"Jeder Mensch
ist korrupt"
Die Stücke von Lukas
Bärfuss, dem "Dramatiker des Jahres 2005"
Der Schweizer Lukas Bärfuss
gilt momentan als der erfolgreichste und meist gespielte
Dramatiker im deutschen Sprachraum. Die Auszeichnung zum
"Dramatiker des Jahres" anlässlich der Mülheimer
Theatertage im Juni 2005 legt dafür Zeugnis ab. In
seiner Dankesrede hat Lukas Bärfuss das verdiente Lob
mit einer Kaskade von Fragen erwidert:
"Warum sollte einer wie ich Stücke schreiben?
Warum sollte einer wie ich auf die Idee kommen, Stücke
zu schreiben?
Was sollte sich einer wie ich davon versprechen, Stücke
zu schreiben?
(...)
Oder, im Gegenteil, findet einer wie ich, der Stücke
schreibt, durch die Sprache zu seinem Kern, zu seinem wahren
Wesen? Müsste er sich nicht fürchten vor diesem
Wesen, das da in seinem Zentrum hockt, vermutlich?"
Dass Bärfuss gerade dieses Wesen
in eine Frage kleidet, hat seinen guten Grund. Er kennt
keine gültigen Antworten. Seine Stücke demonstrieren
dies auf höchst subtile, gleichermassen diskrete wie
intensive Weise. Gerade dies prädestiniert sich nicht
nur zu Erfolgen auf der Bühne, sondern auch zu Lektüren:
Bärfuss-Stücke überzeugen auch in Buchform.
In seiner Laudatio hat Tobi Müller den Geehrten als
"Wanderer" bezeichnet, der gemächlich durch
sein dramaturgisches Gebiet schreitet und sich von den schrillen
Extremsportlern der Theaterszene darin unterscheidet, dass
er auf eine subtile, differenzierte Weise radikal ist, die
sich vielleicht erst bei der genauen Lektüre ganz offenbart.
Bärfuss verbindet Kraft mit Gelassenheit und Geduld,
das ist seine Stärke.
Während aktuell bereits sein neues Stück "Alices
Reise in die Schweiz" gespielt wird, bietet die Buchausgabe
von drei Stücken aus den vier Jahren gute Gelegenheit,
diese erzähl-dramatische Kunst genauer zu betrachten.
"Meienbergs Tod"
"Meienbergs Tod", 2001
uraufgeführt, demonstriert die Subtilität von
Bärfuss. Er verlegt sich nicht darauf, Szenen aus dem
Leben Meienbergs auf der Bühne zu spielen. Der Versuch
dazu wird gleich zu Beginn abgebrochen, um das Spiel auf
die Ebene der Spielenden selbst zu verlagern. So irritierend
und altbekannt dies anmuten mag, so raffiniert funktioniert
der dramtirgische Kniff in diesem Fall, weil sich die beiden
Ebenen bis zur Unkenntlichkeit einander annähern. Spiel
und Spiel im Spiel werden eins, der Hautpdarsteller vermag
die zu spielende Rolle nicht mehr von sich ablösen,
er wird zu Meienberg, lebt dessen Verzweiflung und Verfolgungswahn
nach. In der streitbaren Auseinandersetzung mit den Mitspielenden
kristallisieren sich Grundkonflikte heraus, bei denen es
um politisches Engagement geht, das der Meienberg-Darsteller
Daniel mit dem Dargestellten teilt: "Ich muss es tun.
