Sie arbeiten als selbständiger Literaturkritiker für den Bund in Bern und seit zwanzig Jahren als Verleger – unter anderem beim Ex-Libris-Verlag in Zürich und danach bei Suhrkamp in Frankfurt. Sie leiten zugleich die Reihe „Reprinted by Huber“, die seit 1987 Bücher von Autorinnen aus der mehrsprachigen Schweiz neu auflegt. Unter welchen Bedingungen arbeiten Sie als Redakteur für den Bund?
Ich bin im Impressum seit 2002 als Autor der Kulturredaktion angeführt, war aber zwischen 1991 und 2001 als Redaktor verantwortlich für Literatur und Theater. Heute arbeite ich etwa zu gleichen Teilen als Theaterkritiker und als literarischer Rezensent. Während beim Theater die Optik naturgemäss eine internationale ist – ich bespreche Aufführungen in Bern, Zürich, Basel, Luzern und Solothurn –, konzentriere ich mich als Rezensent auf Bücher schweizerischer Herkunft. Zugleich schreibe ich wöchentliche Kolumnen wie den «Bund»-Taschenbuchtipp und das « Memento», eine Serie, die anhand von Geburts- oder Todestagen Autorinnen und Autoren der Weltliteratur in Kurzporträts vorstellt. Es gibt davon bereits über 300 Beiträge, und bei der Vergabe des Deutschen Sprachpreises 2007 in Weimar wurde speziell auf diese Serie verwiesen. Bei diesen Kolumnen bin ich weitgehend frei, bei den Literaturbesprechungen muss ich mich mit der Redaktion über die Titel einigen, die ich bespreche.
Woraus besteht für Sie die Rolle der Literaturkritik?
Die Kritik, wie ich sie verstehe, ist in erster Linie für das Lesepublikum bestimmt. Der Kritiker ist eine Art Vorkoster, der das Privileg hat, ein Buch lange vor den anderen zu lesen und seine Lektüreerfahrung dem Publikum mitzuteilen. Das setzt sich aus einem Pflichtteil (Information über Buch und Autor, Inhalt, Stil, Einordnung in die zeitgenössische Szene, Vergleiche, Verwandtschaften, leichte oder schwere Lesbarkeit usw.) und einer Kür zusammen – was der Text im Rezensenten auslöst, ob er ihn bewegt, berührt, ärgert usw., wie er künstlerisch-literarisch zu beurteilen ist, ob der Rezensent ihn zur Lektüre empfiehlt.
Aber natürlich ist der Rezensent auch Gesprächspartner des Autors, gibt ihm Echo, Antwort, funktioniert als prüfende und abwägende Instanz, kritisiert Mängel, spendet, was ich am liebsten tue, aber auch Lob und Aufmunterung.
Ist diese Funktion der Literaturkritik bedroht? Wie bewerten Sie die Stellung der Literaturkritik in der schweizerdeutschen Presse von heute?
Leider ist das Gewicht der Kritik in den gedruckten Medien der Deutschschweiz in den letzten Jahren immer geringer geworden – von den elektronischen Medien, Radio und Fernsehen, wo praktisch überall Small talk und Interviews die Kritik abgelöst haben, gar nicht zu reden – , was ich als eine sehr bedenkliche Entwicklung einstufe. Die Schreibenden brauchen diesen Echoraum der Kritik unbedingt, als Korrektiv, als Gesprächspartner von Fach, als ein Gegenüber, das sie mit Ernst und Verantwortungsgefühl wahrnimmt und begleitet.
Wie analysieren Sie das Dossiers von Viceversa littérature über die Literaturkritik ?
Diese Frage ist etwas schwierig für mich zu beantworten, weil ich da ja mehrfach mitgearbeitet habe. Aber ich hätte an diesem Organ nicht mitgearbeitet, wenn ich nicht hundertprozentig von seinem Sinn und Nutzen überzeugt wäre. Ich habe während Jahren davon geträumt, dass es etwas wie Feuxcroisés (wie die rein französische Ausgabe der Zeitschrift ursprünglich hiess) auch auf Deutsch und Italienisch gäbe. Und ich bin sehr glücklich darüber, dass das nun möglich geworden ist. Diese Seiten mit Rezensionen aktueller Literatur aus dem andern Sprachraum sind etwas vom wenigen, was in einer Zeit, in der die Durchlässigkeit zwischen den Schweizer Sprachkulturen immer geringer wird, aktiv Vermittlung zwischen den Sprachen betreibt. Und es ist nur zu hoffen, dass das Angebot sowohl von den Schulen und Universitäten, als auch von den Verlagen, die Übersetzungen aus den anderen Landessprachen herausbringen, beachtet und konsultiert wird. Diese Zeitschrift ist mit Einrichtungen wie der CH-Reihe, dem Bieler Literaturinstitut, den von Lausanne initiierten Kursen für Schweizer Literatur und ein paar wenigen anderen Aktivitäten zusammen etwas wie Kitt, der die Sprachkulturen zusammenhält und ihnen hilft, in ihrer Gemeinsamkeit einen Wert zu sehen, der auch dem Vordringen der Weltsprache Englisch zu trotzen vermag. Ganz abgesehen von diesen fast staatspolitischen Argumenten ist es aber natürlich auch ein Vergnügen, auf leicht fassliche Weise darüber informiert zu werden, was in der Romandie und im Tessin an neuen, interessanten Büchern auf den Markt gekommen ist.
