In breve in italiano - En bref et en français
„Über Gott und die Welt“ meint nichts weniger als alles. Über Gott und die Welt reden heisst über alles reden: den Menschen, seinen Glauben, die Gesellschaft, ihre Gesetze, sinnlich Erfahrbares und Übersinnliches. Unter dem Titel „Über Gott und die Welt“ hat der Theologe Andreas Mauz Reden, Essays, Kolumnen, Geschichten und ein langes Gespräch mit Dorothee Sölle zusammen gestellt, in denen Bichsel darüber nachdenkt, was die Welt zusammenhält. Ihr gemeinsamer Kern ist die Frage nach dem Glauben: an einen Gott, an die Schöpfung und vor allem an die Menschen. Einige dieser Texte sind bisher unveröffentlicht geblieben, andere nur an entlegenen Orten publiziert.
Peter Bichsel – ein Gläubiger? Ja, ganz ohne Zweifel. Allerdings einer, dessen Glaubensbekenntnis auf einer persönlichen Emanzipation gründet. „Ich muss ein religiöser Mensch sein, das habe ich zu akzeptieren, damit habe ich zu leben“, bemerkte Bichsel 1979 in einem Vortrag mit dem Titel „Abschied von einer geliebten Kirche“. Er erinnert sich darin an seine religiöse Erweckung während seiner Schulzeit. In einer Familie aufwachsend, in der die Religion mit Ordnung und Anstand gehandhabt wurde, fühlte er sich beseelt von einem pietistischen Eifer, der vom Wunsch nach Emanzipation angetrieben war: „mein Christsein als Anderssein, mein Bekenntnis als Rebellion“. Bichsel ging für das Blaue Kreuz auf die Strasse, und träumte davon, Missionar zu werden. Solche Wünsche galten solange, bis sich Bichsel selbst die eigene Frömmigkeit durch ein vertieftes theologisches Interesse verdarb. Damit begann ein Abschied von der Kirche, ohne dass er deshalb den Glauben eingetauscht hätte. Ja, gegen was denn? „Ich brauche ihn [Gott], damit das alles, was ist, nicht sinnlos ist“, bekannte er 1988.
Das gilt – erst recht – für den Sozialdemokraten Bichsel, denn die Sozialdemokratie verbindet enge Bande mit dem Christentum. „Wenn es wahr ist“, trug Bichsel 1981vor, „dass das Christentum die Gleichheit der Menschen, die Gerechtigkeit und den Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen meint, dann muss man feststellen, dass die weltlichen Mächte ein paar Schritte mehr darauf zu gemacht haben als die katholische Kirche.“ In der Sozialdemokratie treffe er immer wieder auf ehemalige Sonntagsschullehrer, die im Glauben nicht Rechthaberei, sondern das Vertrauen in eine verbesserungswürdige Welt suchten und fanden. Auf ihrer Seite stand und steht der gelernte Primarlehrer Bichsel.
Sein Glaube ans Gute und Gerechte beinhaltet allerdings unabdingbar auch den Zweifel und das Unverständnis. Darauf kommt Bichsel in diesen Texten immer wieder zurück. Nur Fundamentalisten wissen zweifelsfrei alles, und nur selbstgerechte Kirchgänger haben sich nicht um das Unverstehen zu kümmern. Sie lieben am Christentum die Ruhe und die Pflichtschuldigkeit, lautet Bichsels Einwand. Hartnäckig kreist er diesen Topos ein, der bei ihm biographisch in der rebellischen Entdeckung des Glaubens wurzelt. Für die korrekten Kirchgänger ist Christsein „ein selbstverständlicher Bestandteil der Anständigkeit und verpflichtet ihn zu nichts anderem als zu Ruhe und Ordnung.“ In Jesus erkennt dieser Kirchgänger nicht den Rebellen gegen unanständige Traditionen, Jesus ist für ihn „nur der Erfinder der Anständigkeit“. Dieses Christentum meint Bichsel nicht, wenn er sich dazu bekennt. Jesus ist der Kirche im tiefsten Grunde suspekt, gerade deshalb glaubt Bichsel an ihn, den „wunderbaren Sozialphilosophen“, einen Erfolglosen, den die Kirche auf Teufel komm raus mitzuschleppen hat. „Legalität und Moralität sind nicht dasselbe“, lautet ein Hauptsatz.
