Hugo Loetscher:
Schriftsteller, Journalist, Reisender zu gleichen Teilen -
und hierzulande vor allem ein bedeutender Vermittler von fremden
Kulturen.
Eine Literatur mit Haftung
"Moral war für ihn weder
Botmässigkeit, noch Gedankenweisheit, sondern das unendliche
Ganze der Möglichkeiten zu leben... Moral ist Phantasie."
(Robert Musil)
Vielleicht war es die prägende
Erfahrung, nicht dazuzugehören, die Hugo Loetscher
einst veranlasste, nicht nur die Sihl, "den minderen
Fluss", sondern die Grenzen des Heimatlandes zu überschreiten
und ausserhalb nach neuen Erfahrungen zu suchen. 1929 im
Zürcher Aussersihl geboren, wuchs Loetscher in kleinbürgerlich-proletarischen
Verhältnissen auf, eine Umgebung, die seine soziale
Wahrnehmung schärfte und ihn zwang, Grenzen zu überschreiten.
Zuerst nur jene über die Sihl, den "minderen Fluss",
um ins bürgerliche Gymnasium, später dann an die
humanistische Institution Universität zu gelangen,
schliesslich über die heimatlichen Demarkationen hinaus
in die Fremde. So war früh die Welt in Frage gestellt.
"Man entfremdet sich der bisherigen Umgebung und wird
doch nicht der Freund der neuen Umgebung", erinnerte
er sich später, weshalb man sich dazwischen einzurichten
hat, z.B. als Beobachter. Nebst Fremdheit erzeugte der prägende
Einschnittdas auch ein kulturelles Defizit und als dessen
Folge einen "proletarischen Hunger nach Büchern...,
nach Wissen, nach Kultur, nach Information", den zu
stillen Loetscher bis heute nicht geschafft hat. So scheint
in frühen Jahren schon eine Perspektive angelegt, die
Loetscher 1963 in seinem ersten Buch "Abwässer"
wiederaufnehmen sollte.
"Nicht der Einstieg ist gefährlich,
sondern die Rückkehr an die Oberfläche."
In "Abwässer", dem
dieses Zitat entnommen ist - und der dem Autor notabene
die erste literarische Ehrung (den Charles-Veillon-Preis)
eingebracht hat - in "Abwässer" entwickelt
die Ich-Figur einen subversiven Blick auf die sichtbare
Realität. Mit untrüglichem "Abwasserblick"
durchschaut sie, von Beruf Stadtverantwortlicher für
das Kanalisationswesen, die Welt von unten her. Er weiss,
"dass es zu unseren Füssen eine andere Stadt gibt
als die, die wir mit den Augen sehen - eine Stadt, die im
Dunkel liegt, klarer angelegt als die Stadt an der Oberfläche".
Von unten besehen erhält die Wirklichkeit neue, schärfere
Konturen, die befremdliche Perspektive macht das unscheinbare
Detail sichtbar und lässt erkennen, was gemeinhin aus
dem Blickfeld gerückt wird: die Opfer und Ausgestossenen,
das Verdrängte und Vernachlässigte, die Wirklichkeit
in einem umfassenderen Sinne. Erfahrungsgemäss erweise
sich, legt der Inspektor in seinem Bericht dar, nicht der
Einstieg in diese Unterwelt als gefährlich, sondern
die Rückkehr, wenn nämlich Autofahrer die Warntafeln
übersehen und die der Dole Entsteigenden überfahren
würden.
Dieses Reich der "Abwässer"
ist im Kern eine soziale Metapher, die sich auf den Globus
übertragen lässt. Unter der Oberfläche des
helvetischen Wohlstands erstreckt sich drunten in der südlichen
Hemisphäre eine unübersehbare 'Kloake' aus Armut
und Not, aber auch aus Reichtum und Vitalität. Gleichermassen
metaphorisch gewendet werden kann auch das Diktum von der
Gefährlichkeit der Rückkehr - nämlich bezogen
auf den Globetrotter Hugo Loetscher. Seinen von Fernweh
inspirierten Reisen nach Lateinamerika oder nach Indonesien
werden erst Schranken gesetzt, wenn der Heimkehrende seine
neu gewonnenen Erfahrungen mit dem schweizerischen Alltag
konfrontiert. Die Rückkehr ist gefährlich, weil
sie den einen entfremdet und die Zurückgebliebenen,
argwöhnisch macht. Will ihnen da jemand den schwer
erkrampften Besitz wegstehlen?
Sich selbst hat Loetscher einen "städtischen
Menschen" genannt, der den urbanen Erfahrungsraum zum
Leben benötige. Das Beobachten ist zentraler Bestandteil
seiner Urbanität: sein Orientierungsmodus. Es machte
ihn zuerst zum Flaneur, dann zum Reisenden, der - von Fernweh
angestachelt - mit Vorliebe auf den Spuren der portugiesischen
Sprache und Kultur wandelt. Über Lissabonn hinaus entdeckte
er so Brasilien und schliesslich die gesamte vitale Vielfalt
des lateinamerikanischen Kontinents.
