Sie sind 1962 als junger Wissenschaftler nach Japan gegangen, um eine Stelle als Lektor an der International Christian University Tokyo anzutreten. Nach der Rückkehr in die Schweiz haben Sie mit dem Roman Im Sommer des Hasen drei Jahre später Ihr erstes Buch veröffentlicht. Warum Japan? Warum literarisches Schreiben?
Japan, da gab es eine frühe Prägung durch ein Kinderbuch, das meine Schwester Elsa Muschg in den Zwanzigerjahren erlebt und in den Dreissigerjahren verfasst hat. Es hiess Hansi und Ume und spielte einerseits in meinem und ihrem realen Elternhaus und anderseits im Elternhaus des kleinen halb japanischen Mädchens, das die Heldin des Buches war. Und dieses japanische Haus stand und steht immer noch in Kyoto. Also begann ich gewissermassen mit einer Ellipse, mit einem doppelten Mittelpunkt, einem schweizerischen und einem japanischen, einem realen, von Heimweh besetzten, und einem imaginären oder virtuellen, von Fernweh besetzten. Und dieses Muster hat sich dann merkwürdigerweise gehalten und einen Teil meiner Produktion bestimmt. In meinem ersten Roman Im Sommer des Hasen habe ich versucht, meine verschiedenen Reaktionen auf das exotische Japan kritisch zu behandeln und auf ein paar Stimmen zu verteilen. Soviel zu Japan. Und warum literarisches Schreiben? Ich habe von meinem Vater gelernt, einem pensionierten Primarlehrer, dass es zwei Dinge gibt im Leben, die man machen muss, Lehrer sein und Romane schreiben. Er hat das verteilt auf den Arbeitstag in der Schule und den Feierabend mit dem Pressspanheft am Wohnzimmertisch, und wenn er seine Lehrerhandschrift in die Schreibmaschine abgeschrieben hat, war das Klappern dieser Schreibmaschine mein Wiegenlied. Auf diese Weise bin ich Tag und Nacht eingeweiht worden in meine zwei Berufe.
Seit über vierzig Jahren sind Sie nun sowohl als Schriftsteller als auch als Wissenschaftler tätig. Sind sich die beiden Tätigkeiten nie in die Quere gekommen?
Das ist eine Frage, die merkwürdigerweise oft gestellt wird, offenbar in der Annahme, wer ein Buch als Philologe oder Germanist lese, der kenne sein Geheimnis, und wer ein Buch schreibe, dürfe von dem, was er schreibe, nicht allzu viel wissen. Ich glaube, beide Prämissen sind falsch. Ich habe in meinem Leben von bedeutenden Büchern auch verschiedene Versionen von Lektüre. Wenn ich ein Beispiel nennen darf: Die Wahlverwandtschaften von Goethe, die ich als 16-Jähriger gelesen habe, sind ein anderes Buch als diejenigen, die ich heute lese. Und was das Schreiben betrifft: eine der schönsten Erfahrungen beim Schreiben, eine der merkwürdigsten ist, dass man zwar zu wissen glaubt, was man tut, am Anfang, sonst finge man nicht an. Man braucht so etwas wie einen Horizont, auf den man zufährt, aber die Inseln an diesem Horizont sind meistens nicht diejenigen, bei denen man landet, und die Strömungen unterwegs tragen einen in völlig andere Gegenden. Im schlimmsten Fall hat der Ausgangspunkt mit dem Ziel nichts zu tun. Aber es kann auch der Glücksfall eintreten, dass einen unterwegs das gepackt hat, was gewissermassen die unterschwellige Kraft ist, die einen zum Schreiben und zu einem bestimmten Motiv treibt. Meine Lieblingsformulierung lautet, dass sich eigentlich die Stoffe ihre Autoren suchen und nicht die Autoren ihre Stoffe. Es gibt Dinge, die verlangen, erzählt zu werden. Und wenn du Glück hast, bist du der Richtige dafür, wenn du Pech hast, bist du der Richtige dafür, aber es war der falsche Tag, dann musst du am nächsten Tag wieder dran und schauen, ob es jetzt besser klappt zwischen euch. Etwas von dieser Struktur, die ich jetzt beschreibe, habe ich ein einziges Mal in meinem Leben versucht, auch als Erzählung selbst darzustellen, das war Der Rote Ritter . Die Frage ist am Anfang immer die falsche, und so kann die Antwort auch nicht anders als falsch sein. Aber weil die Frage offen ist, führt sie zu grösseren Fragen, und grössere Fragen führen zu dem, was man dann Lebenskunst nennen könnte.
