rafik ben Salah klingt die Heimat an, die er vor vielen Jahren verlassen hat. Seine Neuschöpfungen und Wortspiele zeugen von einer unbändigen Sprachlust, die berberisch-französischen Mischformen bieten ihm aber auch einen Schlupfwinkel vor einer allzu eindeutigen Identität. Wen erstaunt es, dass gerade er den Schweizer Nationalhelden Wilhelm Tell demontiert und gleichzeitig bekräftigt, fortan als Schweizer Autor tätig zu sein? In Rose-Marie Pagnards Texten tritt die Sprache in ein Spiel mit den anderen Künsten: der Musik, dem Tanz und dem Theater. Und Jürg Laederach schliesslich wird hier nicht als Autor, sondern als Übersetzer vorgestellt. Er bewegt sich mit Vorliebe an den unübersetzbaren Rändern der Sprache, Autoren wie Maurice Blanchot oder Walter Abish sind für ihn Herausforderung und Ansporn zu eigenen Kreationen.

Ein erster Fokus-Teil ist der Literatur der italienischen Schweiz gewidmet: Wie sieht das literarische Leben jenseits der Alpen aus, und gibt es Visionen für die zukünftige Entwicklung? Ein zweiter Fokus-Teil beschäftigt sich mit Romanischbünden und beleuchtet das ambivalente Verhältnis von Tradition und Innovation: Kann die Literatur einer kleinen Region, deren Sprache bedroht ist, sich der Moderne öffnen, ohne die eigene Identität zu verraten?

Der Thema-Teil beleuchtet fiktive Orte in der Literatur. Seit Jahrhunderten schreiben Schweizer Autorinnen und Autoren an einer imaginären Schweiz, sie parodieren, imitieren und erfinden Orte mitsamt ihren Bewohnerinnen und Bewohnern. Drei Literaturwissenschaftler skizzieren diese literarische Landkarte. Und drei Autorinnen und Autoren haben eine literarische Nahaufnahme gewagt. Ihr Blick geht nach Norden, Süden und über die Grenzen der Realität hinaus.

Die Ausgabe schliesst wie gewohnt mit einer detaillierten Übersicht über das literarische Jahr in den verschiedenen Landesteilen.

Für die Redaktion
Pierre Lepori und Christa Baumberger