Jürg Laederach
Von Martin Zingg
Jürg Laederach ist 1945 in Basel geboren. Nach dem Abschluss des Humanistischen Gymnasiums in Basel begann er ein Studium der Mathematik an der ETH Zürich. Später wechselte er zur Universität Basel, wo er Romanistik, Anglistik und Musikwissenschaft studierte. 1969 hielt er sich als Stipendiat und Deutschlehrer in Paris auf; anschließend arbeitete er ein Jahr lang als Werbetexter in Basel. Hier lebt er seither, als Schriftsteller und Übersetzer. Er hat Romane, Erzählungen, Theaterstücke und Essays publiziert, zugleich ist er auch tätig als Übersetzer; in den letzten Jahren hat er vor allem einige Werke von Maurice Blanchot ins Deutsche übersetzt.
Jürg Laederach erhielt verschiedene Auszeichnungen, darunter 1986 den manuskripte-Literaturpreis der Steiermärkischen Landesregierung, 1988 den Literaturpreis der Stadt Basel, 1990 den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung , 1997 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur , 2001 den Grossen Literaturpreis des Kantons Bern sowie 2005 den Italo-Svevo-Preis . Er ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Neben seinen literarischen Aktivitäten tritt Laederach, der Saxofon, Klarinette und Klavier spielt, gelegentlich als Musiker mit der Basler Jazzformation BIQ auf.
Jürg Laederach Ich bin ein funktionstreuer Übersetzer
Besonders zahlreich sind sie nicht: die Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die auch übersetzen. Jürg Laederach ist wohl eine Ausnahme. Seinem umfangreichen literarischen Werk steht ein nicht minder reiches Übersetzungswerk zur Seite, und das eine ist längst nicht mehr vom anderen zu trennen. Sein Debüt als Schriftsteller gab Jürg Laederach 1974 mit dem Prosaband Einfall der Dämmerung . Der schmale Band enthält Texte von unterschiedlicher Länge: Parabeln, Märchen, Satiren, Aktennotizen, Erzählungen, die an Western erinnern wollen und dann doch keine sind, Spielanleitungen und nüchtern gehaltene Beschreibungen, die unvermittelt ins Groteske kippen. Es sind Prosatexte, die immer wieder und lustvoll aus allen Erwartungen ausscheren, die sie eben erst geschürt haben - aus Erwartungen, die von der Form diktiert, aber auch vom sprachlichen Auftakt ausgelöst werden.
Zusammengehalten werden viele Texte in diesem Erstling von einer Kunstfigur, die Hirse heisst. Hirse kann buchstäblich alles. Hirse kann in jede Zeit, an jeden Ort, in jede mit Sprache benennbare und also durch Sprache herstellbare Situation hineingeraten. Zugleich stellt diese Figur durch ihren Auftritt viele dieser Situationen erst her. Alles, so sieht es aus, ist Hirse vergönnt, und alles ist nur möglich durch Sprache. Der Preis für diese grenzenlose Verfügbarkeit ist natürlich der Verzicht auf vertraute, lebensweltlich beglaubigte Kausalitäten. Hirse ist ständig von Auflösung bedroht, jederzeit kann die Sprache der Figur den Boden unter den Füssen wegziehen und sie anderswo weitergehen lassen. Denn erst durch die Veranstaltung des Textes kommt das zustande, was es im Text zu lesen gibt.
Hirse führt im Kern schon vieles vor, was Laederach in den folgenden Romanen und Erzählungen, in den Theaterstücken und zahlreichen Essays immer wieder aufgegriffen und variiert hat. Das mäandernde Erzählen gehört dazu, so gut wie das Wissen um die ‹Materialhaftigkeit› der sozialen und psychischen Wirklichkeit. Und es gehört auch dazu, dass in den Texten theoretische Überlegungen wie nebenher mitlaufen. Laederachs Texte denken immer auch über sich selber nach, und dieses Nachdenken biegen sie sofort in den Text zurück und machen es dem Erzählten gefügig – das natürlich kein lineares mehr sein kann.
