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Ilma Rakusa
Von Alexandra Kedves

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   Reibungen


Hoch überm Zürichsee steht die Zeit still. In Schwarz und Weiss ruhn die Zimmer, und in ewigem Kreis drehn sich die Buchstaben, die André Thomkins einst auf jenen beigen Bogen tupfte, der später hier an der Wand sein Refugium fand. Japanische Rollos dämpfen das Licht der Sonne, in dem selbst Bücherberge und Manuskripthalden selig zu träumen scheinen: Wo die Autorin und Übersetzerin Ilma Rakusa daheim ist, nimmt sogar das Chaos gesittete Gestalt an. Nur wenn die Türglocke klingelt, zittert alles. «Seit zwanzig Jahren lebe ich in diesem Haus», sagt seine Herrin, die, schwarz in schwarz, am liebsten von seiner Architektur einverleibt würde, «und ich habe mir hier eine Freistatt geschaffen und einen Schlupfwinkel, Schutzraum zum Schreiben. Wirklich Fuss gefasst aber habe ich in Zürich nie.»

Was von draussen, von der Stadt her kommt, könnte stören, verstören. Im Flur lauert noch der Porzellanpanther, der jahrelang tapfer den Eingang zum Zimmer des Sohnes bewachte, der nun in Zürich studiert. Auch die vielen Bände und Bilder erzählen von freundlichen Schutzwällen, vom sicheren Angekommensein - aber Rakusa ahnt stets den Abschied. Immerhin, «die Bücher sind meine Freunde», sagt sie, keine ungebetenen Gäste in der Einsamkeit des Schaffens. Sie sind treue Begleiter, alphabetisch geordnet und vom Keller bis zum ersten Stock überall verteilt. «Ohne sie könnte ich nicht schreiben.» Und deshalb schreibt sie ernsthaft nur in ihrer Klause, ihrem «Geviert», wie sie es nennt, am Richard-Kissling-Weg 3. Es sind zwei Schreibtische und viele Bücher, die ausmachen, Ilma Rakusa Heimat nennt.

«Am liebsten schaue ich dabei nicht auf den See, sondern zum Nordfenster hinaus, auf das braungrüne Efeugestrüpp an der Mauer.» Denn dieses ist ruhiger und wilder zugleich. Der See ist zu schön, zu glatt, zu bevölkert. Und wenn Ilma Rakusa die Gelacktheit des Sees und seiner Stadt gar nicht mehr erträgt, fährt sie fort, weit fort - in ihre Wohnung im Osten Berlins. Oder noch östlicher, dorthin, wo sie im Januar 1946 geboren wurde - in die Slowakei. Oder in die Städte, die während ihrer Kindheit kurz ein Zuhause waren, bevor, noch zur Primarschulzeit, als sie sieben war, ihr Leben in Zürich begann - Budapest, Ljubljana, Triest. Dorthin, wo alles nicht perfekt funktioniert, das heisst: alles ausser das Gemüt, bekennt Ilma Rakusa fast ein wenig peinlich berührt; und ihre Stimme wird winzig klein ob so viel Pathos, so viel Patriotismus einer Heimatlosen. «Ein Sprung im Gehweg, eine Delle im Belag kann mich manchmal fast zu Tränen rühren.»

Nach den Sprüngen und Dellen in der Schale sucht die Schriftstellerin auch, wenn sie ihre Sprachwelten formt. «Starke Erlebnisse stehen bei mir am Anfang jedes Textes», beschreibt sie ihren leidenschaftlichen Zugang zur Kunst: Innen brodelt es, wenn diese stille Lyrikerin scheinbar unberührt durch halb Europa reist. Doch «ein wenig verschweizert bin ich mittlerweile schon», meint sie, auf ihre Zurückhaltung anspielend, welche die Tochter eines Slowenen und einer Ungarin auf ihren Wegen zwischen Triest und Budapest gerne über Bord würfe. In dem Prosaband, der jüngst erschien, «Durch Schnee», ist dieses Brodeln zu spüren. Wie in ihren meisten Arbeiten verpassen sich auch hier Mann und Frau, entflammen, erkalten, können zueinander nicht kommen. Und wie in den meisten Arbeiten von Ilma Rakusa stecken hinter den Beziehungsgeschichten zwischen den Protagonisten noch ganz andere Beziehungsgeschichten: die zwischen der Verfasserin und den Landschaften, durch die sie gezogen ist, Landschaften aus Bäumen und Beton und Landschaften aus Wörtern. Einmal führt sie, sozusagen unter der Haut des Textes, einen Dialog mit Dostojewski oder Strindberg, dann wieder hört man leise die Auseinandersetzung mit fremden Räumen. «Reibung» ist ein Leitmotiv in unserem Gespräch.

