Lukas Bärfuss kennt keine Scheu vor brisanten politischen Themen, doch vor dem Begriff des politischen Romans schreckt er zurück. Grund dafür ist einerseits die einschränkende Etikettierung, weit mehr noch steckt darin für Bärfuss andererseits eine Anmassung, der er sich nicht gewachsen fühlt: „Ich habe Angst vor einer solchen Festlegung, ich thematisiere lieber meine eigenen Widersprüche.“
Gleichwohl kann sein jüngstes Buch „Hundert Tage“ als politischer Roman in seiner umfassenden Bedeutung gelten: inhaltlich brisant, zugleich stilistisch vollendet und dergestalt über die beschriebenen politischen Vorfälle hinausweisend.
In „Hundert Tage“ erzählt Bärfuss den Völkermord in Ruanda 1994 aus der Sicht eines Schweizer Entwicklungshelfers. Im Auftrag der „Direktion für technische Entwicklung und Zusammenarbeit“ leistet David Hohl in Kigali seinen ersten Auslandseinsatz. „Ich war vierundzwanzig Jahre alt und ich hatte die Autoren der Négritude gelesen, Césaire und Senghor, und wie sie alle heissen.“ Doch Kigali erweist sich für den Idealisten als langweiliges Kaff, in dem sich rechtschaffene Helfer wie Paul, aber auch zwielichtige Figuren wie der zynische Missland tummeln. Sie leisten hier seit Jahren ihre Arbeit und haben sich in der Fremde auf je eigene Weise eingerichtet.
Ruanda ist traditionell ein sanftes Land. Doch die politische Situation gerät in Bewegung, als Tutsi-Rebellen im Osten von Kongo her angreifen. Zuerst unmerklich, dann immer deutlicher wird ein Graben sichtbar, eine gut gehütete Tabuzone: die Trennung zwischen Langen und Kurzen – zwischen Tutsi und Hutu. Die Entwicklungshilfe hat seit je her auf die fleissigen Kurzen vertraut, doch diese beginnen immer dreister gegen die Langen aufzuhetzen. Im aufkeimenden Konflikt erschwert sich die Hilfsarbeit, zugleich wird sie spannender und vertreibt die öde Langeweile, unter der die westlichen Helfer leiden.
Auf jedem der tausend Hügel Ruandas treten sie sich gegenseitig auf die Füsse. Ruanda ist fleissig, friedlich und geordnet – trotz seiner schwierigen Geschichte. Das gefällt im Westen. Doch der Zyniker Missland raunt es allen, die es hören wollen, zu, dass dieses Paradies eine finstere Nachtseite habe. Was wissen die Westler denn, was die Einheimischen im unverständlichen Bantudialekt untereinander verhandeln.
Lust und Gewalt
Agathe begegnete David erstmals auf dem Flughafen in Brüssel. Während sie sich als Schwarze von der Passkontrolle schikanieren liess, fühlte sich der angehende Entwicklungshelfer zum Eingreifen genötigt. Dass ihn Agathe dafür mit einer Geste der Verachtung strafte, prägte sie ihm erst recht ein. Halb suchend, halb vom Zufall geleitet, trifft er Agathe in ihrer ruandischen Heimat wieder. Sie sehen sich öfters, ihre Beziehung bleibt jedoch eine liaison dangereuse. Agathe gibt sich David hin – und scheint ihn handkehrum zu verhöhnen. Gerade diese Dualität fasziniert ihn und zieht ihn allmählich am eigenen Leib in den Strudel der sich zuspitzenden Ereignisse mit hinein. Im Grunde hat Agathe wieder nach Europa reisen wollen, ins vertraute Brüssel, doch weil sie den letzten Flug verpasst hat, bleibt sie im Land und beginnt sich politisch zu betätigen. David wird nur langsam gewahr, dass Agathes schnippische Bemerkungen unterschwellig immer stärker eine rassistische Färbung annehmen.
Weil sie bleibt, will auch David bleiben, als auf dem Höhepunkt des Mordens die westlichen Helfer ausgeflogen werden. Er verbarrikadiert sich in Kigali in seinem Haus - hundert qualvolle Tage lang.