Sie haben sich seit den Siebzigerjahren immer wieder, als Wissenschaftler und als Autor, mit Goethe und Gottfried Keller befasst und auf deren Aktualität hingewiesen. Was hat Sie gerade an diesen beiden Autoren fasziniert?
Bei Goethe kann ich bestimmt antworten, dass mein Doktorvater Emil Staiger, der Goethe-Forscher in meinem Germanistikstudium in Zürich, nichts damit zu tun hat. Goethe ist mir im Militärdienst, in der Rekrutenschule zum notwendigen Autor geworden. Es gab eine gebundene Ausgabe im Reclam-Verlag, die sich in jeden Tornister packen liess. Ich erinnere mich, es klingt ein bisschen melodramatisch im Rückblick, aber ich hätte die Rekrutenschule ohne dieses Büchlein nicht überlebt. Es war ein Geist aus der wahren Welt, den ich dazwischen einsaugen konnte. Dass Goethe dafür der Richtige war, habe ich ihm sozusagen nie vergessen. Es wäre mir mit keinem anderen Autor gelungen, weil es an ihm immer noch etwas zu rätseln gibt, seine Sprache geht nicht auf, und entsprechend auch die Antworten nicht. Das ist ganz sicher die Quelle meiner Liebe zu Goethe, die manifeste Quelle. Ja, und Gottfried Keller: ein guter Freund hat etwas maliziös bemerkt, meine Keller-Studie sei meine einzige Autobiografie
Wenn es so ist, dann habe ich ganz gewiss nichts davon gewusst, aber ebenso gewiss habe ich etwas davon gespürt beim Arbeiten. Es konnte ja nicht an mir vorbeigehen, dass Keller als Witwensohn, wie ich auch, aufgewachsen ist. Die Differenzen sind dann ebenso eklatant: Kellers Mutter hat sich wieder verheiratet, das ist mir nicht passiert. Dafür habe ich die Geschichte «Herr Hartmann» geschrieben, erschienen im Erzählband Der Turmhahn , wo dies geschieht, wo die Mutter auf dem Sterbebett die Kraft aufbringt, sich zu einer Liebesgeschichte zu bekennen, von der der Sohn nie etwas gewusst hat. Heute weiss ich, dass ich meiner Mutter eine solche Geschichte gewünscht hätte. Ebenso sicher ist, dass sie mich zu unserer gemeinsamen Lebenszeit genau so verbittert hätte wie den kleinen Gottfried Keller.
Goethe und Keller waren als Schriftsteller erfolgreicher als in ihrem öffentlichen Wirken für den Staat. Sie, Adolf Muschg, waren 197477 Mitglied Kommission Furgler für eine Totalrevision der Bundesverfassung, 1975 sozialdemokratischer Ständeratskandidat im Kanton Zürich und 1995 Mitglied der Projektgruppe für eine Stiftung Solidarische Schweiz auch das Unternehmungen ohne grossen, sichtbaren Erfolg. Wie beurteilen Sie aus der Rückschau diese Tätigkeiten?
Es klingt jetzt etwas hochmütig, ich meine es aber bescheiden: das war für mich Lehrstoff oder Lernstoff. In den Gremien, in denen ich mitwirkte, war ja nicht ausgemacht, dass am Schluss, im pragmatischen Sinn, nichts daraus würde, weder aus der Totalrevision der Bundesverfassung noch aus dem Solidaritätsprojekt. Aber dieser Misserfolg kümmert mich hinterher auch nicht. Ich habe eine Erfahrung gemacht, für die ich meinem Land ausserordentlich dankbar bin. Es war die Beteiligung oder auch Zulassung zu einem Diskurs auf der entscheidenden Ebene nationaler Selbstfindung.
Der Weg war also wichtiger als das Ziel?
Ja, aber so ist es, mit Verlaub, eigentlich mit allem, so ist es sogar mit der Regierungstätigkeit, die, wie es so schön heisst, Resultate zeitigt. Die Früchte sind gewöhnlich ganz andere, als diejenigen gemeint haben, die die Bäume gepflanzt haben.
Sie haben einmal gesagt, der Deutschschweizer sei «von Haus aus schweizerischer Staatsbürger und deutscher Kulturbürger», und haben in diesem Zusammenhang von einer «doppelten Loyalität» gesprochen. Welche Erfahrungen als «deutscher Kulturbürger» haben den «schweizerischen Staatsbürger» Adolf Muschg geprägt? Wie haben Sie diese «doppelte Loyalität» erlebt?