Reibung ist dauernd da, mit der Schweiz, mit der Stadt Zürich zum Beispiel, «die mich immer sehr gut behandelt hat, als Schriftstellerin und auch sonst; in der ich studiert, meinen Mann Felix Philipp Ingold kennen gelernt und mein Kind grossgezogen habe». Hier entstand der erste Gedichtband, «Wie Winter» (1977), die erste Erzählung, «Die Insel» (1982), mit der Ilma Rakusa zu ihrem Verlag, den Suhrkamp-Verlag, fand, für den sie nicht nur schreibt, sondern auch die Literaturszene im slawischen Raum und in Ungarn beobachtet. Hier schrieb sie ihre Erzählbände wie «Miramar» und «Stepp», ihre zahlreichen Gedichte, ihre poetologischen Beobachtungen wie «Farbband und Randfigur - Vorlesungen zur Poetik» oder «Zur Sprache gehen – Dresdner Chamisso Poetik-Vorlesungen» vom Dezember 2006; und nicht zuletzt ihre Literaturrezensionen.

Trotzdem muss Rakusa regelmässig weg, in vertraute Fremdheiten, wo der Wille zur Absicherung kleiner ist; wo die Speisekarte stimmt und die Seele baumeln kann. Zürich sei toll, aber das Kind, das die Autorin einmal war, hat für allezeit anderswo seine Wurzeln geschlagen. Rakusas nächstes Buch, das gerade entsteht, ist denn auch eine mosaikartige Rekonstruktion der Vergangenheit, Erinnerungen an das Licht in Triest, an die Gerüche von Budapest, die Klänge von Ljubljana. «Für einmal kein Beziehungsthema, sondern der Blick schweift zurück. Diesmal decken sich bei mir authentisch und autobiografisch.»

Der jüngste poetische Essay der Sechzigjährigen wiederum, «Langsamer! Gegen Atemlosigkeit, Akzeleration und andere Zumutungen», der 2005 publiziert wurde, ist ein kulturkritisches Mäandern über die Erscheinungen unsrer Zeit, zu der das Buchladensterben ebenso gehört wie die neue Bildbesessenheit von Printmedien. Die vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin – zu den Ehrungen gehören, unter anderem, der Adelbert-von-Chamisso-Preis 2003, die Kulturauszeichnung Pro Cultura Hungarica 2003, Johann-Jacob-Bodmer-Medaille der Stadt Zürich 2004 und die Mitgliedschaft in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt - wehrt sich gegen den Zwang zum Schnellen, der oft ein Zwang zum Schlampigen werde. Sie selbst jedenfalls tut das, was sie tut, ganz, ohne immer schon nach einem neuen Projekt zu schielen. Deshalb findet bei ihr nie beides gleichzeitig statt: literarisches Schreiben und Literaturübersetzen. Wenn die sensible und renommierte Übersetzerin (die aus dem Serbokroatischen, Russischen, Ungarischen und Französischen überträgt) sich in Marguerite Duras oder Danilo Kis versenkt, versenkt sie ihre eigene Stimme gleich mit. Daher hat sich Rakusa jetzt, da sie nach eigenen Wörtern für ihre eigene versunkene Welt tastet, eine Übersetzungspause verordnet. Bloss den Unterricht an der Universität erteilt sie weiterhin: «Der Kontakt mit den jungen Leuten ist inspirierend.»

Überhaupt: Ilma Rakusas Heim ist zwar ihre Burg. Ein Kerker jedoch ist es nicht. Jürg Laederach und Hanna Johansen zählen zu ihrem Netzwerk, ihr vor Jahrzehnten zusammen mit Gunhild Kübler ins Leben gerufener privater Literaturzirkel trifft sich bis heute einmal im Monat, und viele Souvenirs von Künstlern sprechen vom regen Austausch der Romanistin und Slawistin, die über das «Motiv der Einsamkeit in der russischen Literatur» promovierte. In Schwarz und Weiss ruht ihre Wohnung, ihr unruhiger Geist aber ist ständig in Bewegung; und sein Mund leuchtet rot. *

Diese Einleitung ist die leicht überarbeitete Fassung eines Textes, der am 28. Januar 2006 in der „Neuen Zürcher Zeitung“ erschien.

 

   Gespräch

– Ilma Rakusa, Sie sind eine Meisterin der kleinen Form, des Gedicht, der narrativen Impression. Gehen Sie mit Ihrem derzeit wachsenden autobiographischen Werk neue Wege?

