Schreiben ist eine einsame Angelegenheit
Schreiben ist eine einsame Angelegenheit.
Einsam in ihrem Arbeitszimmer imaginieren Schriftstellerinnen
und Schriftsteller Welten, um ihnen mit Geschichten und Versen
eine sprachliche Form zu geben. Die Arbeit von Monaten und
Jahren findet erst ein Ende, wenn ein Manuskript abgeschlossen,
abgeschickt und schliesslich gedruckt ist. Damit hat für
einen kurzen Moment auch die Einsamkeit ein Ende. Es gilt
dieses gedruckte Buch der Öffentlichkeit zu präsentieren,
damit es verkauft wird. Meistens geschieht dies bei Autorenlesungen.
Diese Darstellung des Schriftstellerlebens
mag wie ein Klischee klingen, im Grunde entspricht sie der
Wirklichkeit. Die Arbeit an einem Buch erfordert viel Geduld
und Konzentration, vor allem aber geschieht sie meist unsichtbar.
Insbesondere in unserer hastigen Zeit, in denen die publizierten
Bücher schnell auf den Markt kommen und oft ebenso schnell
wieder verschwinden, drohen Schriftstellerinnen und Schriftsteller
in Vergessenheit zu geraten, die lange an einem Werk arbeiten.
...vor gut zwanzig Jahren
Solche und vergleichbare Vorstellungen
haben vor gut zwanzig Jahren eine Gruppe von Schreibenden
dazu bewogen, eine Veranstaltung zu initiieren, welche die
Isolation der Schweizer Schriftstellerinnen und Schriftsteller
durchbrechen sollte. Jeweils am Wochenende nach Auffahrt steht
seither die Stadt Solothurn alljährlich für drei
Tage im Zeichen der Literatur.
Diese Solothurner Literaturtage bezweckten
die Schaffung eines Forums für die aktuelle Schweizer
Literatur. In ihrem Rahmen sollten zum einen neue Arbeiten
aus allen vier Sprachregionen vorgestellt werden und zum anderen
sollte den Schreibenden selbst Gelegenheit geboten werden,
unter sich sowie im Kontakt mit Publikum, Medien und Verlegern
zu diskutieren. Gegen 500 Schweizer Autorinnen und Autoren
haben sich seither im Rahmen dieser "Werkschau neuer
Texte aus der Schweiz" vorgestellt.
An der ursprünglichen Zielsetzung
hat sich inzwischen nichts geändert: Literatur tritt
weiterhin in den Dialog mit der Öffentlichkeit, seit
1992 mit verstärkter internationaler Beteiligung. Eine
Einladung nach Solothurn angenommen haben so bekannte ausländische
Autoren und Autorinnen wie die drei Nobelpreisträger
Günter Grass, Claude Simon und Wole Soyinka, aber auch
Herta Müller, Aleksandar Tisma, Claudio Magris, Imre
Kertész, Brigitte Kronauer und viele andere. In diesem
Jahr werden speziell Autoren und Autorinnen aus Österreich:
Gerhard Roth, Franzobel, Anna Mitgutsch, Melitta Breznik und
Norbert Gstrein diesen prominenten Reigen erweitern.
Der rege Wechsel in der Auswahlkommission
sorgt dabei für die Vielfalt, die seit Anbeginn in gleicher
Zusammensetzung arbeitende Geschäftsleitung gewährleistet
Kontinuität und einen reibungslosen Ablauf der Veranstaltung.
[Fragen an Vrony Jaeggi]
Dass immer wieder klangvolle Namen
aus dem In- und Ausland auf dem Programm der Solothurner Literaturtage
stehen, hat nicht zuletzt mit ihrer einmaligen Ambiance zu
tun. Die Kleinräumigkeit der Stadt sowie die räumliche
Konzentration der Literaturtage bieten während dreier
Tage beste Voraussetzungen für angeregte Diskussionen
und einen lustvollen Austausch über Literatur. Im Landhaus
direkt an der Aare finden in zwei Sälen die öffentlichen
Veranstaltungen statt, gleich vis-à-vis in der Genossenschaftsbeiz
"Kreuz" gibt es Gelegenheit zum ruhigen Gespräch.
