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Armin Senser
Poetisch verfügbar. Zu den Gedichten Armin Sensers
Von Reto Sorg

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Großes Erwachen
(1999), Jahrhundert der Ruhe (2003), Kalte Kriege (2007) – die Titel der drei bisher vorliegenden Lyrikbände sprechen für sich: Mit pointiertem Zugriff werden grosse Themen verhandelt, deren ironische Brechung eine reflexive Distanz garantiert. Schon mit dem Erstling vermittelte Senser den verblüffenden Eindruck eines gestandenen Autors. Selbstbewusst und stilsicher erteilt er sich die Lizenz, grosse Themen mit grosser Freiheit zu behandeln. Eröffnet wird der Band vom Kapitel «Bibliothèque Nationale», in dem verstorbene Grössen (von Brodsky über Kant bis zu Beuys, Auden und Kavafis) gewürdigt werden. Diese Huldigung ist Programm: Wenn es hinter das Gedachte und Gemachte kein Zurück gibt, so stehen die Gedichte dafür, dass Literatur immer auch aus Literatur erwächst. «Wir wurden uns leider nie vorgestellt. / Jedoch Verse wie die Ihren hinterlassen, / wenn sie aufwachen, Spuren», lauten die Eingangsverse von «Brief an W. H. Auden». Mit dem Band hatte sich Senser auf einen Schlag in die Riege der massgeblichen deutschsprachigen Lyriker eingereiht. Er zählt mit zu jenen, welche die in den letzten Jahren zu verzeichnende Renaissance der Lyrik mitgeprägt haben.
Senser ist ein philosophischer Dichter, der die beiläufige Pointe liebt. Seine Gedanken und Bilder kommen wie im Plauderton daher, auf den zweiten Blick schräg, auf den dritten elegant. Man zögert, die eingestreuten Sentenzen als Weisheiten im klassischen Sinn zu nehmen. Zu zwingend entziehen sie sich einer Vereinnahmung, zu kalkuliert ist die Verstörung, die sie erzielen. Die Vergänglichkeit behandelnd, spricht das Gedicht «Ein ungewohnter Ort» davon, dass der «Raum im Unterschied zur Zeit dem Sapiens / einfach nicht zu nehmen [ist]: Auch Asche besteht aus Atomen.» Das ist Sensers Art, den Leser auf das zu stossen, ‹was bleibt›.
Man kann sagen, dass Senser das Dasein als anthropologisches Konstrukt begreift. Das poetologische Fazit lautet, dass das lyrische Ich das Leiden an der Existenz symbolisch repräsentiert. Damit bleibt die Dichtung bei ihrer klassischen Aufgabe, für deren Charakterisierung Senser sich der einschlägigen Topik bedient, die er allerdings sehr eigenwillig wendet. Das dem Dichten eingeschriebene Leiden zum Beispiel ist ihm ein Indiz, dass «jede Gesellschaft sich notgedrungen Märtyrer hält». Dieses Martyrium lädt ihm zufolge die Poesie mit symbolischer Energie auf und bindet sie ein in den philosophisch-theologischen Diskurs: «jedes Opfer speichert Energie, die früher oder später, / angezapft, Natur oder Kultur speisen wird, so daß, ein / Schluß, was ist, doch in der Metaphysik zu Hause ist», heisst es in «Ein ungewohnter Ort». So konvergieren Leben und Philosophie in der Dichtung; sie bildet die zuständige Meta-Instanz.
Sensers lyrisches Ich gleicht einer poetischen Linse, die Einfälle bricht, sie umschreibt und in ‹Denkbilder› verwandelt. Bei aller Vielfalt der Themen und Referenzen und bei aller ironischen Bandbreite der Assoziationen resultiert doch ein konsistenter Gesamteindruck. Im Grunde stoisch, könnte man Sensers Gestus als lyrische Integrität beschreiben. Er prüft jeden Einfall ‹allen Ernstes› an der Idee von Poesie. Im Dichter-Gedicht «Grand Hôtel des Bains» etwa sitzt das lyrische Ich «im Lehnstuhl (wie ein Leuchtturm für verirrte Motive)» und prüft die «Aussichten», die ein Dasein am Strand bietet. Um zu erkennen, muss es – gleich einem antiken Seher – ‹blind› sein:

[…]

Die Augen geschlossen, versehen dich deine Lauscher sogleich
mit einem überfüllten Badestrand oder: einer gänzlich
fremden Küste mit Myriaden von Pinguinen, denn, was dir

diese Stimmbänder ins Gesicht fächeln, ist kühles, kaltes
Geschnatter. Ein Vorteil mag sein, Kälte konserviert;
ein Nachteil: sie tut das ohne ein Wenn und Aber, was

die Zukunft des Planeten erahnen läßt und Fettpolster
zum besten Mittel macht, um zukünftige Zuneigungen
aller Art zumindest klimatisch warmherzig zu ertragen.

[…]

Die poetische Verwandlung macht das Gewöhnliche sprechend und öffnet dem lyrischen Ich die Augen. Die Rede von der «Zukunft des Planeten» indes ist ‹nichts sagend›. Es ist weder prophetisch gesprochen noch utopisch gedacht, wenn die Dichtung sich über das alltägliche «Geschnatter» erhebt und verkündet, die Zumutungen der Zukunft – ihre «Zuneigungen» – gelte es «zu ertragen».
Einen utopischen Aspekt allerdings gibt es in diesem Gedicht. Es ist die künftige Wirkung der Dichtung. Entlarvt wird dabei nicht die Zukunft, sondern – dialektisch im Rückblick – der Dichter. Erst wenn er nicht mehr ist und sein Werk als Ganzes vorliegt, kommt er zum Vorschein: «Heute kannst du getrost herumlaufen, erkennen tut / man dich erst, hast du ausgesprochen.»
Das ist einer der zentralen Fluchtpunkte, der Sensers bisheriges Werk kennzeichnet: die Apotheose des poetischen Augenblicks, dem gleichsam eine ‹erweckende› Funktion zukommt. In keinem Gedicht geschieht dies grossartiger als im Langgedicht «Großes Erwachen», das dem Erstling den Titel gab. Der Text ist eine einzige Beschwörung des Erwachens, das vom lyrischen Ich ausgeht und sich über den ganzen Erdkreis erstreckt. Nachdem ‹alles› erwacht ist – «Rom» und «Babel», «Gesang und Lieder», «Bibliotheken» und alle «Philosophen», das «Du», die «Planeten», «Vietnam», der «Golf», die «Börsianer», die «Elementarteilchen», auch «Gott», die «Verdauung» und «Namenloses» –, herrscht der absolute Ausnahmezustand:

Alles ist da, erwacht, du und ich. Er, sie und
es. Um uns herum, um Dinge und Menschen
steht das Erwachen, greifbar, sicht- und fühlbar
nah. Vom großen Erwachen erfasst auch
das Warten, daß der Augenblick ewig schien.
Ewig erwacht, alles, denn es ist der Jüngste Tag.

Hier erscheint der poetische Augenblick nicht länger als der punktuelle Einfall, der das Ich dem Dasein urplötzlich enthebt, um es verwandelt wieder zu entlassen, sondern als zeitloser Raum, der ‹alles› umspannt. Gründend im erwachenden «Ich», blendet diese poetische Erweckung die Zukunft aus und holt sie in die Gegenwart. Sie bewirkt keine Metamorphose. Was sie vermittelt, ist spätmodernes Selbstbewusstsein. Sensers lyrisches Ich erlebt die Gegenwärtigkeit des Seienden als potenzielle Verfügbarkeit von allem, was der Fall ist. Damit suggeriert er, alles sei da. Die Vorstellung einer punktuellen magischen Präsenz von allem und jedem in ferner Zukunft wandelt sich zum modernen Bewusstsein der Verfügbarkeit der Dinge und Menschen im Hier und Jetzt der realen Gegenwart. Alltag und Jüngster Tag konvergieren in der Gegenwart, die die Dichtung ins Bewusstsein hebt.

 

  «Es gibt keine Gespräche.» Armin Senser im Gespräch

Woran arbeiten Sie zurzeit?

Ich arbeite an Versen, an einem kleinen Epos über Shakespeare.

Sie kommen eben von einem längeren Aufenthalt in London nach Berlin zurück, wo Sie seit vielen Jahren leben. Nahm diese Zeit unmittelbaren Einfluss auf Ihr Arbeiten?