Vorweg ist zu bemerken, dass man in der französischen und italienischen Schweiz nie daran denken würde, die Frankophonie bzw. die Zugehörigkeit zum italienischen Kulturkreis zu verleugnen. Im Gegenteil: man ist stolz darauf. Der Sonderfall der deutschen Schweiz beschäftigt mich nachhaltig. Denn bedeutende Quellen unserer sogenannten Identität, von Gottfried Kellers Gedicht «O mein Heimatland» bis zur Bundesverfassung und dem Zivilgesetzbuch, sind hochdeutsch verfasst, und unsere Zeitungen sind immer noch hochdeutsch geschrieben. Dass das Hochdeutsche fast aufgehört hat, eine von Deutschschweizern gesprochene Sprache zu sein, ist ein Anzeichen dafür, dass man es nicht mehr als Teil der eigenen, unverlierbaren und kostbaren Erbschaft betrachtet. Wir können nicht den Weg Hollands gehen, das eine Weltmacht war und eine eigene Literatur hatte. Die Wahl zwischen Englisch und Schweizerdeutsch ist für mich eine Option für die kulturelle Provinzialität.
Welche persönlichen Kontakte über die Sprachgrenzen innerhalb der Schweiz waren und sind für Sie wichtig?
Für mich war es die Gruppe Olten, weil das ein kleiner Schriftstellerverband mit einem hohen Grad von Interaktion und Beteiligung war. Dort sind Roger-Louis Junod, Franck Jotterand oder Nicolas Bouvier zum ersten Mal wirkliche Kollegen geworden, übrigens bevor ich sie gelesen hatte. Und darauf habe ich sie gelesen, und das war eine sehr schöne Erfahrung. Orelli gehörte auch dazu, Giovanni Orelli, Giorgio habe ich später kennen gelernt. Wir hatten ein gemeinsames politisches Spektrum und haben uns dann, was ja wahrscheinlich der schweizerische Weg ist, auch literarisch angefangen zu respektieren.
Sie haben 1990 eine Sammlung kritischer politischer Betrachtungen unter dem Titel Die Schweiz am Ende, am Ende die Schweiz: Erinnerungen an mein Land vor 1991 veröffentlicht. Was hat sich Ihrer Meinung nach seither verändert, in der Schweiz, aber auch in Ihnen selber?
Es hat sich nicht weniger verändern können als in der ganzen übrigen Welt. Die erwähnten Texte waren ja fast alle noch vor der Wende geschrieben worden. Etwas pauschal ausgedrückt: in gewissem Sinne hat sich die Schweiz seither gewaltig entspannt. Wir sind in dieser Hinsicht ein bisschen in der Lage wie im vorletzten Jahrhundert Gottfried Keller im Roman Martin Salander , wo das Fazit lautet: «C'est chez nous comme partout». Dass sich angesichts dieser Annäherung an die globalen Verhältnisse jetzt eine nationale Opposition meldet die es ja schon damals gab, in der Gestalt Blochers ist kein schweizerisches Phänomen, auch keines, dem ich so monolithisch entgegentreten könnte wie damals. Ich verstehe, warum man Globalisierungsgegner sein kann, und ich verstehe, warum man den Ersatzkult des Nationalen pflegen kann. Ich verstehe, dass man etwas zu verteidigen hat, was mit Ort und Zeit der eigenen Geschichte zusammenhängt. Nur glaube ich, und das unterscheidet mich weiterhin von Blocher von damals, dass wir genau dieses Gefühl mit so vielen Menschen auf diesem Globus teilen, dass wir es nicht nötig haben, eine nationale Bewegung daraus zu machen. Wir hätten es sehr viel nötiger, kosmopolitisch zu werden. Kosmopoliten sind nicht Globalisierer, sondern es sind im Grunde bis ins Mark Föderalisten.
Viele Ihrer literarischen Texte werden im Titel oder im Untertitel ausdrücklich als «Liebesgeschichten» bezeichnet. Oft sind das Geschichten einer nach herkömmlichen Massstäben gescheiterten Liebe. Bedeutet Liebe immer auch eine Verletzung?
