In ihrem opulenten Roman "Universalgeschichte
der Monogamie" (1997) erzählte Hanna Johansen
von Sophia, die sich bei ihrer Grosstante Lena einquartiert
hat, um ihre ambitiöse Arbeit mit demselben Titel zu
vollenden. Sophia hat das Werk vollbracht, Lena blieb eine
Randerscheinung. Nun dreht sich der Spiess um. Im neuen
Roman "Lena" erinnert sich die Grosstante - auf
das Eintreffen ihrer Nichte wartend die zu Besuch kommt.
Von der Liebe in anderen Zeiten
Lena freut sich auf den Besuch ihrer
Nichte. Noch ein paar Stunden bleiben, um alles vorzubereiten.
Um nachzudenken auch, denn das Nachdenken lässt sich
nicht vermeiden. Der Kopf, "voller Toter", kann
es nicht lassen. Die Figuren der Vergangenheit, fast alle
längst verstorben, kehren ein, unabweisbar. Sie ist
die ewig gleichen Selbstgespräche gewohnt, ein Kopf
voll nuschelnder Toten. Zieht Lena an einem der Erinnerungsfäden,
regt sich gleich ein ganzer Knäuel von unentwirrbar
verknoteten Anekdoten. Noch und noch dieselben, selten nur
blitzt eine neue Geschichte auf.
Lena freut sich, doch ein bisschen
ist sie auch beklommen.
Sie hat ihrer Nichte ein Geheimnis
zu verraten, ein längst fälliges Geständnis
zu machen. Sie ist die letzte, die die Bedeutung eine solchen
Satzes versteht: Ich habe sie selbst geboren, meine
Nichte, und das weiss sie immer noch nicht. Die Nichte
ist eigentlich ihre Tochter. Irgendwie hat sich seither
keine Gelegenheit ergeben, es ihr zu sagen. Irgendwie passte
es nie, am Ende aber muss es gesagt sein, der Wahrheit zuliebe.
Die 80jährige Lena ist die letzte, die davon weiss.
Die Schwester Lotte half ihr aus,
indem ich schwanger war und sie das Kind bekommen
sollte. Lotte wünschte sich ein Kind, und sie
war glücklich verheiratet. Lena dagegen lebte mit einem
ungeliebten Stockfisch zusammen, eine Vernunftheirat,
um nicht mehr in die Fänge der Liebe zu geraten. Doch
dann hat sie Willem getroffen, der seinerseits verheiratet
war.
Das gemeinsame Kind wäre ein
Skandal gewesen. Der lebensbejahende, wagemutige Willem
hätte ihn in Kauf genommen, doch die pragmatische Lena
suchte einen Ausweg mit ihrer Schwester. Nur wie sollte
sie dies endlich dem Kind sagen. Lena liegt die Pflicht
auf dem Gewissen. Viel lieber möchte sie dies und jenes
fragen. In ihrem Kopf spuken all die Toten umher, die sie
überlebt hat. Ihr Kopf ist
Hanna Johansen legt mit ihrem Monolog
ein kunstvoll fein gesponnenes Netz von Erinnerungen, Andeutungen,
Zweifeln aus, in dessen stummer Mitte das Ungesagte, Ungefragte,
Unbegreifliche steht. Je mehr sich Lenas Erinnerungsfäden
verknäueln, desto seltsamere Gestalt nimmt die Vergangenheit
an. Hätte es nicht ganz anders gewesen sein können?
Das Alter erst hält ihr Zeit
und Musse bereit, um sich zu erinnern, um all die Toten
zu trauern. Früher hatte Lena keine Zeit dafür:
Wir waren wohl immer zu sehr mit alldem beschäftigt,
was als nächstes erledigt werden musst. Bereits
als Kind musste sie der kranken Mutter zur Hand gehen. Als
diese mitten im Krieg starb und nach dessen Ende auch der
Vater nicht zurückkehrte, übernahm sie die Verantwortung
für die Familie.
Johansens Kunstfertigkeit beweist
sich vor allem darin, dass sie hinter den fadenscheinigen
Erinnerungen ihrer Erzählerin ein feinziseliertes,
fragmentiertes Zeitbild durchscheinen lässt: Inflation,
Machtergreifung, Krieg und Nachkrieg, Wirtschaftswunder
lassen nicht zu, dass Lena und die Schwestern ihre Wünsche
erfüllen können, mehr noch, überhaupt nicht
zum Wünschen kommen.
Die Figuren der Vergangenheit werden
von Lenas Erinnerungen gleichsam nur punktiert. Doch sie
selbst ist sich unsicher, zweifelt am Gedächtnis, erprobt
andere Sichtweisen. Dieses Jahrhundert war entsetzlich.
bilanziert sie beinahe verzweifelt, dennoch hat sie Glück
gehabt. Mehr noch, sie hat sich durchgesetzt. Lena, jetzt
gebrechlich und etwas unmutig, muss eine starke, aussergewöhnliche
Persönlichkeit gewesen sein, die nicht nur klaglos
ihr Bündel getragen hat.
So wie sie sich im Leben einrichtete,
entbehrt nicht der Tragikomik, zugleich verdient sie Bewunderung.
Mit Fug und Recht glaubt Lena, viel Glück gehabt zu
haben. Um sich für den stummen Willi selbst zu entschädigen,
hat sie beinahe 50 Jahre lang mit Willem ein ebenso kompliziertes
wie wunderbares Liebesverhältnis genossen.
Zu einem abenteuerlichen Leben bedurfte
es, umständehalber, keiner weiten Reisen und extravaganten
Lustbarkeiten. Der Alltag elbst war aufregend genug. Jetzt,
wo sie allein zurückgeblieben ist, drei Jahre nach
Willems Tod, nagen dennoch Zweifel und Schuldgefühle
an ihr. Und dann ist da noch dieses Geheimnis.
Lena ist eine wunderbar
intime Geschichte und zugleich ein historischer Roman, zusammengesetzt
aus den Schimären der Erinnerung einer alten Frau.
Es ist einfach zuviel drin, in meinem Kopf, zuviel
Vergangenes, das noch da ist, und es wird mehr klagt
sie und ist doch glücklich darüber, dass sie wenigstens
die Schimären aus der Vergangenheit noch besuchen.
Die Wahrheit möchte sie erinnern, doch was ist die
Wahrheit. Gibt es Wahrheit mit Lücken, und erlaubt
es Ungesagtes?
Eine breite Themenpalette geht ihr
durch den Kopf, von der Autorin raffiniert zusammen gehalten.
Hanna Johansen orchestriert Lenas verknoteten Monolog mittels
klug gesetzten Wiederholungen, ohne ihn auf eine Chronologie
zu verpflichten. Zeichnete sich die Universalsgeschichte
der Monogamie durch ihre eher strapaziöse, ausschweifende
Fülle aus, so konzentriert Johansen hier Kisten und
Koffer voller Lebensgeschichten auf knappe 150 Seiten.
Beat Mazenauer
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