Natürlich. Jede Umgebung nimmt Einfluss. Gedichte schreiben heisst ja, Zeugnis ablegen. Aber dieses Zeugnis ist keine Abbildung der Wirklichkeit. Sondern vielmehr ihre Beseelung. Das heisst: Du versuchst dich den Dingen einzuprägen. Dinge dagegen, die sich dir einprägen, folgen der Propaganda der Welt, die besagt, dass sie auch ohne dich auskommt. Wenn du demnach die Augen schliesst und an London denkst, siehst du den Big Ben, den Buckingham Palace etc. – und ich, ich sehe Whitechapel mit seinen pakistanisch-bengalischen Schleiern und Bärten: Klischees – nicht. Propaganda eben.

Wie fühlt sich ein deutschsprachiger Dichter im angelsächsischen Raum?

Sehr wohl. Ich liebe die angelsächsische Literatur. Im gleichnamigen geografischen Raum fühle ich mich dagegen total fehl am Platz. Nicht zuletzt der Sprache wegen. Obwohl ich das Englische liebe, existiert es nicht auf der Strasse. Das Englische ist eine literarische Erfindung.

Sie gelten als Lyriker par excellence. Schreiben Sie auch anderes?

Nein. Ich bin ausserstande, in fortlaufender Rede zu schreiben. Das hat sicher auch mit meiner Unfähigkeit zu tun, etwas zu erfinden. Poesie ist, wenn man die Wahrheit sagt. Prosa dagegen, wenn man etwas vorgibt.

Vor kurzem erschien Ihr dritter Gedichtband «Kalte Kriege». Der Titel tönt politisch. Worauf spielt er an?

Auf den Singular: den kalten Krieg. Aber das geht als Titel nicht. In der Pluralversion wird er seiner historischen Lage beraubt und auch für zwischenmenschliche Phänomene nutzbar. Sozusagen in der banalen Version von: «mit diesem Freund spreche ich nicht mehr …»

Ihre Gedichte sind aber alles andere als eine Gesprächsverweigerung. Nicht nur die Liebesgedichte, auch die poetischen ‹Gespräche› mit anderen Dichtern – das Spektrum des neuen Bandes reicht von Horaz bis zu Dürrenmatt – kann man als Auseinandersetzung mit dem ‹Anderen› lesen.

Nein. Es gibt keine Gespräche. Im Grunde gibt es nur zwei Arten von Dichtung. Diejenige, die Gegenstände hat und diejenige, die Gegenstand ist. Erstere, die ich mache, versucht, wie im Falle Dürrenmatts, zu klären, was passiert, wenn man ein Porträt eines Schriftstellers betrachtet, seine Fotografie.

Dürrenmatt als ‹Ikone›? Im Gedicht spielen Sie auch auf das monumentale Centre Dürrenmatt in Neuchâtel an, das als Versuch erscheint, dem Dichter ein «Denkmal» setzen zu wollen.

Vielleicht. Aber es geht um etwas anderes: um die Art der Konservierung. Eine Fotografie hält zwar auch etwas oder jemanden fest. Sie ist aber, im Gegensatz zu einem Museum, selbst Kunst. Das ist der Unterschied. Darüber hinaus ist ein Schriftsteller kein Mensch der Tat wie ein Politiker. Er ist ein Macher. Er macht Literatur. Sein Leben ist völlig irrelevant für das Verständnis seiner Werke. Und nur das Leben kann man ja ausstellen.

In Ihrem Werk nehmen Sie nicht nur auf Schriftsteller explizit Bezug, sondern auch auf bildende Künstler wie Beuys oder Vallotton. Ist es für Sie da von Interesse, dass Dürrenmatt auch Zeichner und Maler war?

Nein, nicht als ich das Gedicht geschrieben habe. Die bildende Kunst, als nicht-semantische Kunst, muss keinen Sinn machen wie die Literatur. Eine Tatsache, die es nicht nur erlaubt, sondern geradezu verlangt, dass man sich äussert. Sprache ist deshalb ein unverzichtbarer Teil von Kunst. Ohne sie hätte Kunst keine Bedeutung.