Laederachs Debüt als literarischer Übersetzer fällt in die späten Siebzigerjahre: Schon kurz nach Erscheinen seiner ersten Bücher beginnt er, aus dem Französischen und Englischen zu übersetzen. Es erstaunt nicht, dass er sich dabei vor allem für Texte interessiert, die sich in ihrer Faktur jener der eigenen Erzählungen und Romane annähern, ohne dass sie ihnen in allem gleichen. Den Auftakt der inzwischen langen Reihe von Übersetzungen macht ein Klassiker, der in jenen Jahren im deutschen Sprachraum wiederentdeckt wird: Raymond Roussel. Von ihm, dem Autor des legendären Romans Locus Solus , übersetzt Laederach das Theaterstück Sonnenstaub . Das Stück erscheint 1978 zusammen mit einem weiteren Stück, das Klaus Völker übersetzt hat, im Band Die Prädestinierten im Hanser Verlag und wird von Hans Hollmann mit grossem Erfolg in Berlin inszeniert.
In rascher Kadenz übersetzt Laederach im Folgenden Romane und Erzählungen von Autoren wie Walter Abish, Michael Brodsky, Frederick Barthelme und Maurice Blanchot. Die meisten Bücher erscheinen bei Suhrkamp, der in jenen Jahren auch sein literarisches Werk betreut. Daneben publiziert er aber auch zahlreiche Texte in Zeitschriften. Die deutsche Fassung von Michel Vinavers Drama Flug in die Anden etwa erscheint 1983 in Theater heute . Erzählungen von Walter Abish, Auszüge aus Michael Brodskys Roman Detour , Aphorismen von Henri Michaux oder Thomas Pynchons frühe Erzählung «Mortality and Mercy in Vienna» werden in der Literaturzeitschrift manuskripte publiziert. Wiederholt hat sich Laederach zudem an grösseren Projekten beteiligt, etwa bei Auswahlbänden mit Erzählungen von Harold Brodkey, William Carlos Williams oder Grace Paley.
Die hier genannten Autorinnen und Autoren stehen alle für meist komplexe Schreibweisen und signalisieren damit bereits die Schwierigkeiten, mit denen Laederachs Übertragungen aus dem Französischen oder Englischen zu rechnen haben. Autoren wie beispielsweise Michael Brodsky, Thomas Pynchon oder Maurice Blanchot haben zwar durchaus unterschiedliche Schreibverfahren entwickelt - gemeinsam ist ihnen aber, dass in ihren Werken der Plot oder Handlungsfaden entweder kaum existiert oder dann keine zentrale Bedeutung für den Fortgang des Textes hat. Wichtiger ist die jeweilige Sprachbehandlung, deren Motor die meist unausgesprochene Erkenntnis ist, dass die Sprache Aussen- und Innenwelt nur mit Einschränkungen darstellen und beglaubigen kann. Über ihr eigenes Funktionieren hingegen gibt die Sprache sehr wohl Auskunft.
Für Laederach (und jeden Übersetzer) bedeutet dies, dass er den in der Ausgangssprache praktizierten Widerstand gegen die ‹gängige› Sprache gleichsam nachstellen muss. Weil die im Original bereits stark variierende Abweichung gegenüber der Sprachnorm die Texte entscheidend prägt, kann er sich also kaum an einer handlichen und nacherzählbaren Fabel orientieren. Er muss aber nicht allein die semantische und rhetorische Distanz herstellen. Er muss in der deutschen Fassung der Texte jeweils die mit dem Widerstand verbundenen Schwierigkeiten, welche die Lektüre entscheidend charakterisieren, ebenfalls aufbauen und abbilden. Dass er dies auf eine sehr eigensinnige, auf eine markant ‹Laederachsche› Weise tut, mit oft kühnen Setzungen, ist allen seinen Übersetzungen anzumerken - mit seinem unverwechselbaren Zugriff hat er unser Leserepertoire um eine stattliche Reihe wichtiger Bücher erweitert.
