Franz Hohler
Von Thomas Feitknecht

Auf die Kraft des Wortes vertrauen

Franz Hohler, virtuos und mit Erfolg in fast allen literarischen Sparten und Gattungen tätig, hat seine Wurzeln in der Schweizer Kleinkunstszene der 1960-er Jahre. Es gibt eine legendäre Fernsehaufzeichnung, die ihn mit Mani Matter, Emil Steinberger und Dimitri in einem improvisierten Silvestersketch zeigt. Es verrät die Inspiration und Phantasie, die damals von den Kleintheatern in Zürich, Basel, Bern und Luzern ausging. Hier hatte Franz Hohler 1965 mit seinem Soloprogramm „pizzicato“ seine Premiere.

Schon als Schüler hatte der 1943 in Biel geborene und in Olten aufgewachsene Lehrerssohn Theater und Kabarett gespielt und Texte geschrieben. Als Profi wurde Hohler innert kurzer Zeit über die Grenzen des Landes bekannt. S ein „bärndütsches Gschichtli“ mit dem Titel "Totemügerli", das er im Programm "Die Sparharfe" 1967 erfand und das in Dada-Manier mit dem Klang der Mundart spielt, wurde zum Publikumsliebling und zum Evergreen auf den helvetischen Radiowellen. Und seither hat der nachdenkliche und hintergründige Artist mit dem Cello  Generationen von Zuschauern, Hörerinnen und Lesern fasziniert. Sie haben als Kinder am Fernsehen „Franz und René“ gesehen und sich in die Welt der „Tschipo“-Romane vertieft, sie sind mit ihm gross geworden, kennen ihn von Live-Auftritten in Schulen, Gemeindesälen und auch Berghütten und lesen als Erwachsene seine Bücher.

Seit seinen ersten Auftritten in Kellertheatern weiss Hohler, wie wichtig der Blickkontakt über die Rampe hinweg ist. Dass er diesen Draht zum Publikum nie verloren hat, ist eine der Erklärungen für seinen seit vier Jahrzehnten ungebrochenen Erfolg. Dass er angeblich ein „Linker“ ist, haben ihm zeitweise engstirnige oder ängstliche Politiker übel genommen. Beachtung fand Hohler in den Staatsschutzfichen u.a. im Zusammenhang mit Demonstrationen gegen Kernkraftwerke und mit den Zürcher Jugend-Unruhen 1980. Der Zürcher Regierungsrat desavouierte 1982 die von ihm eingesetzte Literaturkommission, die Hohler auszeichnen wollte. Und 1983 legte die Fernsehdirektion ihr Veto gegen eine Sendung ein, in der Hohler eine Mundartfassung von Boris Vians „Le Déserteur“ vortrug.

Franz Hohler hat sich dadurch nicht verbittern und nicht beirren lassen. In allen Auseinandersetzungen vertraute er auf die Kraft des Wortes. Als die Eidgenössischen Räte 2004 in einer Strafaktion wegen einer Ausstellung des Künstlers Thomas Hirschhorn den Kredit der Kulturstiftung Pro Helvetia kürzten, stellte sich Hohler auf dem Berner Bundesplatz den zur Session eintreffenden Parlamentariern zur Diskussion. Dass er, nach vielen nationalen und internationalen Auszeichnungen, schliesslich 2005 den renommierten Kunstpreis der Stadt Zürich erhielt, wirkte wie eine späte Wiedergutmachung und wie eine öffentliche Rehabilitation.

Schon kurz nach seinem Debut als Kabarettist trat Hohler auch als Prosaautor in Erscheinung. Nachdem im Berner Benteli-Verlag erste Kurzgeschichten noch wenig Beachtung gefunden hatten, wurde Franz Hohler von Otto F. Walter in den Luchterhand-Verlag geholt (dem er durch alle Besitzerwechsel hindurch die Treue gehalten hat). Das brachte den Durchbruch. „Idyllen“ und „Der Rand von Ostermundigen“ (1970 bzw. 1973) machten Hohler als ernst zu nehmenden Schriftsteller auch in Deutschland bekannt. In ihrer Kürze und Knappheit haben diese Texte viel gemein mit dem Kabarett und den Kalendergeschichten. Es sind teils präzise Beobachtungen des Alltags und genaue Beschreibungen scheinbar unauffälliger Begebenheiten, teils unheimliche oder unerklärliche und skurrile Erscheinungen. Das Mitgefühl mit Schwachen, die Sorge um die Natur und der Irrsinn einer total reglementierten Welt durchziehen wie ein roter Faden diese Texte.