Und sollte die Sonne sich sogar zeigen, verwandelt sich der
Platz zwischen Landhaus und "Kreuz" zum südländsich
angehauchten Tummelplatz, zu einem eigentlichen Forum der
Literatur.
Es geht um die Literatur
Die Solothurner Literaturtage legen
besonderen Wert darauf, dass sie weder Wettbewerb noch Werbeveranstaltung
sind. Es geht um die Literatur. Also um Texte, die gelesen
und gespielt, manchmal auch gesungen und musikalisch begleitet
werden. Nebst den traditionellen Lesungen gehören Theaterinszenierungen,
Performances, Filmvorführungen und Ausstellungen seit
jeher zu ihren Bestandteilen. Die Vielfalt der Formen ist
Programm, auch in diesem Jahr.
Jürg Federspiel wird seine Gedichte
zusammen mit der Sängerin Corin Curschellas und dem Pianisten
Christian Rösli vortragen. Im Kunstmuseum ist das Werk
des Künstlers Peter Wüthrich zu sehen, der sich
auf filigrane und gewitzte Weise mit dem Medium Buch auseinandersetzt
und daraus verblüffend schöne Installationen gestaltet.
Im Stadttheater wird eine szenische Lesung des Stückes
"Kopenhagen" von Michael Frayn sowie eine Collage
mit neuen Theatertexten von Schweizer Autorinnen zu hören
sein. Schliesslich wird Niklaus Meienbergs Film "Es ist
kalt in Brandenburg" vorgeführt. Zusätzlich
wird seit jüngst auch vermehrt dem Kinder- und Jugendbuch
die Reverenz erwiesen, was auf ausgezeichnete Resonanz bei
den Schulen stösst.
Dergestalt ist Solothurn ein lustvolles
Literaturevent, das den Dialog zwischen Schreibenden und Lesenden
pflegt. Vor allem aber - nicht zu vergessen - sind die Literaturtage
weiterhin auch ein Begegnungsort der Schweizer Literaturschaffenden
selbst: eine Art zwangloses "Betriebsfest".
Zählen und Erzählen
Immer
wieder haben sich die Solothurner Literaturtage thematische
Schwerpunkte gesetzt, etwa: "In anderen Sprachen",
"Nach 50 Jahren - Schreiben von Holocaust und Krieg"
oder "Erinnerungsräume". Das Motto im Jahre
2000, an der Schwelle zum neuen Jahrtausend heisst "Compter,
raconter zählen, erzählen contare, racontare".
Hinter der spachspielerisch anmutenden
Überschrift verbirgt sich ein weites, offenes Spannungsfeld
zwischen Wissenschaft und Literatur. Hier die mathematische
Präzision, da die emotionale Einfühlung, hier vorgebliche
Objektivität, da scheinbare Subjektivität. Die Grenzen
zwischen diesen beiden Bereichen scheinen fest gezogen, doch
die strenge Trennung ist neueren Datums und zudem seit einigen
Jahren heftig umstritten. Bietet die Wissenschaft nicht in
erster Linie Erzählungen über die Welt an, die Gültigkeit
haben, solange die Forschungsresultate sich nicht als falsch
erweisen? Und analysiert die Literatur auf der anderen Seite
die Welt nicht mit den Augen der Erfahrung, die sich kraft
deren als richtig erweist. Zwei Erzählformen mit unterschiedlichen
Ansprüchen.