Gespräch
Sie haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten eine Vielzahl von Büchern aus dem Französischen und aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt, immer sogenannt schwierige Texte. Damit meine ich Texte, in denen weniger die Handlung im Vordergrund steht als vielmehr die Sprache und die Sprachbehandlung. Welchen Stellenwert hat das Übersetzen für Sie?
Ich bin ins Übersetzen hineingerutscht, auch aus einem didaktischen Antrieb: Wenn ich etwas sehr Gutes in Englisch oder Französisch gelesen hatte, dachte ich mir, das möchte ich einem weiteren Publikum vorstellen. Dazu musste es natürlich ins Deutsche übertragen werden. Weil ich mich beim Übersetzen nicht langweilen will, habe ich mich eher an die Spracharbeit gehalten. Ich habe bei den Texten am meisten erlebt in der Sprache. Themen sind nach ein paar Tagen aufgebraucht beziehungsweise erinnert man sich zu gut an sie. Aber wochenlang mit einem Thema und nicht mit den Feinabstimmungen seiner Darstellung zu arbeiten, war mir zu monoton.
Ein interessantes Beispiel Ihrer Übersetzungsarbeit ist Walter Abishs Roman Alphabetical Africa . Er galt lange Zeit als unübersetzbar, auf Deutsch gibt es ihn aber. Gibt es auch in anderen Sprachen Übersetzungen?
Ich weiss es nicht. Ich glaube, dass es von wenigen Wörtern abhängt, ob eine Übersetzung überhaupt möglich ist. Diese Wörter habe ich am Anfang meiner Arbeit herausgeschrieben. Zum Beispiel muss vom ersten Moment an eine Ameise vorkommen können, denn im ersten Abschnitt sind nur Wörter erlaubt, die mit A anfangen. Und da «Ameise» im Englischen mit A anfängt – «ant» –, ist eine Übersetzung ins Französische nicht möglich, denn dort heisst Ameise «fourmi». Hingegen gestattet also wunderbarerweise der Buchstabe A von «Ameise» die Übersetzung ins Deutsche.
Das scheint mir eine ausserordentlich tückische Angelegenheit. Wie sind Sie bei der Übersetzung vorgegangen?
Es ist in der Tat sehr tückisch, und ich weiss es tatsächlich selber nicht mehr. Ich musste das Buch danach vollkommen aus meinem Kopf streichen, weil ich wieder ‹normalere› Texte übersetzen wollte, Texte, die andere Schwierigkeiten aufwiesen. Wenn möglich nehme ich mir Übersetzungen vor, die eine zunächst unlösbare Schwierigkeit beinhalten, und versuche dann, ein bestimmtes Mittel des Ausdrucks zu finden. Alphabetical Africa ist doppelt ungewöhnlich, weil das Problem bei keinem anderen Text je auftaucht. Nämlich: ein Wort muss den richtigen, in ein Erlaubnis- und Verbotsmuster passenden Anfangsbuchstaben aufweisen. Das ist extrem ungewöhnlich, man beginnt mit der Zeit anders zu denken, indem man bei Sätzen, die man sagt, sofort weiss, welche Anfangsbuchstaben man gebraucht hat - aber nicht mehr unbedingt, welche Wörter. Schon um des Überlebens willen muss man das nach dem Übersetzen wieder loswerden. Es hat auch keinen Sinn, eine solche Übersetzung in mehreren Gängen zu machen, sondern es muss einmal intensiv an dieser Übersetzung gearbeitet werden, und dabei muss man sich völlig in diese Welt, in dieses Regulativ hineinbegeben.
Übersetzer entwickeln ja alle irgendwann eine bestimmte Arbeitstechnik. Wie sieht diese bei Ihnen aus?
