Sterben ohne tot zu sein
Raphael Urweider zum zweiten
In seinem zweiten Gedichtband Das
Gegenteil von Fleisch schlägt der Berner Raphael
Urweider eine Moll-Tonart an. Seine neuen Gedichte erweitern
die lyrische Formensprache und geben dem Unergründlichen
mehr Raum.
"Lichter
in Menlo Park hiess vor drei Jahren das erstaunlich
ausgereifte Debüt. Raphael Urweider umspielte darin
mit Eigensinn die Unruhe des Forschens und Suchens, wie
es auch Wissenschaftler betreiben. Das Gegenteil von
Fleisch setzt da an, bohrt indes stärker in die
Tiefe des Erdgesteins wie des melancholischen Empfindens
hinab.
vorstellen zu sterben nicht
aber tot zu sein
für immer so wie ich gelebt hätte für immer.
Diese Verse am Ende des Buches bringen
die Stimmigkeit auf den Punkt: Herbst, Stein, Trübe
und Vergänglichkeit sind Chiffren für ein lyrischen
Bedenken über die Grenzen des Absehbaren hinaus.
Die Unruhe steht unter einem andern Stern. Die explodierende
Farbigkeit der Bäume, das kristallklare Licht im Herbst
sind nicht nur schön, in ihnen schwingt eine Vorahnung
von Vergänglichkeit mit. Der Aufwand manifestiert Widerstand.
Ergeben hüllt sich das lyrische Ich in diesen Zwiespalt
der Stimmungen ein.
Das Gegenteil von Fleisch
übt sich im fliessenden Daneben-Sprechen. Urweider
vermeidet harte Schnitte und ausgefallene Metaphern. Indem
er zurückhaltend Bilder zueinander stellt, eröffnet,
entpuppter neue, überraschende Zusammenhänge.
Beispielsweise in der Abteilung Stationär.
Flüchtige Bahnhofseindrücke und die Beobachtung
eines Schwarms Fruchtfliegen überlagern sich gegenseitig
zu einem nicht ausgesprochenen Vergleich.
Das Verfahren ist symptomatisch. Es sind leise Töne,
die diese Gedichte anschlagen, fragile Korrespondenzen,
die im Hintergrund eng miteinander verwoben sind. Feine
Differenzen heben sich ab vom üblichen Sprachgebrauch:
Menschen ertragen ihr Gepäck.
Die Überschrift über die
erste Abteilung ist poetologisches Programm: Faltenwürfe.
Indem Urweider weitgehend auf Satzzeichen verzichtet und
dem Zeilenende die Funktion des Abschliessens raubt, erzeugt
er einen lyrischen Fluss, der fortwährend interpunktiert
werden muss.
Während der Lektüre entwickelt sich ein raffiniertes
Spiel mit offenen, doppeldeutigen Zuordnungen:
ein von körpern abgetrenntes
lächeln fischköpfe vielleicht.
Das Zwielicht, das Urweider besingt,
findet so formal eine artistische Entsprechung.
Sprechweise und Motivverflechtung
bespiegeln eine verworfene geologische Gliederung, die vom
lyrischen Ich vielfach beschworen wird. Auf Stein sind diese
Gedichte gebaut: Da bleibt stein auf stein, verschiebt
sich nur leicht / aufeinander ... / Poröse, mit eisenglimmer
durchsetzte trümmertextur. Der Dichter wirft
syntaktische Falten auf. Er lässt den Sprachfluss stocken
und sich überwerfen, Worte und Bilder sich wiederholend
verwandeln. Darin beweist er höchstes Formbewusstsein,
das lyrische Entgrenzug mit feiner Zurückhaltung übt.
Am Grund dieser Gedichte klingt indes ein starker Moll-Akkord.
Das Herbstliche prägt die Verse. im verlust enthalten
war wohl: deine kunst besingt mit umgekehrten Rollen
Eurydike ihren Geliebten. Nicht sie erretten wollte er,
nur seine Trauer retten.
Die tellurischen Mächte lassen auch das Fleisch erstarren,
sind ihm gewissermassen Ideal. Der längste Zyklus Steine
erzählt in Anspielungen die Geschichte eines Todes.
Der Petrograph hält sich ehern an die Erdgeschichte,
dekliniert Gesteinsformen: das gegenteil von fleisch,
um den wuchernden Tumor hinweg zu denken. Doch ihm zu entrinnen
vermag er nicht.
Beat Mazenauer
Page créée le: 15.01.04
Dernière mise à jour le 29.01.04
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