Hoch überm Zürichsee steht die Zeit still. In Schwarz und Weiss ruhn die Zimmer, und in ewigem Kreis drehn sich die Buchstaben, die André Thomkins einst auf jenen beigen Bogen tupfte, der später hier an der Wand sein Refugium fand. Japanische Rollos dämpfen das Licht der Sonne, in dem selbst Bücherberge und Manuskripthalden selig zu träumen scheinen: Wo die Autorin und Übersetzerin Ilma Rakusa daheim ist, nimmt sogar das Chaos gesittete Gestalt an. Nur wenn die Türglocke klingelt, zittert alles. «Seit zwanzig Jahren lebe ich in diesem Haus», sagt seine Herrin, die, schwarz in schwarz, am liebsten von seiner Architektur einverleibt würde, «und ich habe mir hier eine Freistatt geschaffen und einen Schlupfwinkel, Schutzraum zum Schreiben. Wirklich Fuss gefasst aber habe ich in Zürich nie.»
Was von draussen, von der Stadt her kommt, könnte stören, verstören. Im Flur lauert noch der Porzellanpanther, der jahrelang tapfer den Eingang zum Zimmer des Sohnes bewachte, der nun in Zürich studiert. Auch die vielen Bände und Bilder erzählen von freundlichen Schutzwällen, vom sicheren Angekommensein - aber Rakusa ahnt stets den Abschied. Immerhin, «die Bücher sind meine Freunde», sagt sie, keine ungebetenen Gäste in der Einsamkeit des Schaffens. Sie sind treue Begleiter, alphabetisch geordnet und vom Keller bis zum ersten Stock überall verteilt. «Ohne sie könnte ich nicht schreiben.» Und deshalb schreibt sie ernsthaft nur in ihrer Klause, ihrem «Geviert», wie sie es nennt, am Richard-Kissling-Weg 3. Es sind zwei Schreibtische und viele Bücher, die ausmachen, Ilma Rakusa Heimat nennt.
«Am liebsten schaue ich dabei nicht auf den See, sondern zum Nordfenster hinaus, auf das braungrüne Efeugestrüpp an der Mauer.» Denn dieses ist ruhiger und wilder zugleich. Der See ist zu schön, zu glatt, zu bevölkert. Und wenn Ilma Rakusa die Gelacktheit des Sees und seiner Stadt gar nicht mehr erträgt, fährt sie fort, weit fort - in ihre Wohnung im Osten Berlins. Oder noch östlicher, dorthin, wo sie im Januar 1946 geboren wurde - in die Slowakei. Oder in die Städte, die während ihrer Kindheit kurz ein Zuhause waren, bevor, noch zur Primarschulzeit, als sie sieben war, ihr Leben in Zürich begann - Budapest, Ljubljana, Triest. Dorthin, wo alles nicht perfekt funktioniert, das heisst: alles ausser das Gemüt, bekennt Ilma Rakusa fast ein wenig peinlich berührt; und ihre Stimme wird winzig klein ob so viel Pathos, so viel Patriotismus einer Heimatlosen. «Ein Sprung im Gehweg, eine Delle im Belag kann mich manchmal fast zu Tränen rühren.»
Nach den Sprüngen und Dellen in der Schale sucht die Schriftstellerin auch, wenn sie ihre Sprachwelten formt. «Starke Erlebnisse stehen bei mir am Anfang jedes Textes», beschreibt sie ihren leidenschaftlichen Zugang zur Kunst: Innen brodelt es, wenn diese stille Lyrikerin scheinbar unberührt durch halb Europa reist. Doch «ein wenig verschweizert bin ich mittlerweile schon», meint sie, auf ihre Zurückhaltung anspielend, welche die Tochter eines Slowenen und einer Ungarin auf ihren Wegen zwischen Triest und Budapest gerne über Bord würfe. In dem Prosaband, der jüngst erschien, «Durch Schnee», ist dieses Brodeln zu spüren. Wie in ihren meisten Arbeiten verpassen sich auch hier Mann und Frau, entflammen, erkalten, können zueinander nicht kommen. Und wie in den meisten Arbeiten von Ilma Rakusa stecken hinter den Beziehungsgeschichten zwischen den Protagonisten noch ganz andere Beziehungsgeschichten: die zwischen der Verfasserin und den Landschaften, durch die sie gezogen ist, Landschaften aus Bäumen und Beton und Landschaften aus Wörtern. Einmal führt sie, sozusagen unter der Haut des Textes, einen Dialog mit Dostojewski oder Strindberg, dann wieder hört man leise die Auseinandersetzung mit fremden Räumen. «Reibung» ist ein Leitmotiv in unserem Gespräch.