Das ist eine Frage der Moral." Diese Nähe, die
das Spiel so authentisch macht, stört die Mitspielenden
ebenso wie Meienberg seine gleichgesinnten Mitstreiter immer
wieder auch genervt und provoziert hat. So nehmen jene am
Ende den Tod von Daniel / Meienberg mit einem Aufatmen zur
Kenntnis: "Du glaubst, eine Berufung zu haben, und
früher waren wir eifersüchtig auf deine Leidenschaft
im Stil, jetzt sind wir froh, davon verschont geblieben
zu sein. Denn wir kennen vielleicht noch das Wie, doch das
Wozu haben wir vergessen." Programmatische Sätze,
die auf den Autor Bärfuss zurückfallen. Tobi Müller
bemerkt in der Laudatio: "Dass Lukas Bärfuss das
zumindest in der Schweiz totgeglaubte Format des kulturell
und politisch kommentierenden Schriftstellers auch bespielt,
hat damit zu tun, dass er es kann. Denn seine Sprache bleibt
dabei einfach, sein schriftstellerischer Ehrgeiz tritt dann
etwas zurück." Allerdings ist zu betonen, dass
Bärfuss mit dem Wie sehr behutsam und klug umgeht.
Die Grosstaten des Helden Meienberg werden innerhalb eines
klar umrissenen Zeitkorsetts von 115 Minuten (die Uhr läuft
im Hintergrund ab) nur mehr kurz angedeutet als Auslassungen,
weil keien Zeit bleibt, sie zu spielen. Tatsächlich
fallen sie aus dem Raster, weil es gar nicht um diese Taten
geht, sondern um die Tragik und Ohnmacht einer Figur, die
Bärfuss feinfühlig, subtil und präzis herausarbeitet.
Neurosen
Die Doppelbödigkeit, die beim
Lesen der Stücke sichtbar wird, prägt auch die
beiden anderen Stücke. In "Die sexuellen Neurosen
unserer Eltern" wird die geistig zurückgebliebene
Dora von ihrer medikamentösen Fessel befreit, die das
Mädchen stumm und apathisch gemacht haben. Es hat stets
nur die Floskeln der andern wiederholt. Der hinzu gezogene
Arzt fungiert als neutraler, emotional unbeteiligter Türöffner,
der die neue Lösung anpreist. Er ist ein Siegfried
Freud redivivus und lässt damit den Fall jener Frau
anklingen, die 1900 Freuds erste Patientin war und deren
Analyse Freud unter dem Titel "Dora" beschrieb.
Bärfuss legt sein Stück vor dem Hintergrund dieser
historischen Verwicklungen an, doch vereinfacht und aktualisiert
er das Vorbild.
Die Absetzung der Medikamente führt dazu, dass sich
Dora verführen lässt und fortan nurmehr ans Ficken
denkt, was keineswegs die angestrebte Absicht gewesen ist.
Alle Appelle an die Vernunft des Mädchens schlagen
fehl, sodass die Entbindung des falschen "Man",
das Dora vom Arzt eingeredet wird, fehl schlägt. Dies
ist die eine Geschcihte: Ein Akt der Desillusionierung,
der an Begriffe wie "offene Psychiatrie" denken
lässt. Gegenläufig dazu verläuft (wie im
historischen Fall) die Entdeckung der elterlichen Neurosen,
die dem Kind, aller Heimlichkeiten zum Trotz, nicht verborgen
bleiben. Was ist Ursache, was Resultat? Bärfuss will
darüber nicht richten, er verweigert ein schlüssiges
Urteil. Entsprechend legt er seinen Stoff vor uns behutsam
aus, ohne auf grelle Theatereffekte zu zielen - was bei
einem solchen Stoff doch überraschen mag. Dora, der
Arzt, die Eltern werden vielmehr als kümmerliche Figuren
in einem Gesellschaftstheater vorgeführt, in dem jede
darauf bedacht ist, gute Figur zu machen, und gerade daran
scheitert. "Jeder Mensch ist korrupt", spricht
Dora, als ob wenigstens sie den Kern der Sache erkannt hätte.
Am stärksten überzeugt das Stück indes darin,
dass Bärfuss keine seiner Figuren je verrät oder
lächerlich macht. Ihnen allen wohnt ein tragischer
und daher Respekt heischender Kern inne.