Ich nehme einen bestimmten Akzent oder eine bestimmte Schwierigkeit des Textes und versuche, diese in irgendeiner Weise herüberzubringen. Meist ist das eine Schwierigkeit, die tief in der Struktur liegt, und die Lösung dieses Problems schreibt mir gleichzeitig eine Menge anderer Details des Textes vor. Vereinfacht gesagt ist es wie ein Kreuzworträtsel, durch das ich mich hindurchschlängeln muss, um den Text gut herüberzubringen. Ich kann Ihnen bei jedem Text sagen, was die grundsätzliche Schwierigkeit war.
Machen wir die Probe: Von Marguerite Duras haben Sie Der Lastwagen übersetzt …
Hier war die Schwierigkeit, dass Marguerite Duras eine extrem verknappte Sprache pflegt und an den Rand des überhaupt korrekten Französisch geht. Man weiss nie, ob nicht ganze Satzteile oder untergeordnete Sätze fehlen. Alles ist extrem knapp, und das genauso knapp auf Deutsch wiederzugeben, ist schwierig. Wegen der Knappheit müsste auch eine bestimmte Art von emotionaler Überbelastung mitkommen. Bei Duras ist das ganze Schreiben ‹etwas kaputt› - und das ist sehr schwierig im Deutschen wiederzugeben.
Eine andere Art von Sprachbehandlung pflegt Maurice Blanchot, den Sie mehrfach übersetzt haben.
Bei Blanchot geht die Sprachbehandlung schon so weit, dass man im Deutschen einen ganzen Regelsatz beachten muss, den er sich im Französischen vorgibt. Ähnlich wie bei Abish, dem ‹normal› schreibenden Abish, etwa in How German is it . Man sieht dort deutlich, wie Abish Deutsch im Englischen produzieren will. Ob das funktioniert, kann ich nicht beurteilen. Sicher erreicht er damit einen exotischen Akzent im Englischen, den er mit Gewinn herauszustellen weiss. Bei Blanchot habe ich denselben Eindruck. Er will auf Französisch einen komplizierten, verbissen Heideggerschen Text nachahmen und konstruiert deswegen Sätze von einer Länge, die auch auf Deutsch zerbrechen. Das heisst: Wenn ein Autor in einer Fremdsprache Deutsch imitieren will, ist der erfahrene Übersetzer sofort gewarnt, dass das nicht ins Deutsche übersetzt werden kann. Und doch kann man Zeichen finden, um ein solches sprachliches Verfahren zu übertragen.
Grace Paley wiederum hat eine ganz andere Schreibweise.
Grace Paley hat für sich selbst einen ganz eigenen Tonfall erobert. Bei ihr sind die Russen mein Fluchtpunkt. Ich assoziiere sie stark mit einem modernen, weitergeschriebenen Tschechow. Man würde versuchen, die manchmal ganz ordentlich dick aufgetragene Gefühligkeit und Sentimentalität herüberzubringen, die aber trotzdem keinerlei Opfer an Präzision fordert. Die Verbindung mit Tschechow kam mir, als ich entdeckte, dass sie während des Schreibens zu ihren Figuren offenbar sehr lebhafte Beziehungen pflegt. Diese Figuren sind meist irgendwie bedauernswert oder komisch, oder sie sind in einem tiefen Misslingen drin, wofür sie noch während des Schreibens die unmittelbare und wärmste Teilnahme der Autorin benötigen. Sie ist eine Autorin, die ihre Figuren schreibt, ihnen gleichzeitig aber immer etwas Ermunterndes zuruft.
Von Frederick Barthelme haben Sie drei Erzählbände übersetzt.
Frederick Barthelme war, wenn man ihn kurz definieren müsste, ein typischer, wahrscheinlich einer der typischsten Magazin-Schreiber überhaupt. Ich bin auf ihn aufmerksam geworden, weil er der jüngere Bruder von Donald Barthelme ist. Von Familie spricht er zunächst sehr viel kühler und bissiger als sein Bruder. Er versucht, autobiografische Details in seinen zum Teil fast industriell gefertigten Erzählungen unterzubringen. Diese Erzählungen sind alle, was die Familie, den Vater oder den älteren Bruder betrifft, grundböse, aggressionsgeladen, um nicht zu sagen schonungslos kritisch.