„Die Rückeroberung“, eine Erzählung aus dem gleichnamigen Sammelband (1982), ist mittlerweile, wie das „Totemügerli“, in der deutschen Schweiz zu einem Begriff geworden, der immer dann zitiert wird, wenn über die Spannung zwischen Technik und Natur diskutiert wird. Der Erzähler schildert, wie er eines Tages mitten in der Stadt Zürich einen Steinadler entdeckt, dem bald weitere nachfolgen, wie plötzlich Hirschrudel über die Stadt herfallen, dann Bären und Wölfe, und wie schliesslich Riesenpflanzen die Häuser überwuchern. Die scheinbar gut gerüsteten und organisierten Behörden sind gegen diese Invasion machtlos, und ein Exodus aus der Stadt beginnt. Der Erzähler sinniert am Schluss darüber, „ob das alles nur der Anfang von etwas ist, das sich von hier aus uneindämmbar ausbreiten wird.“

In seinem bisher einzigen Roman „Der neue Berg“ (1989) sind die Behörden abermals mit einem zunächst unwahrscheinlichen und jedenfalls unerklärlichen Naturereignis konfrontiert. „An einem schönen Frühlingsnachmittag“ entdeckt ein Jogger am Fusse eines bewaldeten Hügels bei Zürich, wo Keltengräber gefunden worden waren, einen feinen Riss im Boden. Um diesen Tag für Tag grösser, bedrohlicher, unheimlicher werdenden Riss in der Natur entwickelt Hohler eine spannende Geschichte um die Risse in der helvetischen Agglomerationsgesellschaft. Persönliche und politische Spannungen überlagern sich, Medien und Wissenschaften streiten sich über die Möglichkeit einer bevorstehenden Naturkatastrophe, Krisenstäbe, Wehrdienste und Zivilschutz verheddern sich im Gestrüpp der Vorschriften, in denen dieser Fall so nicht vorgesehen ist. Paralysiert geht die betroffene Bevölkerung unter, als in einem gewaltigen Beben die Erde aufbricht. Am Ende erhebt sich „zwischen den Rauchwolken des brennenden Waldes, dort, wo noch am Morgen die Keltengräber gewesen waren, dunkel, gross und unwiderlegbar ein neuer Berg“.

Mit der Novelle „Die Steinflut“ (1998), die sich mit einer realen Naturkatastrophe befasst, dem Bergsturz von Elm 1881, mit den unheimlichen Geschichten im Erzählband „Die Torte“ (2004), mit seinen Wanderminiaturen „52 Wanderungen“ (2005) und mit den Gedichten „ Vom richtigen Gebrauch der Zeit“ (2006) hat Hohler in den vergangenen Jahren die Vielseitigkeit seiner Formen und Themen eindrücklich bestätigt.

 

Gespräch

– Sie haben in einem Interview mit der Zürcher „Wochenzeitung WoZ“ 1989 gesagt, dass Sie seit dem 22. Altersjahr versuchen, „von der Phantasie zu leben“. Mittlerweile gehören Sie zu den nicht allzu dicht gesäten Menschen in der Schweiz, die von ihrer literarischen Tätigkeit leben können. Phantasie sozusagen als Beruf… Gibt es da manchmal Spannungen?

Eigenartigerweise habe ich das nie als Problem erlebt, sondern immer als selbstverständlich angeschaut, dass man mit seiner Phantasie etwas machen kann. Ich habe Phantasie nie als Fremdkörper empfunden, sondern als menschliches Organ. Als Kantonsschüler und als Student habe ich mir zwei Lebensmodelle vorgestellt: entweder zu studieren und Mittelschullehrer zu werden (was ich gerne gewesen wäre) oder dann – das war das Traummodell - von und mit meinen Ideen zu leben. Wenn man träumt, sollte man das nicht in der Schublade lassen, sondern probieren, ob der Traum mit der Realität kompatibel ist. Auch Lokomotivführer kann so ein Traum sein (wollte ich auch mal werden). So habe ich mit 22 Jahren ein literarisch-musikalisches Soloprogramm gemacht, „pizzicato“, und habe bei der Universität Zürich gefragt, ob ich im alten Heizungskeller auftreten könne, und der Rektor hat eingewilligt. Beim Schreiben ist es mir gleich ergangen. Ich habe als Schüler Erzählungen und Reiseberichte geschrieben und sie dem „Oltner Tagblatt“ geschickt, das sie publizierte und nach mehr fragte. Diese Ermunterungen waren wichige Posten im Orientierungslauf meines Lebens. Später habe ich mich an Otto F. Walter gewandt, der damals das literarische Programm des Luchterhand Verlags leitete, und ihm meine„Idyllen“ geschickt. Seine Antwort war: Ja, das machen wir. Erst viel später habe ich gemerkt, dass das die Ausnahme war, nicht die Regel.

