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Katharina Geiser
Diese Gezeiten, Salzburg, Jung und Jung, 2011.

4ème - Weil wir Menschen sind (Beat Mazenauer)

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  Katharina Geiser/ Diese Gezeiten


Katharina Geiser/ Diese GezeitenZwei Frauen aus der Pariser Surrealistenszene, Lucy Schwob und Suzanne Malherbe, verlegen 1937 ihren Lebensort auf die Kanalinsel Jersey. Sie suchen hier Ruhe, doch 1940 wird die Insel durch die Nazis besetzt. Stillhalten und abwarten, oder sich widersetzen? Mit den Mitteln surrealistischer Verfremdung beginnen sie anonyme Flugblätter zu schreiben. Sie werden gefasst, verurteilt und kurz vor Kriegsende begnadigt. Einfühlsam erzählt Katharina Geiser in „Diese Gezeiten“ von der Kraft des Widerstands, den die zwei Frauen leisten. Und sie schildert, wie sich die harten Gegensätze aufweichen. Der Soldat Otto, zum Beispiel, sieht und hört nichts, wenn Gefangene untereinander Informationen austauschen.

Katharina Geiser, Diese Gezeiten, Salzburg, Jung und Jung, 2011

 

  Weil wir Menschen sind (Beat Mazenauer)


Den Sprung nach England schaffte die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg nicht, lediglich die britischen Kanalinseln wurden von ihr am 1. Juli 1940 besetzt. Drei Jahre zuvor waren zwei Pariser Künstlerinnen aus dem Kreise der Surrealisten auf die Insel Jersey ausgewandert. Lucy Schwob, mit Künstlernamen Claude Cahun, und Suzette Malherbe alias Marcel Moore richteten sich an der St. Brelade's Bay ein kleines Refugium ein. Sie waren beide zwischen vierzig und fünfzig, als Stiefschwestern miteinander verbunden und zugleich ein Paar. Sie kannten Jersey bereits von früheren Aufenthalten her. Nun lagen die wildesten Zeiten hinter ihnen: „Als die Stadt der Städte uns nicht mehr hielt, haben wir das Festland verlassen“. Aus dem schrillen Bohèmeleben zogen sie in eine Inselidylle um – ein Gedichtband von Robert Desnos hielt das Band dazwischen aufrecht: „The Night of Loveless Nights“ mit der Endzeile „Ô Revolte!“.
Mit der deutschen Besatzung nahm die Ruhe ein abruptes Ende. Lucy drohte Gefahr wegen ihrer jüdischen Herkunft. Eine diesbezügliche Vernehmung endete folgenlos in einem dadaistischen Sprachgewirr. Auf die Frage, ob ihre Mutter eine „Jew“ gewesen sei, gab Lucy zurück: „Chew? Wohl kaum. Ich glaube, sie hat niemals Kautabak genommen.“

Lucy und Suzanne haben sich im Paris der Dadaisten und Surrealisten um Breton, Desnos oder Crevel längst mit allerlei Techniken der Verfremdung und Verballhornung vertraut gemacht und selbst ihren Teil dazu beigetragen. Nun sollten diese aufs Neue eingesetzt werden.
Die eigenwilligen Freundinnen nahmen genau wahr, was um sie herum vorging. „Wir glauben, was wir wollen. Wir fühlen, was wir wollen. Wir sehen, was wir sehen.“ Daran gab es nichts zu rütteln. Während der eine Teil der Inselbevölkerung sich hartnäckig widersetze, fügte sich ein anderer willig den neuen Befehlen. Das Regime der Deutschen war auf Jersey vergleichsweise moderat, doch die stummen Züge der mageren Zwangsarbeiter liessen sich nicht übersehen. So begannen Lucy und Suzanne Flugblätter zu collagieren, um sie an den unterschiedlichsten Stellen und Orten der Insel auszulegen, damit sie gefunden würden – am besten von deutschen Soldaten. Sie fertigten Einzelexemplare an, zeigten beispielsweise das Bild eines Soldatenfriedhofs und schrieben dazu: „Jesus ist gross, aber Hitler ist grösser. Denn Jesus starb für die Menschen, doch die Menschen sterben für Hitler.“ Sie leisteten Widerstand, weil, wie Lucy es ausdrückte, „ich Mensch bin und du auch, darum tun wir etwas gegen diesen ganzen Mist.“ So einfach war das.