Frederick Barthelme ist ein äusserst detailstarker Autor. Jede Story hat immer genau die richtige Länge. Und man hat den Eindruck, dass er im Voraus den leeren Platz schon kennt, den eine Zeitschrift in der betreffende Nummer haben wird, und er füllt mit seiner Story dann just diesen leeren Platz.
Gibt es einen Unterschied zwischen Übersetzungen aus dem Englischen und aus dem Französischen? Haben Sie dazu Beobachtungen gemacht?
Es gibt keinen Unterschied für mich. Ich übersetze kleinräumig. Ich muss eigentlich nur wissen, was eine Sprache über das Wortwörtliche hinaus – dies ist ja meist fast das Leichteste - noch an Ausdruck hergeben kann. Und ich muss nicht diese Sprachen, sondern vor allem Deutsch mit seinen sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten gut können. Ich habe bis jetzt vor allem von der Technik des Übersetzens gesprochen, vielleicht einfach, um nicht doch sagen zu müssen: Die Sprache selber reicht nie ganz für eine Übersetzung. Dieser Frustration muss man sich aussetzen. Und die eigene Sprache ist überhaupt nur eine eigene Sprache, weil sie schon in der eigenen Sprache soundsoviel aussortiert hat. Das heisst: Man hat deshalb ein eigenes Organ in der eigenen Sprache, weil man nicht mehr die ganze Sprache braucht. Es ist traurig, das so festzuhalten, aber es ist genau so.
Wie weit ist Übersetzen auch Erklären?
Es gibt sicher die Schwierigkeit, dass man als Übersetzer einen Text sehr langsam lesen und immer wieder lesen muss und ihn langsam in die andere Sprache hinüberbringt. Man spinnt sich sozusagen in sich selbst und in Selbsterklärungen und eigene Interpretationen ein. Darum arbeite ich meistens mit einem Lektor zusammen, denn er hat einen frischen Blick auf die Texte. Dies äussert sich darin, dass er Erklärungen fordert. Wenn ein knapper Text zu knapp ins Deutsche übersetzt wurde, kann man auf diese Weise feststellen, ob er nur zu knapp oder bereits nicht mehr erklärbar ist, so dass man ihm beim Lesen nicht mehr folgen kann. Dann müsste man noch zwei, drei Wörter hinzutun, die allein durch ihr Dastehen eine Erklärungshilfe liefern.
Eine der heftigsten Diskussion in Bezug auf das Übersetzen betrifft die Treue, die Genauigkeit - und die Illusionen, die sich damit verbinden.
Ich bin ein funktionstreuer Übersetzer. Der Text muss nicht wortwörtlich derselbe sein, er muss nicht genau mit dem Original übereinstimmen, sondern ich nehme auffällige Charakteristiken des Originals und versuche, diese ins Deutsche zu übertragen. Ich hoffe natürlich, dass in diesen Charakteristiken schon möglichst viel Text enthalten ist, so dass die Übersetzung - wenn ich mal meine Entschlüsse gefasst und alles richtiggehend ‹ausgerechnet› habe - gewissermassen laufen kann wie auf Schienen.
Nicht nur der Übersetzer liefert dem Leser eine Erklärung, häufig tut dies bereits der Originalautor selber. Ein Mittel dazu ist die Akzentsetzung, die zu erkennen gibt, was der Autor in seinem Text für besonders wichtig hält und was er bloss als Verbindung zwischen zwei Textstellen erachtet. Mit dieser Art imaginären Unterstreichungstechnik - und ich habe kaum einen Autor getroffen, der in seinem Text nicht über dieses imaginäre Unterstreichen verfügte -, zeigt einem der Autor, auf welche Formulierungen er besonders stolz ist und sie wörtlich gelesen haben möchte. Diesen Stolz darf man weitergeben, solche Passagen übersetze ich wörtlich. Mit dem Nacheifern im Wortwörtlichen ist auch eine gewisse Schlauheit und eine gewisse Interpretation des Originaltexts verknüpft.