Die Grenzkonflikte zwischen Wissenschaft
und Literatur sind häufig und heftig. Wissenschaft wirft
der Literatur vor, aus der Imagination heraus zu erzählen,
wogegen sie selbst exakt forsche. Literatur dagegen wirft
der Wissenschaft vor, ihre Imaginationen zu kaschieren unter
dem Mäntelchen der Empirie, wogegen sie gerade die Unabgeschlossenheit
der Weltbetrachtung hervorhebe. Wissenschaft zählt die
Welt in Zahlenkolonnen und Formeln, Literatur erzählt
die Welt aus der sensiblen Beobachtung heraus.
Die Skepsis ist gegenseitig. Besser
allerdings wäre, wenn sie sich statt dessen auf gegen
das eigene Tun richten würde, um es kritischer einzuschätzen
und um aus dieser Selbsteinsicht zu einem synthetischen Dialog
zwischen Wissenschaft und Literatur zu gelangen.
In diesem Sinne gibt es viele Autoren
und Autorinnen, die sich intensiv mit wissenschaftlichen Themen
befassen. Erwähnt sei zum Beispiel die Lyrikerin Lavinia
Greenlaw, die wissenschaftliche Themen ebenso spielerisch
wie konzentriert in lyrischer Form erzählt. Auf der anderen
Seite begnügen sich moderne Wissenschaftler längst
nicht mehr nur mit reiner Faktenhuberei im Bewusstsein darum,
dass ihre Forschungen nie die ganze Wahrheit erzählen
und im Bemühen darum, verstanden zu werden. Oliver Sacks
oder Alexander R. Lurija zum Beispiel beziehen bei ihren Forschungen
über das Gehirn den ganzen Menschen mit ein; und Jostein
Gaarder oder Gerhard Staguhn vermitteln technisches Wissen
an Jugendliche - und sprechen damit auch erwachsene Laien
an.
So sind die Grenzen durchlässig
geworden, Literatur und Wissenschaft besinnen sich wieder
auf ihre gemeinsamen Wurzeln vor der Trennung im Zeitalter
der Aufklärung. Insbesondere die modernen Technologien
und Wissensgebiete bewirken, dass sich Gustave Flauberts Diktum
aus dem letzten Jahrhundert zu bewahrheiten scheint: "Die
Kunst wird immer wissenschaftlicher werden; die Wissenschaft
wird ihrerseits sich immer mehr der Kunst annähern. In
ihrer Vollendung werden beide wieder eins werden, nachdem
sie sich anfänglich voneinander getrennt haben."
(Correspondance, ed. Conard, I, 434). Und der Dichter Durs
Grünbein holt sich seine Auseinandersetzung mit neuronalen
Prozessen aus beiden Sphären, der modernen Gehirnforschung
wie dem literarischen Denken "in seelischen Dramen und
Komplikationen". Dem trägt auch die moderne Wissensoziologie
Rechnung, indem sie die Erforschung von Welt als Erzählung,
das heisst als momentan wahrscheinliche Möglichkeit einer
Interpretation der Welt auffasst.
Musils Utopie der Exaktheit und der
Seele scheint wieder denkbar geworden.
An den Solothurner Literaturtagen kann
dieses grosse Thema gewiss nicht in seiner ganzen Vielfalt
erörtert werden. Vom Ausgangspunkt der Literatur aus
geht es eher darum zu fragen nach dem Bedürfnis zu erzählen,
den Mechanismen der (literarischen) Wahrnehmung und den Erzählstrategien
sowie nicht zuletzt der Zukunft des Erzählens in einer
zusehends technozentrierten Welt, in der das Erzählen
vermehrt in den Ruch des Anachronistischen gerät. Eine
Reihe von Autorinnen und Autoren, die sich dadurch auszeichnen,
dass sie einen weiten Erzählhorizont haben, also literarische
wie wissenschaftliche Erfahrungen mitbringen, sowie zwei Gespräche
über "Wissen schafft Phantasie" bieten Anlass,
Antworten auf all diese Fragen zu diskutieren. Im Zentrum
aber steht stets die Literatur.
Beat Mazenauer
(Mitglied der Auswahlkommission der
Solothurner Literaturtage)
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