«Jacob beschliesst zu leben», «Jacob beschliesst zu lesen», «Jacob beschliesst zu lügen», «Jacob beschliesst zu lachen» – der fünfte Roman von Catalin Dorian Florescu wurde häufig falsch zitiert – doch so falsch sind die oben genannten Titel auch wieder nicht, gehören doch alle genannten Verben zum Leben des Helden, ebenso wie das tatsächlich gewählte «lieben».
In seinem fünften Roman kehrt der 1967 in Timisoara (Temesvar) geborenen Catalin Dorian Florescu erneut in sein Herkunftsland Rumänien zurück. Im Banat, unweit seiner Geburtsstadt, liegt das Dorf Triebswetter, das 1772 von lothringischen Auswanderern gegründet wurde. Der Autor erzählt die Geschichte einer Familie dieses Dorfes der «Banater Schwaben». Vier männliche Vertreter der Familie spannen den Bogen vom siebzehnten bis ins zwanzigste Jahrhundert.
Der Deutsch-Lothringer Caspar Aubertin, als zwölfjähriger aus Dieuse vertrieben, wird zum skrupellosen Söldner im Dreissigjährigen Krieg. Er kämpft zuerst für die «Kaiserlichen», dann für die Schweden, desertiert schliesslich und erobert mit unglaublicher Brutalität seinen vermeintlichen Hof zurück, wobei er sich auch gleich eine Frau dazu nimmt.
Ein gutes Jahrhundert später fristet sein Nachfahre Frédéric ein kümmerliches Leben in Dieuse als Zigeunerfänger. Auch er tötet des Geldes wegen: entweder bringt er die gefangenen Zigeuner gleich um, oder er übergibt sie den Behörden und führt sie so ihrer Hinrichtung zu. Als Frédéric von der Möglichkeit der freien Ansiedelung im Osten der österreichischen Monarchie erfährt, macht er sich auf den Weg nach Wien, und von da mit dem Schiff weiter ins Banat. Unterwegs findet er die Frau, die für den Einlass ins Kaiserreich unabdingbar ist. In Wien lässt er seinen Namen auf Deutsch eintragen, und heisst fortan Frederick Obertin. Ausgerechnet er, der nur dank eines Raubmordes überhaupt im Banat ankommt, der weder lesen noch schreiben kann, wird nicht nur zum Gründervater des Dorfes Triebswetter, sondern auch zu dessen erstem Richter.
Diese Vorgeschichte des Dorfes wird im Roman erst später erzählt – zuerst taucht 1924 der Vater des Helden in Triebswetter auf. Jakob mit k gehört nicht zur Familie, doch er kommt mit dem festen Vorsatz ins Dorf, eine Obertin zu heiraten. Elsa Obertin hat es in Amerika zu einem gewissen Reichtum gebracht, ist dann zurückgekommen und besitzt einen ansehnlichen Hof, der eines Erben bedarf. Mit einer Mischung aus Rücksichtslosigkeit und Bauernschläue kommt Jakob an sein Ziel: Die Heirat findet tatsächlich statt und 1926 wird der Erbe, Jacob mit c, geboren.
Der letzte Obertin ähnelt seinem Vater und den Vorfahren seiner Mutter weder physisch noch psychisch: Er ist dünn, schwach und kränklich, und statt sich gierig zu nehmen, was er will und was ihm nützt, verliebt er sich scheu und zart in ein Serbenmädchen. Den zweiten Weltkrieg verbringt er mit seinem Grossvater in Temesvar, wo er die Lektüre für sich entdeckt. Beim Einmarsch der Russen holt ihn der Vater nach Triebswetter zurück. Damit beginnen für den jungen Mann schreckliche Zeiten des väterlichen Verrats, der Deportation durch die Russen, der Flucht, der Rückkehr, der Lügen und der erneuten Deportation, diesmal durch die rumänischen Kommunisten.
Gewalt und Verrat, Krieg und Vertreibung, Folter und Mord, Rassismus und Machtgier, Hunger und Durst, Krankheit und Tod – den widrigen Lebensumständen und menschlichen Abgründen versucht Jacob mit seiner Fähigkeit zu lieben und zu verzeihen eine Menschlichkeit im positiven Sinn entgegen zu setzen. Eine wichtige Rolle spielt auch das Erzählen selbst im Roman: Der Grossvater und der Vater, die Zigeunerin Romina, der Pope Pamfilie – alle, bis auf die fast immer stumme Mutter, erzählen dem Jungen Geschichten, ausgeschmückte oder ganz erfundene. So kommt der Titelheld auch zu zwei Geburten: In der Version des Vaters wurde er in Triebswetter auf einem Mistkarren geboren, unter den neugierigen Augen des ganzen Dorfes. Die Schmach dieser Geburt, nach der er noch immer stinke, lastet auf dem schüchternen Jacob. Die Zigeunerin Romina hingegen, die als Geburtshelferin dabei war, stärkt sein Selbstbewusstsein, indem sie eine ganz andere Begebenheit schildert: er sei in Temesvar zur Welt gekommen, und habe als erstes laut gelacht, so lange, bis der Vater vor ihm geflüchtet sei und das Haus verlassen habe.
An grossen Themen, an kollektiven und individuellen Schlüsselszenen mangelt es dem Roman also nicht. Die Erzählperspektive wechselt von Jacobs Sicht in der ersten Person zur historischen Erzählung in der dritten Person, wenn von Jacobs Vorfahren die Rede ist. Die vielen im Dorf überlieferten Legenden und Anekdoten werden ebenso eingewebt wie die Erinnerungen oder Lügenmärchen einzelner Romanfiguren. Der Erzählfluss folgt nicht der zeitlichen Abfolge, sondern wird von zahlreichen Rückblenden und Vorausschauen bestimmt. Trotz dieser kunstfertigen Konstruktion bleibt die Sprache jedoch seltsam gleichförmig und eindimensional. Grosse Symbole werden beschworen, wie jenes der Glocke, die am Anfang des Buches in den Glockenturm gezogen, und am Ende von den Rückwanderern heruntergeholt und mitgenommen wird – doch die Bilder erinnern an einen Kostümfilm, der keinen Aufwand scheut und dennoch nicht wirklich zu packen vermag.
Im historischen Roman einer Gemeinschaft finden sich aber auch berührende Einzelbeobachtungen, kleine Verschiebungen in der Beziehung zwischen Vater und Sohn, Grossvater und Enkel oder zwischen den jungen Liebenden. Auch bestechen einzelne Beschreibungen der Natur und der Stadt, sowie kurz skizzierte Nebenfiguren mit ihrer starken, unmittelbaren Präsenz. Diese kleinen, feinen Miniaturen, wie auch das spannenden Familienepos aus einem fremden Land und einer fernen Zeit begeistern die Leserinnen und Leser: Jacob beschliesst zu lieben wurde mit dem Schweizer Buchpreis 2011 ausgezeichnet.
Ruth Gantert
Page créée le: 19.12.11
Dernière mise à jour le: 19.12.11
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