Diese Beziehungsgeschichte setzt einen intimen Kontrast zum politischen Geschehen und verquickt sich immer unverschämter mit diesem, bis Agathe verschwindet und David in seinem Refugium auf die Hilfe von Tätern angewiesen ist. Als ihn schliesslich jugendliche Mordbrenner aus der Zwangslage befreien, macht er sich einer Form der Kumpanei schuldig, die im Nachhinein der ganzen Entwicklungshilfe anzulasten ist. Die westlichen Helfer haben der stillen Art der Kurzen vertraut – ohne Bedenken und Skrupel und so unbeabsichtigt Beihilfe zum Völkermord geleistet.
Dass gerade das stille, ordentliche Wesen der Ruander ein Fundament für diese Grausamkeiten bildete, erkennt David erst spät. Das Chaos ist eine Frucht der Organisation, das Morden erwächst nicht aus chaotischen Verhältnissen, sondern aus einer perfekten Ordnung, in der „jeder seinen Platz kennt“. Während er vor allem an der dunklen Seite Agathes interessiert ist, zeigt sich David blind gegenüber dem aufkeimenden Hass. Zugleich offenbart ihm die Tatsache, dass er allein wegen seiner Geliebten, in der Hoffnung auf ihre Rückkehr, in Kigali ausharrt, die selbstgerechte Seite seines Gerechtigkeitsempfindens. Zum Schluss übt er mit Hilfe seiner üblen Helfer selbst Rache an einem Täter: „Weil ich gerecht sein wollte, wurde ich schuldig, und als ich mich schuldig machte, fühlte ich mich gerecht“. In diesem Irrsinn gibt es keinen Halt mehr.
Brillanter politischer Roman
Bärfuss glückt es, die sorgfältig recherchierte politische Geschichte mit dem existentiellen Erleben seines Erzählers zu verschmelzen. David Hohl und alle die anderen Figuren sind fest eingebettet in eine strenge Romanstruktur – dennoch bleiben sie authentisch, real und behalten mit sicherem Strich eine schillernde Lebendigkeit. Dies gilt insbesondere auch für Agathe, obwohl gerade sie mysteriös und dunkel bleibt. Doch der Erzähler hat keine Mittel, hinter ihr Geheimnis zu kommen, aus seiner Perspektive bleibt er weitgehend blind für diese Frau.
„Hundert Tage“ ist ein Roman von höchster Konzentration gepaart mit formaler Eleganz und politischer Leidenschaft. Lukas Bärfuss legt hiermit einen Roman vor, der auf verblüffend dichte Weise eine beklemmende taumelnde Verunsicherung zu erzeugen vermag und einige Denkgewohnheiten umstürzt.
David Hohl beginnt es zu ahnen: „Das Schlimmste ist der Gedanke (...), dass es eine Symbiose gab zwischen unserer Tugend und ihrem Verbrechen.“ Mag er sich selbst zu schlechter Letzt auch als Zyniker erweisen, widerfährt ihm dies ohne böse Absicht. Zynismus ist lediglich die natürliche Schattenseite der Hilfsbereitschaft, und die Selbstgerechtigkeit begleitet stets das Streben nach Gerechtigkeit. Darin liegt der tiefere Kern dieses Buches.
Bärfuss geht mit der Entwicklungshilfe hart ins Gericht. Bei aller entlarvenden Unverblümtheit, die dieses kolonialpolitische Lehrstück auszeichnet, vermeidet er aber klug den Eindruck, dass es sich hierbei um ein bloss zynisches Geschäft von europäischen Gutmenschen handle, die um ihrer selbst Willen nach Afrika gehen. Vielmehr lässt er durchblicken, dass diese eine anspruchsvolle, ambivalente Aufgabe darstellt, die ohne politisches Bewusstsein nicht zu leisten ist. In dem Sinn ist sein „Hundert Tage“ ein bedeutsamer politischer Roman, der es auch nicht an ästhetischem Formgefühl und an emotionaler Dringlichkeit mangeln lässt.
Beat Mazenauer
Page créée le: 08.04.08
Dernière mise à jour le: 08.04.08
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