Dürrenmatt war auch Lyriker …

Es gibt nur wenige Prosaautoren, die später auch gute Lyriker geworden sind. Da macht Dürrenmatt keine Ausnahme: «Was zum Teufel soll ich mit diesem Land anfangen?» – «Der Himmel ist sonst überall unendlich, / und die Erde / breitet sich überall ohne Grenzen aus.» – «Dieses Land ist ein Scheißland.» – Das ist schlecht. Aber es ist wahrhaftig. Was Dürrenmatt geleistet hat, ist eine verkorkste, umständliche Sprache, die einen an van Gogh erinnert. Diese Sprache der Kriminalromane hat er aber nicht in seine Lyrik gerettet. Er war als Prosaautor der bessere Lyriker.

Dürrenmatt ist das, was man einen grossen Namen nennt. Auch ihre Anfänge als Lyriker sind mit grossen Namen verbunden. Das Eröffnungskapitel Ihres Erstlings Großes Erwachen (1999) trägt den Titel «Bibliothèque Nationale» und versammelt Gedichte wie «Zum Gedenken an Joseph Brodsky», «In memoriam Eugenio Montale», «Kant», «Edward Hopper», «Joseph Beuys» oder «Brief an W. H. Auden».

Namen haben keine Bedeutung. Worum es geht, ist seinen Platz zwischen Vorläufern und Nachfahren einzunehmen. Woher man kommt, bestimmt sich ja nicht nur durch einen geografischen Ort, sondern vor allem durch dein Gedächtnis. Wo du in Gedanken bist, dort ist zumindest ein Teil deiner Menschlichkeit. Und meine Gedanken kreisen um diese Herren, Damen und Ideen, die unser kulturelles Erbe sind. Diesem Erbe ein Heute und Jetzt zu geben, heisst auch, seinen Platz einnehmen.

Ins Auge springt, wenigstens in unserem Zusammenhang, Kant. Er steht ja hier weniger als Liebhaber der Lyrik, der er auch gewesen ist – er verehrte die moralischen Lehrgedichte Albrecht von Hallers –, sondern als Denker. Wie stellt sich ihr poetisches Schreiben zur Philosophie?

Es ist die Behauptung, dass Poesie eine Form der Erkenntnis ist. Schliesslich ist die Vernunft eine ihrer Verehrerinnen. Und erinnern wir uns an Parmenides' Gedicht über das Sein aus dem frühen 5. Jahrhundert v. Chr. dann gibt es auch keine Trennung von Poesie und Philosophie. Dasselbe gilt für Ovids Werk, die Liebeskunst zum Beispiel, oder Kafavis', Audens oder eben Hallers Gedichte in der Neuzeit. Die Unterscheidung von Poesie und Philosophie ist eine künstliche, eine Folge eines reduzierten akademischen Selbstverständnisses, das Philosophie als Interpretation betreibt und Sekundärliteratur produziert. Wie auch immer. Gedichte sind philosophische Primärtexte wie Kants Kritiken oder Wittgensteins «Tractatus».

Es gibt andererseits die Tradition, die Differenz zwischen Literatur und Philosophie einerseits und den Naturwissenschaften andererseits zum Thema zu machen. Autoren wie Raoul Schrott zum Beispiel – oder vor ihm Dürrenmatt – suchen die Nähe zu den Naturwissenschaften und deren Autorität in Sachen ‹Erkenntnis›.

Wohin führt Naturwissenschaft? Einerseits zu Spekulationen über den Ursprung allen Seins, die uns nun wirklich nicht von Parmenides oder Heraklit entfernen. Andererseits zu technischen Errungenschaften, die einen grossen Einfluss auf das Leben der Menschen haben. D.h., sie kann zur Klärung dieses Lebens im technischen Zeitalter nichts beifügen ausser einen schnelleren Zugriff auf Festplatten. Wenn sich die Literatur als Naturwissenschaft begreifen will, ist das absurd.

Spielt dabei vielleicht die Selbsteinschätzung eine Rolle, die Literatur umschwärme die ‹hard sciences›, weil sie in einer Legitimationskrise zu stecken glaubt?

