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Bergendes Dunkel
Ich sehe auf die riesigen schwarzen
Schuhe des Vaters. Er winkelt sie leicht an, um im Abteil
nicht zu viel Platz zu versperren. Diese Relikte aus dem Militärdienst
sind von solcher lederner Wucht, dass ich einen Begriff von
der Last des Erwachsenseins kriege, wenn ich sie im Gartenschuppen
je links-rechts in Händen wiege. Hier aber, an des Vaters
Füssen im Zug, tun sie, was sie seit jeher tun: Sie zeigen
den Beginn der Sommerferien an, sie künden von Gipfelluft
und Wanderwetter.
Das SBB-Grün der Siebzigerjahre, das Kaisergelb des Segeltuchrucksacks,
das baumwoll-rohe Khaki des väterlichen Hemds, in dem
er manchmal bildhaft von historischen Wüstenschlachten
erzählt - diese gesamte militärisch grundierte Farbenlehre
ist untrennbar mit den familiären Sommerurlauben verbunden.
Sie beginnen stets im Bahnhof von Aarau, einer ferrovialen
Vorzugslage zwischen Basel und Zürich, übertroffen
nur noch von Olten, dem eisenbahnerischen Zentralgestirn.
Militärdienst und Wanderei, diese beiden Kernbereiche
der Vaterwelt werden bald schon enggeführt sein, wenn
wir im Innern der Massive unserem Ziel entgegendonnern, dem
Puschlav - dann also, wenn sich der Zug in meinem Kopf dem
Réduit nähert, jenen fabulösen
Festungsbunkern, die aus dem Alpenfels gehauen sind. In ihren
dunklen Bäuchen, denke ich, am Grenzpunkt zwischen bekannter
und unbekannter Welt, müssen die Frontkämpfer der
Heimatliebe auf ihren Einsatz warten.
Mit dem Begriff des Réduit untrennbar verbunden
ist dem Knaben die Vorstellung, dass am andern Ende der grossen
Tunnel das Ausland liegt, mehr noch: das Ende der Welt. Wenn
die frühen Geografen glaubten, am Rand der Erdscheibe
müsse das Meerwasser ins Leere stürzen, so denkt
sich der Knabe jenseits der Berge ein Entfallen all dessen,
worauf er baut. Ein Anbrechen ganz neuer Verhältnisse
sieht er kommen, wo das Dunkel des Tunnels sich öffnet
in eine noch unbeschriebene Welt - nie gesehene Farben, andersartige
Tiere, nicht endende Horizonte von schwarzem Schnee...
Noch steht der Zug aber im Aarauer Bahnhof unter einer sekündlich
vorrückenden Uhr, die kostbare Ferienzeit zerrinnen lässt,
und ich rutsche erwartungsfroh auf dem Bezug meines Zweitklassitzes
herum. Die Dramaturgie der kommenden Reise kenne ich längst
auswendig - am Walensee wird sie eine erste Zuspitzung erfahren,
den Höhepunkt aber erreicht sie erst, wenn es unter die
Erde geht.
Ein Zauberwort in diesem Zusammenhang lautet Landwasser-Viadukt.
Als Objekt weltweiter Bewunderung ist es ein sicherer Wert
der schulischen Heimatkunde, die Nationalstolz und Ehrfurcht
vor der Natur lehren will. Doch einmal im Jahr verspricht
das Viadukt dem Jungen, der mit seiner Bahnerfahrung in den
autoverrückten Siebzigerjahren bereits am Rande steht,
ein konkretes Schienenerlebnis. Hier wird man nämlich,
aus dem finsteren Berg kommend, direkt in die Luft katapultiert,
während tief unten ein Bergbach seinen Weg durch die
Schlucht zieht und der Blick, noch trunken vom jähen
Licht, den scheinbar endlosen Brückenpfeilern in die
Tiefe folgt - Beine eines steinernen Überwesens, das
mit dem Zug auf seinem Rücken südwärts zieht.
Doch der eigentliche Wendepunkt der jährlichen Reise
steht hier noch aus. Bis dahin gilt es, in klammen Kehren
den Fels zu durchkurven. Auch dieses Erlebnis hört auf
einen klingenden Namen der Schienenkunde: Kehrtunnel.
Ein krauser Begriff für den Knaben, dem gerade die Umkehr
im Stollen das Undenkbarste ist. Nur das gradlinige, schnellstmögliche
Durcheilen der Schwärze kommt ihm erträglich vor.
Doch das Wort Kehrtunnel meint wohl, dass der
Zug es sich im Gestein gemütlich macht, dass er Graniteingeweide
durchfährt, Hirnwindungen des Berges - dass er so lange
Schlaufen durch den Fels zieht, bis aller Ordnungssinn entschwunden
ist.
Um etwas Übersicht zurückzugewinnen, will ich von
aussen betrachten, wie dieses Eisending, in dem wir sitzen,
als ungelenker Aal den Berg durchrattert, das Dörflein
mal auf der linken, mal auf der rechten Zugsseite erscheinen
lassend. Ich stelle mir den Weg bergauf als Darmverschlingung
eines Riesen vor: Unsere Aufgabe ist es, nach oben zum Mund
zu finden, der sich für uns öffnen, uns ausspucken
wird...
