Der Arabist Stefan Weidner zitiert in seinem Buch Mohammedanische
Versuchungen einen Satz des grossen Mystikers Ibn
Arabi, den er wiefolgt übersetzt: Das Unmögliche
hat einen Geschmack im Sein. Franz Hohler wird den
Satz vermutlich nicht kennen, aber ihm sogleich zustimmen.
Wer das Sein intensiv abschmeckt, wird einen Hauch Unmöglichkeit
darin erspüren. Dieses Unmögliche steckt mitten
im Leben drin, ein kleiner Zufall kann uns sein volles Aroma
entdecken. Davon erzählen Die Torte und andere
Erzählungen. Die Wirklichkeit ist doppelbödig,
und brechen wir darin ein, so hält uns kein Fangnetz
auf. Was zum Beispiel, erhofft sich der Schadenexperte Baumberger
von einem Besuch beim Baumberger-Denkmal auf
der Oberalp? Prompt überrascht ihn denn auch die unsichere
Witterung und raubt ihm jegliche Orientierung. Jegliche!
Eine zufällige Begegnung, ein falsches Wort,
eine unüberlegte Tat, eine Verspätung können
den Eintritt in ein Labyrinth bedeuten, aus dem fast nicht
mehr herauszufinden ist, schreibt Hohler eingangs
einer anderen Erzählung.
Darin ist es eine Rechnung, die sich im Futter eines neuen
Mantels befindet, datiert vom 24. Juni 1938. Niemand vermag
sich zu erklären, wie sie dorthin gekommen ist. Und
ebensowenig vermag jemand zu sagen, warum in der Buchhaltung
des fraglichen Modegeschäfts alljährlich am Jahresende
exakt die geforderte Summe als Fehlbetrag aufscheint. Dass
es sich bei dem Rechnungssteller um einen längst verstorbenen
jüdischen Herren-Schneider handelt, und dass der Lärm
um die nachrichtenlosen Vermögen noch gut in
Erinnerung ist, bekräftigt den Verdacht, Franz Hohler
erzähle nur zu gerne moralische Geschichten.
Dagegen lässt sich freilich gar nichts einwenden, wenn
einer seine Geschichten so subtil und so frisch erzählt
wie Hohler. Die Moral ist Bestandteil der guten Geschichte,
die ihr letztes Geheimnis nie preisgibt. Wohin wird die
Frauenärztin Sabina Christen von einem sagenhaften
Schimmel entführt, und wie erklärt sie sich selbst
diese Erfahrung?
Franz Hohler ist kein blendender Stilist. Der perfekten
Formulierung zieht er immer den lebendigen Wortlaut vor,
der dazu anregt, seine Geschichten gleich weiter zu erzählen.
Ihre Raffinesse liegt anderswo begründet, zum Beispiel
in der quälenden Peinlichkeit, die uns als Lesende
selbst überkommt, wenn wir mit Baumberger im Nebel
umherstochern. Oder in der Sprachlosigkeit, die den Derrida-Spezialisten
befällt, der an einer Würdigung des eben verstorbenen
Dekonstruktivisten schreibend die Welt nicht mehr versteht,
als aus der Waschmaschine nach und nach unbekannte Kleider
auftauchen und zuletzt deren Trägerin.
Die Theorie versagt vor der Praxis. Auf listige Weise spiegelt
sie Hohler ineinander. Das System Wirklichkeit wird von
Viren heimgesucht, die es zeitweilig stören und gelegentlich
ganz zum Absturz bringen. Im Ausnahmefall geschieht dies
etwas allzu konstruiert (Der Brief), meist jedoch
auf ebenso charmante wie rätselhafte Weise. Hohler
weiss nur zu gut, dass gerade das Fabulieren dem Sein die
notwendige Prise Unmöglichkeit verleiht. Unter diesem
Blickwinkel ist es gleichgültig, ob die Titelgeschichte
wahr ist oder falsch. Die Torte erzählt
von einem jugendlichen Anarchisten, der achtzig Jahre nach
einer fehlgeschlagenen Tat noch immer davon verfolgt wird.
Exakt bis zu dem Moment, wo er erfährt, dass das Corpus
delicti gefunden worden ist. Dabei hätte die skurrile
Anekdote das Zeug gehabt, die Weltgeschichte zu verändern.
Der junge Mann aber wollte lieber seine Geliebte heiraten.
Nun ist seine Seele zur Ruhe gekommen. Wir aber haben im
Nachinein unsere Freude damit. Franz Hohler sei Dank.
Franz Hohler: Die Torte und andere Erzählungen.
Luchterhand Literaturverlag, München 2004. 208 Seiten.
Beat Mazenauer
Page créée le: 08.12.04
Dernière mise à jour le 08.12.04
|