Was weiss ich. Sicher ist es traurig, dass die Gesellschaft glaubt, allein von Brot leben zu können, und dass sie glaubt, das Geistige müsse nach dem Sattwerden kommen. Die Folge hiervon: Dichter und Schriftsteller haben absolut keinen sozialen Status mehr. Die Rolle, die sie noch spielen können, ist diejenige eines Stars, wenn sie ökonomisch erfolgreich sind. D.h., die Gesellschaft wird freiwillig sprachlos. Und der Dichter fühlt sich minderwertig. Ist letzteres für ihn schon zu etwas Natürlichem geworden, dann wird ersteres, die Sprachlosigkeit, für die Menschen genau zum selben Resultat führen – mit der Einschränkung, dass der Dichter seine Minderwertigkeit einer wertvollen Fähigkeit verdankt, die natürlich den anderen fehlt.

Sie sind ein Dichter, der wie kaum ein anderer die Tradition kennt. Ist die Tatsache, dass Autoren heute immer mehr den Versuchungen des Starrummels und dem Druck, sich vermeintlichen Leitdisziplinen (wie den Naturwissenschaften) anzunähern, ausgesetzt sehen, nicht ein Phänomen, das vor allem die Verfasser von Romanen betrifft? Kann sich da die Lyrik nicht ihre spezifische Freiheit herausnehmen?

Es ist nicht erstaunlich, dass heute Literatur mit dem Roman gleichgesetzt wird. Mit einem im Grunde jungen, pubertären Genre. Schliesslich bildet die Prosa die uns allen eigene Fähigkeit zur fortlaufenden Rede ab. Das hat was Solidarisches. Und Solidarität ist selbstwertsteigernd. Sozusagen nach dem Motto, das kann ich auch. Aber man sollte nicht vergessen, dass die Versuchung, Schreiben und Erfolg gleichzusetzen, nur den Willen bestimmt. Das Werk bestimmt sich noch immer durch Talent. Dass heisst, es ist eine moralische Kategorie, die hier nicht erst seit Kant ins Spiel kommt. Und keine ästhetische. Wenn wir den 11.-September-Roman schreiben wollen, bewegen wir uns nicht auf der ästhetischen Ebene der Literatur, sondern wursteln in unseren Wünschen herum. Das Kalkül, Aktualität verspricht Erfolg zum Beispiel oder ‹Sex sells›, wird dann als ästhetisch, literarisch notwendig vor das eigene Talent geschoben. Erstaunlich ist hier der scheinbar unverwüstliche Glaube, dass Erfolg kalkulierbar ist. Erstaunlich ist darüber hinaus, dass der Roman etwas Einfaches zu sein scheint. Dabei unterliegt gerade dieses Genre den grössten Einschränkungen. Nicht so sehr in inhaltlicher, sondern vor allem in formaler Hinsicht.

Verfügt denn die ‹gebundene Rede›, als welche die Lyrik ja gilt, über mehr Freiheiten?

Sie ist nicht Transport von Inhalt. D.h. nicht, dass der Inhalt wegfällt oder im Raum bleibt und nicht auf dem Blatt steht – wie das heutigen assoziativ arbeitenden Dichtern häufig passiert. Der Inhalt verliert nur seinen Darstellungszwang. Damit ein Roman zum Beispiel als Kriminalroman erkennbar ist, muss er dieses oder jenes Kriterium erfüllen, ein Verbrechen, eine Leiche einführen etc. Hier beginnt jedoch erst das Problem. Und das Problem ist das Klischee. Mit anderen Worten die Wiederholung des Bekannten. Wie erzähle ich derartig notwendige Dinge in einem Roman, damit sie die Welt nicht einfach abbilden. Denn ihre Abbildung ist eine Wiederholung. Und in diesem Sinne keine Kunst. Was viele Werke der Literatur einfach nicht notwendig macht.

Ihre Gedichte zeugen von einer intensiven Lektüre, die sich neben der klassischen Moderne vor allem auch auf die antiken Autoren erstreckt. Was lesen Sie denn zurzeit?

Ich bin ein Wiederholungstäter und Ausbeuter. Was ich lese, verwerte ich. Die Verwertung kann ein Zustand sein, den ich wie Kaffee brauche, um schreiben zu können. Andere brauchen Zugsabteile, eine Kneipe. Ich brauche die Gedichte von Auden, Kavafis oder Brodsky, um Vertrauen zu schöpfen. Ich lese keine Romane, ausser Klassiker. Und vor dem Einschlafen etwas Philosophie oder Essays. Gerade habe ich von einem gewissen Fenton die Essays gelesen. Vor allem die Sachen über Auden.