– Ganz und gar nicht! Ich liebe die grossen Architekten der Literatur, Dostojewski beispielsweise mit seinen verschlungenen Geschichten, seinen riesigen Figurenarsenalen. Eine wunderbare Lektüre, aber nicht mein Stil. In meinem neuen Buch reihe ich kurze Vignetten aneinander. Es geht nicht um eine Chronologie der Ereignisse, sondern um eine Collage intensiver Augenblicke. So kann sich zum Beispiel über eine Erinnerung aus meiner Kindheit in Italien, an den Strand in Triest, die Erinnerung an einen Strand in Litauen schieben. Die Dinge schliessen sich kurz, und ich fokussiere auf solche Knotenpunkte. 32 Kurzkapitel stehen bereits, aber ich bin immer noch mittendrin. Es geht dabei keineswegs um Vollständigkeit, um eine wertfreie Dokumentation von Stationen. Sondern Verdichtung und Intensität sind die Leitplanken meines Schaffens. Erinnerung ist dynamisch, nicht museal erstarrt. Deshalb lautet der Untertitel des Buch, zumindest zur Zeit, Erinnerungspassagen .

– Im Wort <Passagen> (Typographie?) steckt der Bewegungsaspekt ebenso wie das Rituelle, der Moment der Geburt und Wiedergeburt.

– Und genau das gehört für mich zu einem guten Buch. In einem Wort gesagt: Ein gutes Buch leistet eine unverwechselbare Verdichtung. Es bringt eine unübertreffliche Parallelwelt hervor, schon im dritten Satz hört man den eigenen Ton. Auf knappstem Raum erfahre ich Neues über die Welt und über mich. Die Belles Lettres bieten mehr als schöne Worte: Sie schaffen Erkenntnisgewinn. Lektüre muss sich anfühlen wie eine Reise, eine Passage in ein unbekanntes Land.

– Mit wem reisen Sie durch solche Welten?

– Mit Friederike Mayröcker, zum Beispiel. Oder mit Peter Waterhouse, dessen Magnum Opus Krieg und Welt (Typographie!) ich gerade lese. Beides sind grossartige lyrische Talente mit einem epischen Atem! Das ist mir nie zuviel, im Gegenteil, wenn ich in solche fremden Kosmen eintauche, dann bin ich – ein grosses Wort, ich weiss – vollkommen glücklich.

– Eine regelrechte Jouissance, eine sinnliche Hingabe an den Text à la Roland Barthes?

– Manchmal sogar das. Bei Peter Sloterdijk etwa: Dieser Theoretiker und Essayist spielt so lustvoll und bisweilen auch selbstverliebt mit den Worten, dass der Inhalt manchmal gar keine mehr Rolle spielt. Und das Genre der Lyrik verlangt geradezu nach einer Form der Selbstaufgabe. Das Gedicht ist die fast älteste Form der gestalteten Sprache – es kommt gleich nach dem Gebet.

– Eine alte Form – mit Zukunft?

– Marktgängig wird Lyrik nie sein. Aber dass sie floriert – und wie! -, das erlebe ich unter anderem als Jurorin bei diversen Lyrikwettbewerben. So kommen aus dem Osten Deutschlands ganz junge, spannende Leute mit grossartigem Niveau. Eine eigenwillige lyrische Stimme hat auch Monika Rinck aus Rheinland-Pfalz. Was junge Literatur allgemein angeht, muss ich allerdings feststellen, dass die deutschsprachigen Autoren mich, pauschal gesprochen, weniger überzeugen als die aus dem Osten.

– Woran liegt das?

– Ich glaube, weil ihr Schreiben mit Leben gesättigt ist. Ihr Schreiben speist sich aus einer Existenz, die Not kennt – und es hat von dort her eine Notwendigkeit. Es ist nicht beliebig. Ich werde ja im Sommer noch einmal beim Literaturwettbewerb in Klagenfurt mittun, habe dort auch schon Schreibkurse gegeben - und dabei fiel mir auf, dass junge deutschsprachige Schreibende oft zu ihrem Stoff kommen, indem sie nach der Verkäuflichkeit fragen. Da gibt es Mord und Totschlag, marktgängige Versatzstücke. Aber oft spürt man, dass da nichts Zwingendes gestaltet wurde – und deshalb auch nicht zwingend ist. Im Osten dagegen fehlen oft die marketingtechnischen Nebengedanken. Ein Bartis, ein Dragoman schreibt ohne Kalkül. Mir scheint, die grosse Hoffnung für die westeuropäische Literatur liegt in den Werken der Migranten. In den Werken von Leuten, die etwas zu sagen haben. Denken Sie beispielsweise an Aglaia Veteranyi. Oder Saša Stanišic.