Sie sind ein Spezialist für die Geschichte der Schweizer Literatur und haben einen Überblick über ihre Entwicklung zwischen dem Ende des 18. Jahrhunderts bis heute: existiert für sie eine „Schweizer Literatur“? Wie würden Sie eine solche Literatur definieren, die sich in vier Sprachen ausdrückt?
Redet man mit Literaturwissenschaftlern aus Polen oder Russland, so ist es für sie ganz selbstverständlich, dass ein doch ziemlich eigentümliches und als staatliche und kulturelle Einheit erkennbares Land wie die Schweiz auch seine eigene Literatur haben muss. In der Tat bin ich der Meinung, dass es durchaus Gemeinsamkeiten gibt zwischen Autoren wie Hugo Loetscher und Etienne Barilier, zwischen Charles-Albert Ramuz und Meinrad Inglin, Guy de Pourtalès und Kurt Guggenheim, Giovanni Bonalumi und Jörg Steiner, Giovanni Orelli und Adolf Muschg, Philippe Jaccottet und Erika Burkart. Es sind diese Gemeinsamkeiten aber nicht sprachlich-künstlerischer Natur oder solche der literarischen Traditionen und Schulen – dazu sind die Bindungen zu den jeweiligen grösseren Sprachräumen Deutschland, Frankreich und Italien viel zu bedeutsam –, es sind vielmehr Gemeinsamkeiten, die sich aus dem gemeinsamen Lebensraum, der gemeinsamen demokratischen Tradition, dem Zusammenleben in einem mehrsprachigen Land, der gemeinsamen Wahrnehmung von aussen und der politisch-staatlichen Verankerung, ja vielleicht auch der Teilhabe an einer ähnlichen Mentalität ergeben. Sobald man die Sache zu definieren beginnt, rinnt sie einem davon wie Sand aus den Händen, aber es gibt meines Erachtens für die Kritik und die Literaturwissenschaft, die eigentlich in der Schweiz immer eine sprachübergreifende sein müsste und sich nicht als Germanistik oder Romanistik abkapseln dürfte, nichts Spannenderes und Aufschlussreicheres, als Bücher und Texte aus den verschiedenen Schweizer Sprachkulturen miteinander in Beziehung zu setzen. Das ergibt einen interpretatorischen Mehrwert, um den monosprachliche Kulturen unsere Literaturwissenschaft nur beneiden können.
Ihr literaturkritisches Interesse gilt besonders den Schweizer Autoren. Widmen die Medien Ihrer Meinung nach der Schweizer Literatur (aus den unterschiedlichen Sprachregionen) genug Aufmerksamkeit?
Ja, ich betrachte es als meine Aufgabe, in erster Linie wahrzunehmen und zu begleiten, was an Literatur in meinem engeren Lebensraum Schweiz publiziert wird oder von Schweizer Autoren im Ausland erscheint. Ich glaube, dass ich gerade durch meine langjährige Beschäftigung mit der Schweizer Literatur aller Sprachen im Zeitraum 1890 bis 1960 einen besonderen Blick auf die zeitgenössischen Autoren habe.
Es ist längst nicht mehr für alle Zeitungen so, dass eine schweizerische Neuerscheinung ein absolutes muss ist, wie das jahrzehntelang der Fall war. So kann es vorkommen, dass ein Buch einer wichtigen und erfahrenen Schweizer Autorin, wie ich das im Sommer 2006 beobachtet habe, nur von einer einzigen Deutschschweizer Zeitung wahrgenommen wird. Im allgemeinen aber finden Schweizer Bücher, wenn auch in geringerem Masse als früher, noch immer ein gewisses Echo in den Deutschschweizer Zeitungen. Neuerscheinungen aus den anderen Landessprachen aber werden, wenn überhaupt, nur dann besprochen, wenn sie in deutscher Übersetzung vorliegen. Auch dies ein Argument, warum Übersetzungen unbedingt gefördert werden sollten.