Doch 1944 flog das Unternehmen auf – von jemandem verpfiffen. Vielleicht von jener Papierwarenhändlerin, die später, nach dem Krieg, diskret wegschauen würde. Die beiden Freundinnen kamen in politische Haft und wurden nach kurzer Vernehmung zum Tod verurteilt. Präzise lautete das Urteil auf: „Tod durch Erschiessen, und weitere sechs Jahre Zwangsarbeit und sechs Monate Gefängnis“. Galgenhumor oder bitterer Ernst? Die Frage stellte sich auch für die beiden Betroffenen. Sicherheitshalber fragen sie nach, ob Haft und Zwangsarbeit vor dem Erschiessen abzusitzen seien, oder nachher?
Lucy und Suzanne trieben mit den sprachlich unbeholfenen Deutschen ein rhetorisches Katz- und Mausspiel, das diese armselig aussehen liess. Sie spielten gewissermassen auf der Klaviatur der Ohnmächtigen – vergleichbar dem, was der Butler in Frank Capras Film „Lady for a Day“ (1933) sagt: „Wenn ich die Wahl der Waffen hätte, würde ich die Grammatik wählen.“ Und weil sei nicht allein waren, zeigten sich die deutschen Besatzer nicht unbeeindruckt.
Die Monate im Gefängnis waren geprägt einerseits durch Entbehrungen, Kälte und Hunger, andererseits durch ein lasches Haftregime, weil sich einige der einfachen Soldaten durchaus zu menschlicher Rücksicht überreden liessen. Einer von ihnen: „Otto sah und hörte nichts.“

Katharina Geiser erzählt diese provinzielle Widerstandsgeschichte mit Witz und Einfühlsamkeit, dabei nie verkennend, dass die Grenzen zwischen böser Willfährigkeit und nachsichtigem Schlendrian stets fliessend waren. Gegen Ende des Buches findet eine Frau namens Louisa Gould Erwähnung, die etwas früher als Lucy und Suzanne für vergleichsweise geringfügige Delikte nach Deutschland deportiert und anfangs 1945 in Ravensbrück ermordet wurde. Und bis in die letzten Kriegstage wurden deutsche Deserteure füsiliert.
Vor dem Hintergrund dieser Unsicherheit schildert Geiser die Haft ihrer  Protagonistinnen, die meist in getrennten Zellen hausten und nur über Zettelchen miteinander kommunizieren konnten. Aus ihrer Optik und ihrer Wahrnehmung schafft sie für die Haftzeit einen Resonanzraum, in dem  Dutzende von Geschichten nachhallen, die im Gefängnis auf alle erdenklichen Weisen erzählt und weiter erzählt wurden und davon kündeten, wie vorab der Widerstand bei jungen Leuten wuchs.
Katharina Geiser entdeckt in „Diese Gezeiten“ einen in vielerlei Hinsicht staunenswerten Stoff. Sie ist den beiden Freundinnen behutsam gefolgt, um ihre Spuren auf Jersey aufzuspüren und aufzuschreiben. Die recherchierende Erzählerin spricht in Du-Form mit sich selbst, um in einem innern Dialog erfundene Bilder auf ihre Glaubhaftigkeit zu prüfen oder um belegbare Fakten aus den Jersey-Archiven zu bekräftigen. Dabei nimmt die Autorin eine gewisse Unschärfe in Kauf. In das Zwiegespräch mischen sich auch Lucys und Suzannes Stimmen, so dass die narrative Zuordnung verwischt wird.
Das ändert freilich nichts an der wahrhaftigen Menschlichkeit, die im Tun der beiden Freundinnen spürbar wird: „Man muss alles unternehmen, um den Geist des Widerstandes, die Liebe zu Freude und Freiheit lebendig zu halten“, versichert Lucy. Im Schatten ihrer subversiven Aktionen entfaltet Geisers Roman das treffliche Bild einer Insel unter Besatzung. Moralisch korrektes oder falsches Handeln lässt sich nicht einfach auf Einheimische hier und Besatzer da verteilen. Auf beiden Seiten gab es damals Verräter: einheimische Spitzel und Anpasser, respektive fremde Soldaten, die wie Otto nichts sahen und hörten und so das Haftregime mit ihrer Nachsicht milderten, ja hin und wieder sogar Hilfe anboten. Wer könnte einem wie Otto nach diesem Buch noch gram sein?

Beat Mazenauer

 

Page créée le: 23.01.12
Dernière mise à jour le: 23.01.12

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