Reibung ist dauernd da, mit der Schweiz, mit der Stadt Zürich zum Beispiel, «die mich immer sehr gut behandelt hat, als Schriftstellerin und auch sonst; in der ich studiert, meinen Mann Felix Philipp Ingold kennen gelernt und mein Kind grossgezogen habe». Hier entstand der erste Gedichtband, «Wie Winter» (1977), die erste Erzählung, «Die Insel» (1982), mit der Ilma Rakusa zu ihrem Verlag, den Suhrkamp-Verlag, fand, für den sie nicht nur schreibt, sondern auch die Literaturszene im slawischen Raum und in Ungarn beobachtet. Hier schrieb sie ihre Erzählbände wie «Miramar» und «Stepp», ihre zahlreichen Gedichte, ihre poetologischen Beobachtungen wie «Farbband und Randfigur - Vorlesungen zur Poetik» oder «Zur Sprache gehen Dresdner Chamisso Poetik-Vorlesungen» vom Dezember 2006; und nicht zuletzt ihre Literaturrezensionen.
Trotzdem muss Rakusa regelmässig weg, in vertraute Fremdheiten, wo der Wille zur Absicherung kleiner ist; wo die Speisekarte stimmt und die Seele baumeln kann. Zürich sei toll, aber das Kind, das die Autorin einmal war, hat für allezeit anderswo seine Wurzeln geschlagen. Rakusas nächstes Buch, das gerade entsteht, ist denn auch eine mosaikartige Rekonstruktion der Vergangenheit, Erinnerungen an das Licht in Triest, an die Gerüche von Budapest, die Klänge von Ljubljana. «Für einmal kein Beziehungsthema, sondern der Blick schweift zurück. Diesmal decken sich bei mir authentisch und autobiografisch.»
Der jüngste poetische Essay der Sechzigjährigen wiederum, «Langsamer! Gegen Atemlosigkeit, Akzeleration und andere Zumutungen», der 2005 publiziert wurde, ist ein kulturkritisches Mäandern über die Erscheinungen unsrer Zeit, zu der das Buchladensterben ebenso gehört wie die neue Bildbesessenheit von Printmedien. Die vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin zu den Ehrungen gehören, unter anderem, der Adelbert-von-Chamisso-Preis 2003, die Kulturauszeichnung Pro Cultura Hungarica 2003, Johann-Jacob-Bodmer-Medaille der Stadt Zürich 2004 und die Mitgliedschaft in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt - wehrt sich gegen den Zwang zum Schnellen, der oft ein Zwang zum Schlampigen werde. Sie selbst jedenfalls tut das, was sie tut, ganz, ohne immer schon nach einem neuen Projekt zu schielen. Deshalb findet bei ihr nie beides gleichzeitig statt: literarisches Schreiben und Literaturübersetzen. Wenn die sensible und renommierte Übersetzerin (die aus dem Serbokroatischen, Russischen, Ungarischen und Französischen überträgt) sich in Marguerite Duras oder Danilo Kis versenkt, versenkt sie ihre eigene Stimme gleich mit. Daher hat sich Rakusa jetzt, da sie nach eigenen Wörtern für ihre eigene versunkene Welt tastet, eine Übersetzungspause verordnet. Bloss den Unterricht an der Universität erteilt sie weiterhin: «Der Kontakt mit den jungen Leuten ist inspirierend.»
Überhaupt: Ilma Rakusas Heim ist zwar ihre Burg. Ein Kerker jedoch ist es nicht. Jürg Laederach und Hanna Johansen zählen zu ihrem Netzwerk, ihr vor Jahrzehnten zusammen mit Gunhild Kübler ins Leben gerufener privater Literaturzirkel trifft sich bis heute einmal im Monat, und viele Souvenirs von Künstlern sprechen vom regen Austausch der Romanistin und Slawistin, die über das «Motiv der Einsamkeit in der russischen Literatur» promovierte. In Schwarz und Weiss ruht ihre Wohnung, ihr unruhiger Geist aber ist ständig in Bewegung; und sein Mund leuchtet rot. *
Diese Einleitung ist die leicht überarbeitete Fassung eines Textes, der am 28. Januar 2006 in der Neuen Zürcher Zeitung erschien.
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