Die Literatur als Verwertungskette!

Die Ausbeutung beschränkt sich natürlich nicht auf die Literatur. Man plündert alles aus. Ob Bürgerkriege oder Katastrophen. Die Literatur ist ein Bandwurm. Ein, was ihre Stoffe anbelangt, amoralischer Heiliger. Ein Widerspruch. Hat in diesem Sinne nicht Adolf Muschg geäussert: «Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt»

Ihre Lyrik zeichnet sich durch eine einzigartige Mischung aus geregelten Massen und anarchischen Momenten aus. Sie wirkt teilweise erhaben und komisch zugleich, eine Mischung, die Ihnen kaum jemand nachmacht. Wie ist es als Lyriker; hat man da ein Bewusstsein für das eigene Vermögen?

O, man versucht nur, sich nicht zu wiederholen. Und wenn man dies versucht, ist man niemals sicher, ob die Sachen, die man macht, überhaupt von Wert sind. Es ist, als hätte man nie irgendein Gedicht verfasst, als sei einem kein einziger Vers gelungen. Und dann fängt man an. Sucht eine Form, an der man sich festhalten kann. Die Form ist alles, was man hat. Wie mache ich die Sache. Später wird, um nicht zu verzweifeln, aus dem Gedicht ein unpersönlicher Gegenstand, damit er einer logischen und ästhetischen Prüfung unterzogen werden kann. Nach einen geschriebenen Gedicht, weiss man nicht, ob man jemals wieder eines verfassen wird und weiss nicht, was es heisst, ein Dichter zu sein.

Man sagt der Poesie nach, sie stamme von den fahrenden Sängern ab, habe mit Musik zu tun. Heute haben Dichter zum Vortrag eigener Text ein gespaltenes Verhältnis. Man geht gern zum Publikum, muss zum Betrieb aber auch Distanz halten. Bedeutet der Vortrag von Lyrik heute noch etwas?

Lesungen haben ihre Bedeutung, weil keine Nachfrage nach Poesie besteht. Dabei geht es – wie das klingt – um den Abbau von Vorurteilen. Wo die Schulen versagt haben und weiterhin versagen, muss der Dichter die Poesie sozusagen unter die Haut gehen lassen, d.h. auch ins Hirn. Denn dort liegen die Vorbehalte gegenüber dieser ältesten Form menschlichen Ausdrucks. Das Nichtverstehen und die damit scheinbar einhergehende Langeweile ist ein von der Bildung zementiertes Klischee. Und Lesungen sind der Ort, wo über das Erlebnis einer Stimme eine Korrektur dieser Haltung versucht, wenn nicht ein bleibender Eindruck hinterlassen werden kann.

Eine heikle Frage, ich weiss: Gehen Sie selber zu Lesungen anderer?

Nun, ich höre viele Dichter. Das ergibt sich durch gemeinsame Lesungen. Darüber hinaus geniesst man die Freunde und geht zu diesem oder jenem, den man sich anhören will. Aber dieser oder jener sind selten.

Das Gespräch, das wir hier führen, wird ins Französische übersetzt, auch eine Auswahl Ihrer Gedichte. Was bedeutet Ihnen diese besondere Art der Interpretation?

Ich glaube nicht, dass das Übersetzen eine Form der Interpretation ist. Was es ist, weiss ich nicht. Vielleicht ist es eine Einmischung. In erster Linie macht es die Poesie verfügbar. Und man freut sich, irgendwo in einer anderen Sprache zu existieren. Eine Freude, die jedoch weniger genährt wird durch die eigene internationale Präsenz, als vielmehr durch die Vorstellung, dass nur dein Geist existiert … Das Übersetzen sagt dir gleichsam: Es gibt ein Nachleben, oder anders gesagt: letum non omnia finit.

Reto Sorg ist Assistenzprofessor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Lausanne, Geschäftsführer der Robert Walser-Stiftung Zürich und Partner von SorgConsulting

- In der Buchausgabe wird dieses Dossier durch einen unpublizierten oder unübersetzten Text vervollständigt.
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- Armin Sensers finden Sie auf den Autorenseiten von culturactif.ch

 

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