Zwei aussergewöhnliche Bücher
zeugen davon: "Wunderwelt. Eine brasilianische Begegnung"
(1979) und "Herbst in der Grossen Orange" (1982);
zwei fast schon ethnographische Studien aus zwei ganz und
gar verschiedenen, randständigen Wunderwelten, die
- nebeneinander gelesen - einen intimen Dialog zwischen
zwei ungleich begüterten Kulturen ergeben: dort (im
kargen Nordosten Brasiliens) herrscht eine trostlose Vitalität,
da (im gleissnerischen Los Angeles) ist das Leben von fröhlicher
Teilnahmslosigkeit geprägt: "Wo alles eine Rolle
spielte, spielte nichts mehr eine Rolle". Wogegen in
der brasilianischen Misere scheinbar nichts mehr eine Rolle
spielt und daher noch der winzigsten Kleinigkeit wesentliche
Bedeutung zukommt. Exemplarisch führt es Loetscher
an der "volksverbunden Blechkultur" vor, der er
ein Museum stiften möchte, in dem alles aus Blech und
somit echt ist - im Unterschied zur amerikanischen "Filmwirklichkeit".
Denn immerhin, die brasilianische Vitalität gibt Anlass
zu einer kleinen Hoffnung: "in diesem Nordosten besitzt
die Misere Phantasie." In diesen beiden Büchern
entwickelt Loetscher ein Bild der Welt von ihren Rändern
her - in deren Mitte stumm die Schweiz ruht.
Seine reichen Erfahrungen auf allen
diesen Wegen hat zum einen der mit Geschichten angefüllte
Roman Die Augen des Mandarin (1995), zum anderen
die Fotografie-Ausstellung widerspiegelt, die mit Texten
von Loetscher im Band Durchs Bild zur Welt gekommen
Scheidegger & Spiess 2001) dokumentiert ist.
Im Kontrast zur brasilianischen Lebensfreude
scheint hierzulande eher ein trostloser Missmut zu herrschen,
der sich in einem permanenten Muff-Sein als "innere
Bereitschaft" manifestiert - ein Missmut, der nicht
nur willig erduldet, sondern vorsätzlich gehätschelt
wird. Dieser Schweiz hält Loetscher mit Witz den "fremden"
Spiegel vor, um ihr ein Selbstbild ohne perspektivische
Verzerrung und Idealisierung zu zeigen. Im Rahmen einer
so gearteten "Dialektik von Fremdorientierung und Selbstfindung"
fällt der Blick unweigerlich auf die eigenen "wilden
Territorien" zurück: auf Armut, soziale Unrast,
ökologische Verwüstung - die Kanalisation unter
dem Wohlstand. Dies zu veranschaulichen, hat Loetscher das
traditionelle Entdecker-Schema in einer Erzählung umgedreht:
Indios suchen in dem helvetischen Alpen-Eldorado nach den
sagenhaften Goldschätzen. In ihrem Staunen spiegelt
sich das gegenseitige Unverständnis zwischen den Kulturen,
d.h. zwischen unterschiedlichen, aber gleichwertigen Lebensmöglichkeiten.
Die gleichzeitige Vertrautheit mit
dem Fremden und dem Eigenen prägt entsprechend auch
Loetschers bekannteste literarische Figur, den Immunen.
"Es gebe Fremdes", sinniert er in dem gleichnamigen
Roman von 1975, "das Gefahr bedeute, und gegen diese
müsse man sich wehren; aber es gebe Fremdes, das unerlässlich
sei fürs Eigene, und dieses Fremde dürfe man nicht
abstossen, sondern das müsse man aufnehmen - es könnte
doch der Moment kommen, da wir nur noch dank Fremdem weiterleben
könnten."
Er ist eine Verkörperung des
wachsamen Reisenden, der am liebsten "in alle Richtungen
gegangen und aus allen Richtungen zurückgekehrt (wäre),
bis jeder fremde Ort ein vertrauter wurde, jeder vertraute
sich einem fremden anglich". Seine Offenheit nutzt
Loetscher zu einer stilistischen Öffnung und redet
im Sinne "eines epochalen Lebensgefühls, dass
alles denkbar und möglich und letzten Endes gar machbar
ist", einer Stilmischung das Wort, die, in der Tradition
der von ihm geschätzten Dichter José Marti und
Padre Antonio Vieira, ebenso literarisch wie journalistisch
ist. Diese beiden Autoren haben Loetscher zur "Behaftbarkeit"
seines Schreibens angeleitet und ihm gezeigt, wie Stil und
Moral sich wechselseitig bedingen.
Behaftbarkeit und Moral sind denn
auch die zentralen Kategorien seines literarischen Engagements;
die Ironie ist ihre Form, in der jene zwanglos aufgehoben
werden. Ironie erst konstituiert den für Loetscher
typischen Stil, da sie auf einem moralischen Fundament gründet,
dem der Ironiker Schreiben (und Leben) schuldet. Es ist,
bemerkte der Autor dazu, "eine immanente Moral, die
aus dem Ästhetischen selbst erwächst. Stil steht
für Verantwortung." Hugo Loetschers Werke leiden
nicht unter solchem ironischen Moralismus, vielmehr faszinieren
gerade deswegen; er sprengt die engen Horizonte - die literarischen
und wichtiger noch die politischen und kulturellen.
Der Reisende mit dem fremden Blick,
ist beseelt von einer Utopie des gerechten und friedlichen
Zusammenlebens zwischen den Kulturen. "Eine Öffnung
würde erstaunliche Wirkungen zeitigen", bemerkte
er vor Jahren: "Man würde nicht etwas für
spezifisch nehmen, was es nicht ist, und man würde
Eigenes dort entdecken, wo man es nicht (oder noch nicht)
vermutet."
Beat Mazenauer
Page créée le: 26.03.02
Dernière mise à jour le 26.03.02
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