– Sie sind, wirtschaftlich gesehen, eines der viel gerühmten KMU, also ein Kleines und Mittleres Unternehmen, und beschäftigen eine Mitarbeiterin für das Sekretariat. Was braucht es, um in der Kultur als KMU erfolgreich zu sein?

– Als kulturelles mittleres Unternehmen… Ich habe vom ersten Moment an von der Kunst gelebt. Dabei ist natürlich zu bedenken, dass ich mit meinen kabarettistischen Einmannprogrammen in einer anderen Sparte tätig war als der rein literarische Autor. Das geht Richtung Theater, und da gibt es mehr Möglichkeiten für Auftritte. Trotzdem: die Rahmenbedingungen Mitte der sechziger Jahre waren nicht besonders günstig. Es gab wenig Fördermassnahmen für angehende Künstler, es gab keinen Dramenprozessor, keine Scuola Dimitri, kein Literaturinstitut, die Kleintheater-Vereinigung (KTV) und ihre Künstlerbörse existierte noch nicht. Das „fauteuil“ in Basel, die „Rampe“ in Bern, Emils „Kleintheater“ in Luzern, das waren reine Privatinitiativen, und dort fühlte ich mich zu Hause. Heute ist das ja anders. Überall wo eine Fabrik zugeht, geht ein Kulturzentrum auf, und es gehen ja viele Fabriken ein … Es gibt mehr Leute, die ihrer Kreativität den Lauf lassen. Wir haben eine bedeutend freundlichere Kulturlandschaft als in den sechziger Jahren. Aber natürlich konnte ich als Künstler nicht auf wirtschaftliche Sicherheit zählen, und meine Eltern erschraken schon ein wenig, als ich die Laufbahn des Freischaffenden wählte. Diese wirtschaftliche Sicherheit gibt es mittlerweile auch in den sogenannt bürgerlichen Berufen nicht mehr. Die Künstler haben da gewissermassen vorgespurt…Dass man Erfolg haben muss, gehört allerdings zum freien Schaffen.

– Worauf führen Sie Ihren Erfolg zurück?

– Ich habe immer versucht, das zu machen, was mir vorgeschwebt hat. Ich habe versucht, mein Arbeitsgebiet zu erweitern, ungewohnte Dinge zu machen, die man nicht von mir erwartet hat. Und ich habe immer versucht, für neue Ideen offen zu sein, Überraschendes zu bringen. Das schönste Kompliment war für mich, als ich einmal einen Zuschauer sagen hörte: „Was bringt er wohl heute?“ Das ist mir viel lieber, als wenn jemand sagt: „Bringt er wohl das ‚ bärndütsche Gschichtli'?“

– Aber das „ bärndütsche Gschichtli“ mit dem "Totemügerli“ figuriert weiterhin in Ihrem Repertoire?

– Ja, natürlich. Gerade heute war ich bei einer 9. Klasse, und da hat mich ein Schüler am Schluss gebeten, die Geschichte vom "Totemügerli“ zu erzählen. Und wenn ich das mache, dann bin ich mit den beiden Säufern Schöppelimunggi und Houderebäseler unterwegs im Schattegibeleggtäli. Ich bin immer mit den Figuren meiner Texte unterwegs, lebe mit ihnen, reise mit diesen Figuren im Kopf. Jeder Mensch besteht aus ganz vielen verschiedenen Figuren zwischen Clown und Held und Feigling. Sie sitzen in der Garderobe der persönlichen Bühne und warten auf ihren Auftritt. Der Künstler drückt oft aus, was seine Zuhörer ebenfalls empfinden, aber nicht ausdrücken können.

– Im eingangs erwähnten Interview haben Sie auch gesagt: „Ich war nie ein Revolutionär, ich war eher ein Spötter und Stauner.“ Bürgerliche Politiker haben Sie zu Zeiten allerdings durchaus mindestens als „bösen Linken“ angesehen. Hat Sie das überrascht?