Peter Bichsel liebt es, seine vollendete poetische Artistik unter der Maske von zögerlichem Zweifel und Volkstümlichkeit zu verbergen. Auf genau so subtile Weise liebt er es hier auch, den christlichen Tempel auszumisten, indem er die biblische Botschaft eigenwilligen Lektüren unterzieht und so gegen die scheinheilig christliche Les- und Lebenssart anwendet. Ein Muster dieser Bichselschen Kehren ist die Anekdote von der älteren Dame und dem schwarzen Mann, die sich – wenn sie nicht wahr ist, ist sie wunderbar erfunden – in der Kantine des Westdeutschen Rundfunks in Köln zugetragen haben soll.
Ein Rentnerin hat den Löffel vergessen, mit dem sie ihre Suppe essen soll. Sie holt sich einen, wie sie aber an ihren Tisch zurückkehrt, sitzt da ein grosser Schwarzer über ihrer Suppe. Sie setzt sich gegenüber und löffelt verwirrt mit. Da erhebt sich der Schwarze und holt einen Schnitzelteller, den er in die Mitte des Tisches stellt, für beide. Dann macht sich der Schwarze schnell davon – und kurz darauf ruft die Frau: „Meine Handtasche ist weg und mein Pelzmantel.“ Soweit scheint der Fall klar. Bis jemand darauf hinweist, dass beides an einem anderen Tisch zu finden sei, mitsamt der Suppe. „Sie hatte den Tisch verwechselt, und nicht der Schwarze hatte ihre Suppe gegessen, sondern sie die Suppe des Schwarzen.“
Die guten Christen und Kleinkrämer rufen gerne zuerst Verrat, bevor sie ihr eigenes Versäumnis erkennen. Davon erzählt Bichsel gerne, nicht weil er ein Rechthaber ist, sondern weil er erstens an den Zweifel und zweitens an die guten Geschichten glaubt. Letztere liefert die Bibel, die für Leser eine wahre Verführung darstellen. Der Herausgeber Andreas Mauz schliesst in seinem Nachwort, dass Bichsel auf literarischen Umwegen ein Missionar geworden sei, der „das Evangelium vom Lesen und Erzählen“ verkünde. Über Gott und die Welt reden, gipfelt bei ihm stets auch in einem Lobpreis des Lesens. Die Bibel ist dafür eine wunderbare Unterweisung, weil ihre Lektüre, wie er von einem ägyptischen Mitreisenden schreibt, „auch das Eindringen in die Wunder des Unverständlichen“ darstellt. Pädagogisch unkorrekt fügt er an: „Leseförderer aller Welt wollen davon nichts wissen und glauben, sie könnten Leute zu Lesern machen, indem sie das Unverständliche voreilig aufschlüsseln.“ Lesen aber ist nicht identisch mit Verstehen, es schliesst das Nicht-Verstehen mit ein, wie Bichsel begeistert von seinen Jean-Paul-Lektüren berichtet.
Das Wunderbare am Lesen ist, dass es Zeit und Raum überwindet, ohne diese ausser Acht zu lassen. Zu einer biblischen Erzählung von Johann Peter Hebel, die ein Wunder der Vermehrung beinhaltet, schreibt Bichsel. „Das Wunder heisst nicht Überwindung der Naturgesetze – das Wunder heisst immer Solidarität. Das ist die Wundergläubigkeit der Christen. Und wer den Egoismus der Menschen für ein Naturgesetz hält, kann kein Christ sein.“ Davon handeln nicht nur diese Geschichten.
Peter Bichsel, Über Gott und die Welt. Texte zur Religion. Hrsg. von Andreas Mauz, Suhrkamp, 2009. |