Monica Cantieni
Grünschnabel. Roman. Schöffling Verlag, Frankfurt 2011. 240 Seiten.
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Monica Cantieni / Grünschnabel |
Ein Mädchen steht zur Adoption frei und kommt, vorerst zur Probe, in eine neue Familie. Während die Fürsorge regelmässig vorbeischaut, dass in dem neuen Heim alles klappt, entwickelt das Mädchen eine eigene Optik auf seine Situation: "Mein Vater hat mich für 365.- Franken von der Stadt gekauft. Das ist viel für ein Kind, das keine Augen im Kopf hat." In Monica Cantienis Roman Grünschnabel erzählt das naseweise Mädchen Geschichten aus einem turbulenten Haushalt, in dem vieles drunter und drüber geht, in dem aber das Herz stets am rechten Fleck sitzt. Vor allem der Vater setzt sich vehement für die ausländischen Mitbewohner im Haus ein. Es ist das Jahr 1970, die fremdenfeindliche Schwarzenbach-Initiative steht zur Abstimmung und treibt den Vater zur Weissglut. Auch das Mädchen fragt sich, warum die Tochter von Toni im dunklen Schrank leben muss. Monica Cantieni beschreibt aus der Perspektive eines Kindes diese kleine Welt – wobei sie die Erzählung des Mädchens in eine virtuose Kunstsprache bettet, die vor Wortwitz und Komik sprüht, ohne die Traurigkeit aus diesem Buch zu vertreiben.
Monica Cantieni: Grünschnabel . Roman. Schöffling Verlag, Frankfurt 2011. 240 Seiten.
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Ein naseweises Mädchen, Beat Mazenauer |
In breve in italiano
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En bref et en français" Mein Vater hat mich für 365.- Franken von der Stadt gekauft. Das ist viel Geld für ein Kind, das keine Augen im Kopf hat. Ich habe das die Eltern möglichst lange nicht wissen lassen. Es ist nicht gut, schon in der Tür alle Hoffnungen zu zerstören, wenn man Tochter werden will. Das hat uns die Chefin eingebläut. "
Der fulminante Auftakt ist von überschäumender Lakonik. Monica Cantieni lässt ihre Erzählerin mit der Tür ins Haus fallen: ein Adoptivkind, das in seiner neuen Familie heimisch machen will. "Du wirst jetzt Tochter. Von dort ist es nicht mehr weit bis ins Leben", hat das Mädchen von seiner Chefin mit auf den Weg bekommen. Nun denn, auf in dieses Abenteuer! Die naseweise Erzählerin von sieben-acht-neun Jahren schickt sich an, die Probezeit zusammen mit den neuen Eltern zu bestehen. Das Fürsorgeamt, also Ruth und Walter, schaut hin und wieder vorbei, um zu kontrollieren, ob Ordnung herrscht und alles klappt.
Fünfzehn Jahre nach ihrem Prosadebüt, der Erzählung "Hieronymus' Kinder", legt die Autorin Monica Cantieni mit einem frischen und frechen Roman nach. Das Buch hat lange gegärt und sich ganz allmählich aus dem zitierten ersten Satz heraus entwickelt. Solche Behutsamkeit ist ihm gut anzumerken. Die präzise und zugleich mysteriöse Exposition grundiert den ganzen Roman. Cantieni erzählt Anekdoten und Episoden aus dem Alltag eines turbulenten Haushalts mit scharf umrissenen Figuren und pointierter Sprache – aus der Optik eines Adoptivkindes.
Das neue Tochter lebt mit ihren neuen Eltern etwas ausserhalb der Stadt in einem Haus voll sonderbarer Mitbewohner. Die Mutter kämpft mit Pillen gegen das "Himmelelend", der Vater ringt mit zwei linken Händen und trägt das Herz am rechten Fleck. Beides bringt nicht viel Geld ein, das gute Herz aber bewahrt die Freundschaften im Haus. Zum Beispiel zu Toni, der seine heimliche Tochter im Schrank verstecken muss, weil sie nicht in der Schweiz wohnen dürfte – was der kleinen Erzählerin sehr sonderbar vorkommt. Oder zu Eli, der auch nicht hier sein dürfte, denn die Schweiz hat eine Überfremdung. Es ist das Jahr 1970, die ausländerfeindlichen Schwarzenbach-Initiative steht zur Abstimmung und stiftet Konflikte auch in der eigenen Familie. Während die Mutter findet, sie hätten genug Probleme im Haus, regt sich der Vater fürchterlich über die politische Ungerechtigkeit auf. Das Mädchen hat andere Fragen: "Was ist Initiative? Und was ist eine Überfremdung?"
Um sich in diesem Leben zurecht zu finden, sammelt es Wörter in Zündholzschachteln, fein sortiert, damit sie nicht verloren gehen. Es gibt einiges aufzubewahren, das nicht auf Anhieb zu verstehen ist. Mit dem geliebten Grossvater, dem Tat, stellt es zudem ein "Lexikon der guten Gründe" zusammen. Dieser Grossvater, der sachte und unrettbar in die Demenz abgleitet, verbindet das Mädchen eine spezielle Liebe. Sein Tod setzt diesem Buch und vielleicht auch seiner Unbefangenheit ein Ende.