Doch jedes weitere Eintauchen in bergendes Dunkel wirft einen
neuen Schatten der Beklemmung über mich. Die Furcht,
die meine Hand nach derjenigen des Vaters tasten lässt,
rührt von einer wiederkehrenden Erfahrung her: Ich liege
abends im Bett und spüre, wie die mütterliche Hand,
die über meinem Gesicht ruhig die Decke zurechtzieht,
meinen Geist hinüber ins Traumreich führt. So früh
und schnell sinke ich hinab, dass ich kaum bemerke, wie die
Mutter den Raum verlässt. Nun aber kann es geschehen,
dass ich, kaum ist sie entschwunden, unzeitig aus dem frühen
Schlaf erwache. Benommen liege ich da, annehmend, dass es
Morgen sei. Dann aber zeigt ein Blick zur Uhr, dass noch kaum
eine halbe Stunde verstrichen ist, seit die Beschützerin
gegangen ist - dass also die Nacht in fast voller Länge
noch vor mir liegt. Nun kommt mir diese Dunkelstrecke unermesslich
vor. Ohne den Beistand des Schlafs werde ich sie kaum überstehen.
Der Hals wird mir eng, an Nachtruhe ist nicht mehr zu denken,
schon nach Minuten hat die Angst meinen Stolz bewungen, und
ich suche das Zimmer der Mutter auf, um an ihrer Seite den
Schlaf wiederzufinden, nicht achtend, dass ich unlängst,
bei Lichte besehen, ein grosser, selbständiger Knabe
sein wollte, ein Kämpfer ohne Furcht.
Der inzwischen Neunjährige schnuppert von der muffigen
Tunnelluft, blinzelt zum Licht der Deckenfunzel hoch. Das
Schlagen der Räder klingt hohl, die Stollenwände
werfen sich Fahrgeräusche zu, schleudern sie an die Wagenscheiben.
Die Finsternis kocht Lärm. Wird es diesmal anders sein,
frage ich mich, während meine Hand die väterliche
umklammert: Wird diese Nacht, die Nacht des Berges, sich wieder
zur Tagwelt hin öffnen, ohne dass ich im Haarduft der
Mutter Zuflucht suchen muss?
Vom Landwasser-Viadukt her zieht sich eine malerische Strecke
talaufwärts, eingebettet in steilgrüne Hügel,
überzackt von den ersten Dreitausendern. Dies alles,
weiss der Knabe, ist nur Einstimmung für jenen kühnen
Durchstich, der auf beträchtlicher Höhe sein graues
Maul öffnen wird, ehe man gegenüber durchs blitzende
Lichtportal die südliche Welt betritt.
So wird der Albula zum Tunnel der Tunnel, zur Mutter aller
Felsdurchstiche, schon seines grollenden A - U - A wegen -
ein Bauwerk, das offenbar die Macht besitzt, selbst das Wetter
dies- und jenseits der Bergkette zu bestimmen. So jedenfalls
legt der Knabe es sich zurecht, wenn der Zug in ein strahlend
klares Engadin einfährt, das sogleich alle Erinnerung
an die trübe Gegenseite verwischt. Der Knabe aber, nur
wenige Tage später, wenn Regen im Puschlav das Wandern
verhindert, sitzt in seinem Kajütenbett und träumt
über die karierten Laken hinweg vom ewig besonnten Engadin
und den geheimnisvollen Vorgängen, mit denen im Albulainnern,
in der genauen Tunnelmitte, der neblichten Nordluft Feuchte
entzogen und Leuchtkraft beigefügt wird - jener Luft,
die dann aus der Hauptröhre und den diversen Abluftstollen
das südliche Hochtal speist.
Wird in der Tunnelmitte eine Wetterküche betrieben? Grosse
Luftpumpen? Ist der Albula ein Wandler von Wirklichkeit?
Der Knabe liegt nachmittags unter der Armeedecke seines Puschlaver
Kajütenbetts. Er hört den Regen aufs Steindach der
Hütte prasseln und denkt über die Anreise nach.
Er versucht sich den Verlauf der Täler, Bergketten und,
quer dazu, der gestrichelten Linien vorzustellen, mit denen
auf den Karten die Tunnel verzeichnet sind. Dieser Albula
- was ist so besonders an ihm? Ist es dieser geheimnisvolle
Wetterwechsel, der ihn so aufregend macht? Der Wandel der
Luftmassen lässt kühne Vermutungen zu. Vielleicht
ist das Albuladunkel weltweit einzigartig, dem Wasser eines
Jungbrunnens verwandt, der aus Herbst Frühling macht?
Jedenfalls scheint ihm eine Kraft innezuwohnen, wie sie sonst
nur Zaubersprüche oder magische Arzneien besitzen.
Über diesem Gedanken sinkt der Kopf des Knaben zurück,
und er fährt in den steiler werdenden, endlos scheinenden
Schacht des Schlafes ein.
Bleibt nachzutragen, dass ich im Traum
noch heute vor die abluftgeschwärzten Portale pilgern
muss, über deren Scheitel als unsichtbares Motto steht:
"Das Leben ist eine Torte, durch die man sich frisst.
Und wir alle sind Tunnelbauer im Grunde - von Kopf bis Fuss
auf Unterquerung eingestellt."
Michel Mettler
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Page créée le 04.07.06
Dernière mise à jour le 13.07.06
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