– Auch Ihr eigenes Schreiben ist ja Schnittstelle verschiedener Kulturen.

– Auf jeden Fall, und dies in verschiedenem Sinn. Da ist schon allein die Motivik, um die es in meinen Arbeiten immer wieder geht: Reisen, Sprachen, Verortung und Ortung des Selbst. Und da ist dieses gewisse <Andere>, <Fremde> (Typographie?). Ein Kritiker beschrieb einen meiner Texte einmal als slawische Erzählung in deutscher Sprache. Und es ist ja nicht nur ein gewisser Klang, eine Mentalität, die sich heraushören lässt, sondern ein ganzer kultureller Referenzrahmen. Da gibt es sozusagen einen Sickereffekt: Essentiell für meine Entwicklung sind die Bücher, die ich gelesen habe. Denn ich habe in ihnen gelebt. Beim Schreiben meiner autobiographischen Vignetten habe ich sehen können, wie wach die Erinnerung an so manches Lektüreerlebnis ist! Dagegen hängt über manchen Abschnitten in meinem <realen Leben> ein Schleier. Sie zogen vorbei und sind weg. Und das lasse ich in meinem Text auch zu. Da ist Raum für Aleatorisches, ein Abstecher in das Buch eines anderen genauso wie der Blick auf den Busch vor meinem Fenster.

– Schreiben als Kunst der Improvisation?

– Einerseits: Ja! Zumindest für mein Schreiben gilt, dass ich die essayistischen Schleifen liebe, das Mäandernde. Andererseits: Nein! Ich bin jemand, der ökonomisch vorgeht. Anders ginge es auch gar nicht bei den vielen unterschiedlichen Verpflichtungen. Und Arbeitsökonomie heisst, dass ich mir sehr genau überlege, was ich schreibe. Ich schreibe zwei bis drei Tage an einem Kurzkapitel von fünf Seiten, bis es stimmt. Aber danach gibt es kaum Korrekturen. Grössere Denkpausen gibt es zwischen den Kapiteln, in der Zeit der Vorüberlegung. Wenn ich aber schreibe, dann mit Disziplin und ohne Stockung.

– Typisch für Ihre so heranreifenden Texturen hingegen ist die Unterbrechung, der überraschende Cut.

– Das ist richtig: Meine Gewebe sind episodisch gestrickt. Und in den Episoden selbst lasse ich selten ein gelassenes Fliessen zu. Dafür bin ich – trotz meinem entschiedenen Plädoyer für die Langsamkeit und die Ruhe – einfach zu ungeduldig. Früher sass ich oft am Flügel und genoss es, vom langsamen zum schnellen Satz zu wechseln, eine andere Tonart, ein neues Tempo auszuprobieren ... Und so ist es bei meinen Texten auch. Eben noch in einer Beschreibung gefangen, schlüpfe ich schnell in einen Dialog oder füge ein Gedicht ein. Ich bin schnell gelangweilt, und dem Leser will ich keine Langeweile zumuten! Schliesslich haushalte auch ich sehr genau mit meiner Zeit. Grosse Romane etwa lese ich nur, wenn ich weiss, was der Autor kann. Lieber einen Sommer lang noch einmal Dostojewski in einer Neuübersetzung von Swetlana Geier geniessen als Zeit mit, pardon, Günter Grass vertun. Lieber – und trotz politischem Bauchweh – mich auf Peter Handkes Wälzer einlassen als mir von irgendwelchen Seichtigkeiten Lebenszeit rauben zu lassen!

– Verdichtung und rascher Rhythmus sind für Sie entscheidend. Trotzdem lässt sich beobachten, dass Ihre jüngeren Texte weniger hermetisch sind als die älteren. Warum?

– Die Schnitte finden oft nicht mehr mitten im Satz statt, das stimmt. Dadurch sind die Texte wohl etwas zugänglicher geworden. Ich bin weniger ungeduldig. Vielleicht ist es die Altersmilde? – Aber im Ernst, ich glaube, dass die Rede von der Hermetik oft nur eine Umschreibung für Faulheit ist, Faulheit zum Beispiel im Umgang mit Gedichten. Im Osten gilt die Lyrik noch als Königsdisziplin, und viele können einen ganzen Schatz an Gedichten auswendig. Gerne würde ich alle auffordern: Kaut ein Gedicht - dann wird sich so manche <Hermetik> (Typographie?) auflösen. Schmeckt den Wörtern nach! Lasst dem Gericht aus Wörtern die Zeit, seinen Gout zu entfalten!

 

- In der Buchausgabe wird dieses Dossier durch einen unpublizierten oder unübersetzten Text vervollständigt.
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