Cantienis Buch steckt voll kleiner Geschichten und verblüffender Sätze, in denen sich Leben und Tod aus der Optik eines Grünschnabels spiegeln. Die junge Erzählerin muss sich immer wieder behaupten, weil sie als "Waisenhausgöre" nicht allerorts gut gelitten ist. Das ist zuweilen schmerzhaft, gelingt aber mittels ihrer Frechheit und ihrer direkten Sprache.
Natürlich handelt es sich bei letzterer nicht um ein richtiges Kinderidiom. Vielmehr hat Monica Cantieni eine Kunstsprache entworfen, die eine kindhaft naive Perspektive konstruiert. Ihr Gestus zeichnet sich aus durch Spontaneität, Lakonik und sprühende Einfälle, die das eigentlich Kindliche übersteigen. Entsprechend darf ihr Mädchen über den Tod sprechen, wie es Kinder nur in der Vorstellung von Erwachsenen tun.
Vor allem mag es prägnante Sätze und Formulierungen – wie "Ich hatte ihr ein Koma in den Kopf geschlagen", oder der Italiener Toni hat "eine Illegalität am Hals". Sie ahmen Kindlichkeit nach, im Kern aber ist darin ein surrealistisches Prinzip erkennbar, das Fakten und Metaphern auf verblüffende Weise miteinander verklammert.
In diesem Gestus ist hin und wieder der Wille zur konstruierten Formulierung spürbar – mit dem Effekt, dass der eine oder andere raffinierte Einfall nicht mehr der gebotenen Spontaneität entspricht. Das nimmt dem Buch mit der Zeit ein wenig von seiner Leichtigkeit.
Entscheidend aber ist vielmehr, ob Monica Cantieni dabei dem von ihr gewählten Konzept treu bleibt, was sie über weite Strecken tut. Nebst treffenden Pointen haben darin auch ruhige Töne und schmerzhafte Gefühle Platz, die etwa das Thema Tod ohne Ironie stehen lassen.
Grünschnabel präsentiert sich so als ein gewitztes Buch, das sich lustvoll liest. Die beschriebene turbulente Freundschaft unter Schweizern und Ausländern vermittelt unter der Hand auch einen Appell, den die Autorin ernst meint.
Beat Mazenauer |
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En bref |
In breve in italiano
Una bambina viene data in adozione a una nuova famiglia, prima soltanto in prova. Mentre l'assistenza sociale passa regolarmente per controllare se nella nuova casa tutto si svolge come si deve, la bambina sviluppa un'ottica del tutto personale della situazione: «Mio padre mi ha acquistata per 365.- franchi presso il comune. Questa è una bella somma per una bambina che non ha occhi in testa». Il romanzo Grünschnabel (letteralmente: becco verde) di Monica Cantieni racconta la storia di una bambina saccentella che si ritrova in una famiglia un po' burrascosa, dove le cose non vanno sempre per il verso giusto, ma dove le persone sono oneste e bonarie. Soprattutto il padre, una persona mite, si prende cura di uno straniero suo vicino di casa. Siamo nel 1970, l'anno in cui la popolazione svizzera è chiamata alle urne per votare l'iniziativa xenofoba Schwarzenbach, iniziativa che manda in bestia il padre. Così anche la bambina si chiede perché mai la la figlia di Toni debba vivere chiusa dentro un armadio buio. Monica Cantieni descrive questo piccolo mondo dal punto di vista di una bambina, immergendo il suo racconto in una abilissima lingua d'arte, ricca di motti di spirito e di umorismo, senza mai adombrare la malinconia racchiusa nel libro. (ja)
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En bref et en français
Une fillette, donnée à l'adoption, est confiée à une nouvelle famille, dans un premier temps à titre d'essai. Tandis que l'assistance sociale passe régulièrement pour s'assurer que tout va bien dans son nouveau foyer, la fillette s'invente une histoire pour expliquer sa situation : « Mon père m'a achetée à la ville pour 365.- francs. C'est beaucoup pour un enfant qui n'y voit pas clair. » Dans Grünschnabel (Blanc-bec) de Monica Cantieni, une fillette curieuse raconte les histoires d'une maisonnée turbulente, où tout est sens dessus dessous, mais le cœur à la bonne place. Le père, surtout, s'engage avec passion pour les locataires étrangers de la maison. Nous sommes en 1970, c'est l'époque où se prépare la votation populaire sur l'initiative xénophobe Schwarzenbach, qui met le père en rage. La fillette se demande, elle aussi, pourquoi la fille de Toni doit vivre dans un placard sombre. Monica Cantieni décrit ce petit monde à travers les yeux d'une enfant – et trouve pour porter le récit de la fillette une langue pétillante d'inventions, de jeux de mots et d'humour, sans pour autant bannir la tristesse du livre. (ml)
Page créée le: 14.04.11
Dernière mise à jour le: 14.04.11
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