Liebe ist ein so merkwürdiges Phänomen, weil sie von den Beteiligten die alleranspruchsvollste Leistung verlangt, nämlich etwas anderes zu lieben als sich selbst. Wir müssen bereit sein, unsere Grenzen zu überschreiten. Die Ehe z.B. ist zwar das Errichten einer gemeinsamen Grenze, aber innerhalb dieser Grenze gibt es fast jeden Tag neue Grenzen auszuhandeln. Wenn man das nicht tut, dann erstarrt die Ehe und ist tot. Der Prozess, den wir Liebe nennen, läuft nicht ohne Konflikte ab, und Konflikte sind verletzend.
Ihr Opus magnum, der 1000-seitige Parzival-Roman Der Rote Ritter , ist ebenfalls ist eine Liebesgeschichte, zugleich die Geschichte einer Verletzung, einer Krankheit. Im richtigen Augenblick die richtige Frage zu stellen, das steht im Zentrum des Parzival- und Gralsgeschehens. Lässt sich das auch auf Ihr Leben und Schaffen übertragen, die richtige Frage zu stellen
statt die falsche Antwort zu geben. Wir sind antwortsbedürftig, wir suchen in ganz vielen Lebenssituationen klare Antworten. Das geht von der medizinischen Diagnose, wo wir sie nicht immer vertragen, bis zur Eheschliessung, wo wir sie verlangen und genau wissen, dass dieses Ja, auch wenn es fromme Brautleute abgeben und vor Gott sprechen, sie auch überfordert. Und damit sind wir beim Punkt: Wir kommen, wir wissen nicht woher. Wir gehen, wir wissen nicht wohin. Wir sind am Anfang und am Ende unseres Lebens weit offene Fragen, und es wäre merkwürdig, wenn dazwischen eine Strecke patenter Antworten wäre. Und wir sollten nicht so tun, als hätten wir immer Antworten auf diese Fragen.
Viele Ihrer Erzählungen und Romane weisen Merkmale des Kriminalromans auf, so auch Ihr 2005 erschienener Roman Eikan, du bist spät, den der Kritiker Heinz F. Schafroth als « Japan-Variante des Parzival-Stoffes» bezeichnet. Könnte man, überspitzt formuliert, die Suche nach der sogenannten Wahrheit im Kriminalroman als eine Art Gralssuche bezeichnen?
Ja, es ist gewissermassen eine elegante Trivialform der ganz fundamentalen Fragen. Natürlich gibt es Kriminalromane, die ganz einfach gestrickt sind: es gibt einen klaren Mörder, es gibt das Böse in der Welt, in irgendein paar Leuten verkörpert es sich, und wenn diese dingfest gemacht worden sind, haben wir die Lösung. Aber da unterscheiden sich die Lebensansprüche. Ich erlebe die Welt nicht so, und die Lösung wird dann für mich ersetzt durch die gute Frage. Als ich am Poly war, habe ich mich von meinen naturwissenschaftlichen Kollegen, jedenfalls von den rein empirischen oder rein pragmatischen, meistens dadurch unterschieden, dass ich gesagt habe: mit jeder Lösung, die ihr findet, werden die Fragen grösser, ihr eröffnet exponentiell neue Problemräume.
You are still confused, but on a higher level of confusion?
Ja, genau. Und heute würden die meisten Wissenschaftsphilosophen das zugeben.
Sie haben ein sehr grosses uvre geschaffen. Sie veröffentlichen regelmässig Bücher und Aufsätze, halten Vorträge, nehmen an Tagungen teil wie bewältigen Sie dieses grosse Arbeitspensum?
Die Rechnung bezahlen viele andere Tätigkeiten und leider auch die damit verbundenen Menschen, Freunde, Freundinnen, die bei dieser Kadenz auf der Strecke bleiben. Ich bemerke immer wieder, und im Alter mehr, dass ich eine geringe soziale Kultur habe. Ich vernachlässige meine besten Freunde, wenn mich ein Projekt gepackt hat. Die wunderbare Zeiteinteilung, die um grosse Namen zu nennen Goethe oder Thomas Mann hatten, geht mir vollkommen ab. Ich bin, wie mir meine Frau gelegentlich vorwirft der einzige Vorwurf, dem ich nichts entgegenzuhalten habe ein Einzelkind gewesen, und die sind an den Kokon gewöhnt und nicht an Gesellschaft.
Thomas Feitknecht (geboren 1943), Germanist, 19902005 erster Leiter des Schweizerischen Literaturarchvis (SLA) in der Schweizerischen Nationalbibliothek in Bern.
- In der Buchausgabe wird dieses Dossier durch einen unpublizierten oder unübersetzten Text vervollständigt.
- Auf www.culturactif.ch/viceversa finden Sie zahlreiche Autorendossiers des Jahrbuchs Viceversa.
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