Pilgerschaft
Diese Stärke zeichnet ganz besonders
auch das jüngste der drei Stücke: "Der Bus"
aus. Eine Pilgerin, der von Gott aufgetragen ist, nach Tschenstochau
zur schwarzen Madonna zu fahren, steigt in den falschen
Bus ein und wird unterwegs zu einem ganz anderen Ziel vom
Fahrer als Schwarzfahrerin entdeckt. Er will die Macht,
die ihm diese Situation verleiht, ausnutzen, doch die Pilgerin
hält alle Demütigungen heroisch aus. Dabei erhält
sie keine Hilfe von den anderen Passagieren, im Gegenteil.
Niemand will ihren Gottglauben ernst nehmen, weil sie alle
eine andere Gläubigkeit gewohnt sind - rituell beglaubigt,
aber ohne Hingabe. Allerdings ist auch Erika, die Pilgerin,
nicht als Christin geboren. In Anspielung auf ihr früheres
Leben unterstellt ihr der Fahrer, dass sie bloss in Polen
Drogen einkaufen und im Bus unbehelligt über die Grenze
schmuggeln wollte.
Bärfuss beweist stilistischen Gleichmut darin, wie
er die seelischen und tätlichen Grausamkeiten schildert,
mit der die Pilgerin behandelt wird. Nachdem ihr der Fahrer
zuerst eine Hand gebrochen hat, soll sie sogar umgebracht
werden, denn wo niemand etwas weiss, kann es auch keine
Sünde geben. "Wir Menschen sind gut, weil wir
die Strafe fürchten. Und jetzt ist keine Strafe in
Sicht. Also machen wir dir ein Loch." Diese Sicht der
Dinge, wie sie der Fahrer äussert, bestärkt eine
Mitreisende: "Du stehst vor einer grossen Tat, und
die grösste Tat bezeichnet gleichzeitig die grösste
Freiheit." Der Satz lässt an Massenmorde denken,
begangen von guten gewöhnlichen Bürgern. Erika
ist für die anderen keine Heiligenfigur, sondern ein
störendes Ärgernis. Hierin ist sie verwandt mit
dem Helden aus "Meienbergs Tod".
Allerdings wird der Busfahrer, eine durchaus vitale Figur,
zusehends von Erikas Heiligkeit ergriffen - und je mehr
er darin aufgeht, umso desillusionierter erscheint die Heilige
selbst. Ist sie überhaupt eine Pilgerin, fragt sich
am Ende. Die Frage bleibt ohne Antwort, denn die Stücke
von Bärfuss verweigern eine solche resolut. Dem entsprechend
verhindert Bärfuss aber auch, dass seine Figuren schrill
ins Eindeutige verzerrt werden. Jede von ihnen behält
etwas zutiefst Menschliches in ihrer grenzenlosen Einsamkeit
und Ohnmacht. Darin erweist sich auch hier die Doppelbödigkeit
des Stücks. Bärfuss zeigt kleine Ausschnitte der
Welt, ohne Besserwisserei. Sein Engagement äussert
sich in subtiler Differenzierung. Der Prozess der Desillusionierung
führt bei ihm nicht zur leer ge(t)räumten Bühne,
sondern zu einem Zustand der Ergriffenheit, in dem das Bewusstsein
kurz aufblitzt, dass es so etwas wie Menschlichkeit gibt,
wenn wir dies nur tätig anerkennen wollten.
Lukas Bärfuss braucht keine Parolen und kein Geschrei,
um politisches Theater zu machen. So ist es ein Glück
für die deutsche Theaterlandschaft, dass sie solche
Autoren hat.
Beat Mazenauer
Lukas Bärfuss: Meienbergs Tod -
Die sexuellen Neurosen unserer Eltern - Der Bus. Stücke.
Wallstein Verlag, Göttingen 2005. 220 S., 34.40 Fr.
Page créée le: 18.07.05
Dernière mise à jour le: 18.07.05
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