Dem Übersetzer geht es also wie Goldonis Truffaldino, dem ‹Diener zweier Herren›: Er muss schauen, dass beide Texte zu ihrem Recht kommen, Original und Übersetzung.
Unbedingt. Ich darf nicht vergessen, dass nicht ich selbst das schreibe. Ich bin nichts. Ich muss meine beiden Füsse auf irgendwelche Steine im Wasser stellen. Ich brauche vor allem etwas Solides unter den Füssen. Und Texte zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht solide sind. Also mache ich sie solide, indem ich sage, dieser Text enthält das und das. Und ich schaue, dass ich einen festen Stand kriege. Das ist natürlich eine subjektive Interpretation, aber anders funktioniert Übersetzen nicht. Man bleibt sonst im Wortwörtlichen stecken, und das Wortwörtliche hat für mich eher eine negative Bedeutung. Man soll dort, wo es der Autor einem nahelegt, wortwörtlich sein - und sonst funktionstreu.
Ich habe bereits betont, dass die eigene Sprache auf keinen Fall mit der Beherrschung der ganzen Sprache gleichzusetzen ist. Es ist nicht so, dass man wie ein Kaiser über sämtliche Wörter wie über Untertanen verfügen kann, sondern man lässt einen gewissen Teil der Sprache weg und intensiviert den Rest. Man verfügt über seinen Teil der Sprache. Man kann unter keinen Umständen erwarten, dass der Autor des Originaltextes genau dieselbe Sprache für sich ausgelesen hat. Man muss froh sein, wenn man auf zwei, drei seiner Interessenschwerpunkte, die man im Text wahrzunehmen glaubt, anspricht und daraus die Energie für die Übersetzung beziehen kann. Das wichtigste ist, genügend Energie zu haben, dass man durchkommt bis zum Schluss und dass es spannend bleibt. Das heisst: Die einmal getroffenen Entscheidungen müssen einen in Spannung halten. Ein Abschlaffen merkt der Leser auch der Übersetzung an. Ich habe immer Texte genommen, die von A bis Z genau dieselbe Spannung aufweisen. Die Spannung geht dann auf mich über. Es gibt kein Erschlaffen, nichts.
Sie haben 2008 an der Übersetzertagung der Bundesakademie Wolfenbüttel teilgenommen, wo Sie sich mit anderen literarischen Übersetzern austauschen konnten. Haben andere Übersetzer ähnliche Probleme und Fragen?
Ja, zum Beispiel war da ein Übersetzer, der sich um eine Neuübersetzung der Werke von Garcia Lorca kümmert. Bisher gab es nur die Übersetzung Enrique Becks, nun laufen die Rechte aus, und alles wird neu ins Deutsche übertragen. Der neue Übersetzer hat genau dieselben Probleme: Was war Garcia Lorca wichtig? Wo muss er als Übersetzer Akzente setzen?
Nicht jede andere Formulierung in einem Prosatext wird vom Empfänger auch wirklich als eine Differenz empfunden. Der Leser hat eine gewisse Toleranz, er bekommt nicht so rasch den Eindruck, Version eins und zwei klafften auseinander.
Ich selber bin da doppelt genäht. Ich mag Übersetzungen, welche die Genauigkeit und Funktion des Originaltextes exakt wiedergeben. Ich mag es aber auch, wenn einer sagt, ich habe einen eigenen Stil und erzähle dieses Buch höchst getreu nach. Eine Art exaktes Nacherzählen also, das nicht mehr unbedingt eine Übersetzung ist. Man liest da einen anderen Text als dort - und kann immer noch auf eine weitere Fassung zurückkommen. Allgemein gesagt: Der Fan der berüchtigten «endgültigen Version» kommt kaum auf seine Kosten, er sollte es auch nicht.
Das heisst auch, dass Bücher in regelmässigen Abständen neu übersetzt werden müssen, weil Übersetzungen altern.