– Ja, eigentlich schon, denn ich war ja kein 68-er, war nicht aktiv in dieser Bewegung. Ich habe mich immer auf der Seite des Lebens gesehen, habe gefragt, was lebensfreundlich ist. Sehr beeindruckt hat mich z.B. das Buch „Grenzen des Wachstums“, die 1972 veröffentlichte Studie des „Club of Rome“ zur Zukunft der Weltwirtschaft. Dieses Buch hat die Bedrohung der Umwelt erstmals umfassend aufgezeigt und die Unumkehrbarkeit gewisser Prozesse. Eines der krassesten Beispiele vom Umgang der Menschen mit technischen Errungenschaften ist die Atomkraft. Es war deshalb selbstverständlich, dass ich mich dazu äusserte, dass ich den Wahnsinn in der Normalität anprangerte. Das Bild vom unverschämten, frechen Satiriker habe ich mir in der Fernsehreihe „Denkpause“ eingehandelt. Diese viertelstündige Satiresendung wurde zwischen 1980 und 1983 in insgesamt 40 Ausgaben jeweils zur „Prime time“ ausgestrahlt, unmittelbar vor der Verbrechersuche in der Sendung „Aktenzeichen XY ungelöst“, und erreichte natürlich ein ungleich grösseres – und auch anderes – Publikum als meine Auftritte in Kleintheatern.

– Sie gehören einer Generation von Schweizer Autorinnen und Autoren an, die im Zeichen des gesellschaftlichen Engagements geschrieben haben. Was verbindet Sie noch heute mit diesen Autoren, was unterscheidet Sie vielleicht auch von ihnen?

– Ich bin nie von theoretischen Gesellschaftsmodellen ausgegangen und habe mir nicht programmatisch eine ideale Gesellschaft vorgestellt. Ich habe vielmehr das Ungenügen der Welt festgestellt, habe gesehen, wie die Welt nicht sein sollte. Die Ballade „Der Weltuntergang“ etwa, die ich heute den 9.Klässlern ebenfalls vortrug, war meine Reaktion auf „Grenzen des Wachstums“. Wo es mir nötig schien, ging ich auch an Protestveranstaltungen und Demonstrationen. Ich erinnere mich gerne an meinen Auftritt an der Tschernobyl-Demonstration in Gösgen mit Otto F.Walter zusammen, dem ich mich immer noch verbunden fühle. Heute fallen Autoren, die sich engagieren, leicht unter Gutmenschen-Verdacht. Deshalb freute es mich, als 700 Kulturschaffende letzten Herbst meinen Aufruf gegen das neue Asylgesetz unterschrieben. Auf einmal hatten wir wieder eine gemeinsame Stimme.

– Sie haben in Ihrer Ansprache zum Aargauer Kulturpreis 2002 ihren Grosseltern „für die Freude am Singen, Schreiben, Jassen und Lesen und für die Freude am Schönen im Leben“ gedankt. Ihre Grossmutter hat Schnitzelbankverse verfasst, von Ihrem Gossvater haben Sie ein Cello geerbt, Ihre inzwischen betagten Eltern, denen Sie einmal pro Woche das Mittagessen kochen, waren im Lehrberuf tätig. Welche Rolle spielt diese Herkunft für Ihr Leben und Schaffen?

– Ich denke, Eltern und Grosseltern hatten eine starke Wirkung auf mich. Meine Grossmutter väterlicherseits musste in der Fabrik arbeiten. Sie wäre sicher eine gute Lehrerin geworden und hat mich ermuntert zu schreiben. Der Grossvater väterlicherseits war Webmeister, wurde immer ausgebeutet, hat aber seine Heiterkeit behalten. Der Grossvater mütterlicherseits war Verdingkind und hatte eine schwere Jugend, schaffte es aber bis ans Technikum Burgdorf. Dann wollte er sich den Traum erfüllen, Cello zu spielen, und liess sich ein Cello bauen. Nach zwei Unterrichtststunden musste er zur Kenntnis nehmen, dass seine Hand zu klein war für das Cellospiel. Jahrelang stotterte er in Raten den Kaufpreis seines Cellos ab, das ich später von ihm bekommen habe und immer noch benutze. Ich kann den Traum meiner Grosseltern verwirklichen, kann schreiben, habe Wirkung damit – und kann davon leben, und besser als sie.

– Sie bezeichnen sich als Optimisten. Wenn ich aber Ihre Gedichte lese, habe ich den Eindruck, sie seien pessimistischer als Ihre Prosatexte, trauriger, melancholischer.

– Gedichte sind meistens schon an sich melancholisch. Jedenfalls sind sie auf meiner Bühne die Darsteller der Melancholie.