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Eine der letzten Eintragungen in Max Frischs zweitem „Tagebuch 1966-1971“ lautet: „auch der Schrecken vor dem Alter nutzt sich ab“. Als er dies schrieb, war Max Frisch 60 Jahre alt. Mehr als ein Jahrzehnt später ist dieser Schrecken aber immer noch virulent, er wird akzentuiert durch Gedanken an den Tod. „Wie also stirbt man?“ steht auf den ersten Seiten eines neuen Tagebuchs, das Frisch 1982 anlegte mit der Absicht einer späteren Publikation.
Frischs Tagebücher sind eine eigene literarische Form, welche nicht Alltägliches festhält, sondern „Ergebnis des Kunstwillens im strengsten Sinn“ ist, wie Peter von Matt schreibt, der Herausgeber dieses dritten Tagebuchs. Die in Buchform erschienenen Vorgänger – „Tagebuch 1946-1949“ und „Tagebuch 1966-1971“ – bilden eine eigenständige, parallele Werkebene, von der aus das literarische Schaffen kritisch beobachtet und reflektiert wird. Dazu gesellt sich nun ein drittes Tagebuch, das allerdings bereits nach einem Jahr aufgegeben wurde.
„Ab Frühjahr 1982“ steht auf dem Deckblatt des Typoskripts unter der Überschrift „Tagebuch 3“. Zu jenem Zeitpunkt begann Frisch Texte zu sammeln, die er seiner Sekretärin diktierte. Die Eintragungen bestreichen den Zeitraum bis Frühjahr 1983, dann brach das Projekt ab. Sein persönliches Handexemplar ist nicht überliefert, Frisch vernichtete es womöglich. Vor ein paar Jahren aber hat seine Sekretärin Rosemarie Primault das Typoskript aus ihrem Besitz dem Max Frisch-Archiv übergeben.
Entwürfe zu einem Tagebuch
Die Frage lautet also: Wollte Frisch dieses Tagebuch beseitigen mit dem Zweck, dass es unpubliziert bleibt? Eine Antwort darauf ist nicht leicht zu finden. Aus der Optik des Autors ist das „Tagebuch 3“-Projekt gewiss unabgeschlossen geblieben. So ausgearbeitet die einzelnen Notate sind, als Ganzes fehlt ihnen die Geschlossenheit. Aus dem Satzbild ergibt sich überdies der Eindruck grösserer Lockerheit, bedingt durch die Kürze vieler Texte, was zumindest eine Differenz zu den autorisierten frühern Tagebüchern schafft. Der korrekte Buchtitel „Entwürfe zu einem dritten Tagebuch” trägt dem Rechnung.
Anders betrachtet folgt auch dieses „Tagebuch 3“ jenem Konzept, das Frisch in seiner Vorrede von 1949 festhielt. Das Tagebuch ist wesentlich begründet in der „Zeitgenossenschaft“ des Autors, und seine Teile sind „Steine eines Mosaiks“. Auch das dritte Tagebuch verfolgt ein paar zentrale Gedankenstränge, die sich lose miteinander verknüpfen. Sie lassen sich vereinfacht unter vier Stichworten subsummieren: Alice, Peter Noll, Amerika und ein Vorgefühl des Lebensabends.
„Hänge ich am Leben? / Ich hänge an einer Frau. / Ist das genug?“ – lautet eine der frühesten Eintragungen. Die 30 Jahre jüngere Alice Locke-Carey war seit 1980 Frischs Lebensgefährtin, die mit ihm zwischen New York und Berzona pendelte. Das Tagebuch gibt eine Zeit der Liebe wieder, aber auch der Diskussionen.
Als Amerikanerin konnte Alice die kritischen Ansichten Frischs über das gegenwärtige Amerika nicht teilen. Mit kritischem Blick und mitunter aufwallendem Zorn verfolgt dieser die politischen Entwicklungen, für die seit 1981 Ronald Reagan verantwortlich zeichnet. „Mein Zorn auf dieses Amerika heute ist anstrengend, weil er jeden Tag einmal wiederlegt wird, aber nicht erledigt für immer; er kommt immer wieder. (...) Es gibt verständlichen Hass, aber keinen gerechten Hass, hingegen gibt es einen gerechten Zorn, und eben da wird es so anstrengend“.
„Ich werde ein Greis“
Am 20 April 1983 notierte Frisch in seiner Agenda: „Alice geht nach NY. Ende“. In diesem Zeitraum bricht auch das „Tagebuch 3“ ab.
Alice war 32 Jahre jünger als Frisch und liess ihn sein Alter spüren, wie Eintragungen verraten, und seine Ohnmacht vor der „Augenblichkeit unserer Existenz als Leere vor dem Tod“. Mit dem welkenden Leben verbindet sich in diesen Eintragungen der leitmotivisch wiederkehrende Traum von einem Haus, das er – an wechselnden Orten – für den Lebensabend einrichten würde. Einen letzten Ort bauen, als Geste des Aufbruchs und als Refugium zum Ende hin, lautete ein Traum. Kurze Bemerkungen geben zugleich Signale der Resignation: „Es langweilt mich jeder Satz, den ich geschrieben habe...“ – auch wenn diese Signale dazu dienen, den eigenen Ehrgeiz nochmals anzustacheln.
Um das Ende kreist vor allem das bewegende Zentrum dieses Tagebuchs: das Sterben des Freundes Peter Noll. Im Dezember 1981 hatte der eine Krebsdiagnose erhalten, ein Jahr später erlag er seinem Leiden, das er selbst in berührenden „Diktaten“ protokollierte. Noll konfrontierte Frisch mit dem (allzu frühen) Tod. Es sind bewegende Szenen, die dieser festhält, etwa wie Noll todkrank auf einer gemeinsamen Reise nach Ägypten zusammenbricht. Auszüge aus dem „Tagebuch 3“ sind in Frischs Totenrede auf Peter Noll eingegangen.
Prägnanz und Stilwille
Auch wenn der Autro womöglich Einspruch erhoben hätte, so gibt es doch gute Gründe für eine Veröffentlichung dieses dritten Tagebuch-Entwurfs. Frisch zeigt sich darin als messerscharfer, auch selbstkritischer Beobachter und als engagierter Zeitgenosse. Funkelnde Ideen wie die einer zu schreibenden „finanziellen Autobiographie“ tauchen kurz auf. Auch wenn das „Tagebuch 3“ als Ganzheit in vielerlei Hinsicht ein nicht gänzlich durchgestaltetes Fragment blieb, werfen seine Eintragungen einen vitalen, auch berührender Schatten auf Leben und Werk in jenen Jahren.
In dieser Form steht dieser Entwurf dem üblichen Tage- und Notizbuch näher. In funkelnden Formulierungen demonstriert sein Verfasser darin dennoch seinen unbedingten Stilwillen. Die Notate selbst fallen kürzer aus als in den frühern „Tagebüchern“, dafür münden sie gerne in eine feine Pointe, die abschliesst und den Raum zugleich weitet. „Du bist eine schöne Seele. (Wie übersetzt man das?)“
Beat Mazenauer |