Unbedingt. Das beste Beispiel sind die sehr sorgfältigen deutschen Übersetzungen von Samuel Becketts Werk. Beckett ist kein Autor, der zu Nachlässigkeit einlädt, und doch sind Elmar Tophovens Übersetzungen nicht mehr genau das, was heute nottäte. Heute würde man die Reste von bildungsbürgerlicher Gehobenheit und Nachkriegswürde, die zum Teil noch in den Texten drinstecken, vermutlich nicht mehr bringen. Das bekommt auf der Sprachbühne keinen Auftritt mehr.
Stoff für unzählige Diskussionen …
Die Übersetzerdiskussionen sind unter anderem darum so heftig, weil es im Hintergrund immer auch um die Honorarfrage geht. Was ist eine gute Übersetzung? Wer beurteilt das? Der Rezipient, der den Text liest, oder der Rezipient, der das Honorar festlegt? Ist nicht die Übersetzung allgemein unter Urteilsdruck geraten, weil man ihre Leistung gern möglichst klein hätte, ebenso wie man in der Produktionskette eines Textes den Übersetzer liebend gern auslöschen würde, da er in gewissem Sinne die Präsenz des Autors verdoppelt: Plötzlich steht noch einer mehr im Raum, den man – so meine Erfahrung – ganz gern wieder draussen hätte. Stellen Sie sich ein Konzert der Rolling Stones vor, bei dem plötzlich ein weiterer Wildrock-Mann auf der Bühne steht, der dem Publikum erklärt: Ich bin hier, um die Musik zu übersetzen, ihr hört sie nur ganz langsam, denn ich will keinen Fehler machen. Er würde gelyncht!
Gibt es noch Bücher, die Sie gerne übersetzen möchten? Haben Sie offene Wünsche?
Alle Bücher, die ich übersetzt habe, habe ich zufällig getroffen, bei der Lektüre. Es kann durchaus sein, dass mich wieder einmal eines reizt. Ich habe nie darüber nachgedacht, welcher Text mich denn besonders reizen würde. Er muss gut formuliert sein, spitz und knapp, so dass da irgendeine Mechanik zu funktionieren anfängt. Er darf nicht zu einfach sein. Er muss irgendeine Kombinatorik in Gang setzen, aber es braucht gar keine so extravagante zu sein wie bei Abishs Alphabetical Africa . Auch bei Frederick Barthelme muss man ganz schön kombinieren, um diese merkwürdig trockene, ein bisschen sarkastisch-zynische Kürze zu erreichen, die er seinen Magazin-Geschichten mitgibt.
Hat das Übersetzen oder eine Ihrer Übersetzungen Ihr eigenes Schreiben beeinflusst?
Ich bin insofern altmodisch, als ich gern etwas wie eine zusätzliche ‹Reserve› oder ein ‹Repertoire› im Kopf habe. Die Übersetzungen vermittelten mir das. Aber es wäre zuviel gesagt, ich sei nun gleich hingegangen und hätte alles praktisch ausprobiert. Proust übte noch in Prosabandlänge das ‹Schreiben im Stil von …›, davon ist man heute abgekommen. Und wie ich bereits erwähnt habe: Der eigene Stil besteht vermutlich genauso im Weglassen von Sprachgebieten wie im Hinzufügen. Blicken wir also voraus: Bisher gab es keine direkte Beeinflussung durch übersetzte Autoren, aber vielleicht ändert sich das in Zukunft.
Martin Zingg lebt in Basel und arbeitet als Publizist.