Was denken Sie über die gegenwärtigen schweizerdeutschen Autoren und über die literarische Nachfolge?
Was mich sehr freut, ist dass es in der deutschen Schweiz in den letzten Jahren eine ganze Reihe junger Autoren mit unverwechselbarer eigener literarischer Physiognomie gegeben hat, die weit über die Schweiz hinaus Echo finden. Und das Schöne daran ist, dass sie die langjährige Priorität der Erzählprosa durchbrochen haben und nun in allen Genres Bemerkenswertes leisten : Lukas Bärfuss als Dramatiker und Erzähler, Raphael Urweider als Lyriker, um nur die zwei erfolgreichsten jüngeren zu nennen.
Wie beurteilen Sie die Entwicklung im Verlagswesen ? Welche Folge hat sie für die Autoren und die Arbeit der Literaturkritik ?
Nach wie vor ist es für einen Deutschschweizer Autor attraktiv und für den Erfolg massgebend, wenn er in einem deutschen Verlag wie S.Fischer, Rowohlt, Dumont, Hanser oder Suhrkamp erscheint. Es gibt eigentlich nur zwei Schweizer Verlage, die ihre Bücher in Deutschland und Österreich ähnlich gut zu platzieren vermögen : Ammann und Diogenes. Die Möglichkeiten für einen Deutschschweizer Debütanten, sein Manuskript bei einem seriösen Verlag unterzubringen und gedruckt zu werden, war noch nie so gut wie heute. Allerdings ist das erste Buch, das meist als Sensation hochgejubelt wird, noch lange keine Garantie für einen nachhaltigen Erfolg. Und die Neuerscheinungen folgen sich in so grosser Zahl und so rascher Abfolge, dass die Halbwertzeit für ein Buch inzwischen etwa bei vier roder fünf Monaten liegt, dann wird es bereits wieder durch andere Titel vom Ladentisch oder aus dem Schaufenster verdrängt. Das bedeutet ein grosses Frustrationspotential für die Schreibenden, die zu all dem noch mit einer Situation konfrontiert sind, bei der sie mit einer Neuerscheinung, so sie denn verkauft werden soll, monatelang auf Tournee in Buchhandlungen und an Festivals gehen müssen, so dass die kontinuierliche schriftstellerische Arbeit jeweils für lange Zeit unterbrochen wird. Bedenklich ist auch, dass es ausser von Sensationserfolgen kaum zweite Auflagen gibt, so dass ein Buch nach einem Jahr schon wieder vollständig vergriffen sein kann und, wenn nicht ein Taschenbuchverlag sich seiner annimmt, kaum je wieder greifbar sein wird.
Verglichen zu der wachsenden Anzahl jährlich neuer Erscheinungen scheint die Neuauflagearbeit von «Reprinted by Huber» in einem anderen Zeitrahmen zu funktionieren, der damit ermöglicht, dass wichtige Schweizer Autoren (wieder)entdeckt werden können. Welche Motivation steckt hinter diesem Projekt? Ist es auch eine Art Widerstand gegen die Schnelllebigkeit auf dem Büchermarkt?
Ja, unbedingt. Die Serie will aus der Unmenge von vergessenen und untergegangenen Büchern in allen Landessprachen besonders geglückte und bemerkenswerte herausgreifen und zusammen mit einer ausführlichen Biographie des Autors neu zur Diskussion stellen. Damit ist es möglich, eine Reihe von Autorinnen und Autoren, die zum Bestand der Literatur dieses Landes zu zählen sind und deren Bücher auch den Nachgeborenen noch wesentliches zu sagen haben, vor dem endgültigen Vergessen zu bewahren. Das wird von einem breiten Publikum wahrgenommen, aber auch von den heute schreibenden Autoren. So ist z.B. das neuste Buch von Eveline Hasler, Stein bedeutet Liebe, aus der Beschäftigung der Autorin mit dem Regina-Ullmann-Lesebuch Ich bin den Umweg statt den Weg gegangen, das in der Reihe Reprinted by Huber erschienen ist.
Inwiefern ergänzen sich Ihre Tätigkeiten als Verleger und als Kritiker?
Ich bin überzeugt, dass man die Literatur der Gegenwart nicht wirklich verstehen und würdigen kann, wenn man sie nicht als Fortsetzung und neuesten Stand einer Entwicklung begreift, die schon vor vielen Generationen angefangen hat. Nur so, im Vergleich mit Früherem und Ähnlichem, lässt sie sich in ihrem eigentlichen, über den Alltag hinausweisenden Wert schätzen und erkennen.
Propos recueillis par Anne Pitteloud
Page créée le 10.06.08
Dernière mise à jour le 10.06.08
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