Von Martin Zingg
Jürg Laederach : "Maurice Blanchot, Thomas der Dunkle"
Maurice Blanchot, Thomas l'obscur (Auszug)
Thomas demeura à lire dans sa chambre. Il était assis, les mains jointes au dessus de son front, les pouces appuyés contre la racine de ses cheveux, si absorbé qu'il ne faisait pas un mouvement lorsqu'on ouvrait la porte. Ceux qui entraient, voyant son livre toujours ouvert aux mêmes pages, pensaient qu'il feignait de lire. Il lisait. Il lisait avec une attention et une minutie insurpassables. Il était, auprès de chaque signe, dans la situation où se trouve le mâle quand la mante religieuse va le dévorer. L'un et l'autre se regardaient. Les mots, issus d'un livre qui prenait une puissance mortelle, exerçaient sur le regard qui les touchait un attrait doux et paisible. Chacun d'eux, comme un œil à demi fermé, laissait entrer le regard trop vif qu'en d'autres circonstances il n'eût pas souffert […] Il se voyait avec plaisir dans cet œil qui le voyait. Son plaisir même devint très grand. Il devint si grand, si impitoyable qu'il le subit avec une sorte d'effroi et que, s'étant dressé, moment insupportable, sans recevoir de son interlocuteur un signe complice, il aperçut toute l'étrangeté qu'il y avait à être observé par un mot comme par un être vivant, et non seulement un mot, mais tous les mots qui se trouvaient dans ce mot, par tous ceux qui l'accompagnaient et qui à leur tour contenaient eux-mêmes d'autres mots, comme une suite d'anges s'ouvrant à l'infini jusqu'à l'œil absolu. D'un texte aussi bien défendu, loin de s'écarter, il mit toute sa force à vouloir se saisir, refusant obstinément de retirer son regard, croyant être encore un lecteur profond, quand déjà les mots s'emparaient de lui et commençaient de le lire.
Aus Thomas, l'obscur . Paris: Gallimard, 1950: 27–28. Anfang des 4. Teils.
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Maurice Blanchot, Thomas der Dunkle (Auszug)
Thomas blieb auf seinem Zimmer und las. Er sass mit vor der Stirn verschränkten Händen, die Daumen gegen die Haarwurzeln gedrückt, und so versunken, dass er keine Bewegung machte, als die Tür aufging. Wer eintrat und sah, dass sein Buch immer noch auf denselben Seiten geöffnet war, der dachte, er tue nur so, als lese er. Er las aber. Er las mit unüberbietbarer Genauigkeit und Aufmerksamkeit. Vor jedem Zeichen befand er sich in der Lage des Männchens, das von der Gottesanbeterin gleich verschlungen wird. Der eine wie das andere schauten sich an. Die Worte, die aus einem mit tödlicher Macht versehenen Buch stammten, übten eine milde und friedliche Anziehung auf den Blick aus, der sie berührte. Jedes Wort liess wie ein halbgeschlossenes Auge den allzu lebhaften Blick in sich ein, es hätte ihn unter anderen Umständen nicht geduldet. […] Mit Vergnügen sah er sich im Auge, das ihn sah. Sein Vergnügen wurde sogar beträchtlich grösser. Es wurde so gross und unbarmherzig, dass er sich ihm gewissermassen mit Schrecken unterwarf und sich, unerträglicher Augenblick, ohne von seinem Gegenüber ein Zeichen des Einvernehmens zu erhalten, aufrichtete und die ganze Seltsamkeit sah, die darin lag, von einem Wort wie von einem lebenden Wesen angeschaut zu werden, und nicht nur von einem Wort, sondern von allen Worten, die in diesem Wort steckten, von allen, die es begleiteten und wiederum in sich andere Worte enthielten, wie eine Reihe Engel, die sich unendlich weiter bis zum Auge des Absoluten fortsetzt. Von einem so gut verteidigten Text lief er bestimmt nicht weg, sondern legte seine ganze Kraft in den Willen, sich seiner zu bemächtigen, weigerte sich hartnäckig, seinen Blick abzuziehen, glaubte noch, er sei ein tiefer Leser, als bereits die Worte sich seiner bemächtigten und ihn zu lesen begannen.
Aus Thomas der Dunkle . Aus dem Französischen übersetzt von Jürg Laederach © Urs Engeler Editor, Basel/Weil am Rhein, 2007: 21–22. Anfang des 4. Teils.
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