Mit seinem Roman Die verschluckte
Musik sorgt der Aargauer Autor Christian Haller für
den literarischen Höhepunkt des Literaturherbstes 2001.
Die Gespenster der Vergangenheit
Die verschluckte Musik,
der neue, dritte Roman des Aargauer Schriftstellers Christian
Haller, führt auf eine Reise in die Vergangenheit.
Aus Bruchstücken einer schwindenden Erinnerung erhellt
sich die Geschichte einer Familie.
Der Fremdwörterduden definiert
Nostalgie als sehnsuchtsvolle Gestimmtheit,
die sich in einer verklärenden Rückwendung zu
früheren Zeiten ausdrückt. Wer unter Nostalgie
leidet, dem erscheint die Vergangenheit als verlorenes Paradies,
das in der Gegenwart keine Entsprechung zu finden vermag.
Unter Nostalgie leidet Ruth S., je
älter sie wird, umso stärker nimmt sie Zuflucht
zu Bildern aus ihrer Jugendzeit. 1909 geboren, wuchs sie
in Bukarest auf, dem Paris des Ostens, in dem die väterliche
Stellung als Fabrikdirektor ihrer jüdischen Familie
eine gutbürgerliche Existenz ermöglichte. Mit
Gehrock, Zylinder und Stock repräsentierte das Familienoberhaupt
bürgerliches Selbstbewusstsein und wirtschaftlichen
Erfolg.
Doch die politische Instabilität
bewegte die Familie S. 1926 zur Emigration aus Rumänien.
In der Schweiz übernahm der Grossvater die Leitung
einer Tuchfabrik. In Bukarest liess er nicht nur ein herrschaftliches
Haus zurück, das er wiederholt mit Akkuratesse aufs
Fotobild zu bannen versucht hatte, sondern auch den Traum
von einem eleganten und geglückten Leben. Ich
bin eine Emigrantin, ich habe mich nie anders in der Schweiz
gefühlt, beteuert seine Tochter Ruth noch 70
Jahre später. Sie ist gleichsam ein Leben lang am Donaupier
stehen geblieben, vor sich das Dampfschiff, das sie aus
der geliebten Stadt entführen sollte.
Erinnerungslücken und Tabus
Alarmiert durch die schwindende Erinnerungskraft
seiner Mutter wird ihr Sohn, von Beruf Altertumsforscher,
dazu veranlasst, selbst nach Bukarest zu reisen, den magischen
Ort der mütterlichen Nostalgie. Was er hier jedoch
zu sehen bekommt, ist ein Trümmerhaufen, eine durch
Krieg und diktatorischen Grössenwahn planierte Geschichte.
Der Altertumsforscher versucht Schichten
und Spuren freizulegen, um an die Quelle der eigenen Familiengeschichte
zu gelangen. Nach und nach verdichten sich alte Fotografien,
mütterliche Erinnerungsfetzen und die Erfahrungen vor
Ort zu einem episodischen, lückenhaften Sehnsuchtsbild,
das so nicht mehr existiert, vielleicht auch nie existiert
hat und das über Exil und Misserfolg hinweglügt.
Je mehr der Ich-Erzähler in
Christian Hallers Roman in der Vergangenheit schürft,
um so mehr öffnet sich ihm ein zweites Grabungsfeld:
die Geschichte Rumäniens, das ganz andere Erkenntnisse
zum Vorschein bringt. Hier ist weniger von Nostalgie als
vom Elend eines Landes zu spüren, das seit Mitte der
Zwanzigerjahre bis zum Sturz Ceausescus 1989 unter national-faschistischer
und stalinistischer Despotie litt.
Unter diesem Eindruck scheint sich
die Wehmut nach einer verflossenen Belle Époque zu
bestätigen. Doch die Erzählungen des rumänischen
Freundes Sorin Manea, ein Opfer von Ceausescus Terror, zerreissen
diesen schönen Schleier. Die Günstlinge des ehemaligen
Regimes hängen einer ähnlichen nostalgischen Sehnsucht
nach dem Vergangenen an wie die Mutter. Aus ganz anderen
Motiven freilich verdrängen sie die Realität,
die sie mitgeschaffen haben.
Behutsame Grabungen
Christian Hallers Roman Die
verschluckte Musik forscht einer Geschichte nach,
deren Produkt er selbst ist. Kunstvoll und subtil konfrontiert
er den privaten Familientraum mit der Zeitgeschichte. Beinahe
zufällig rückt der Holocaust ins Bewusstsein der
unbescholtenen Familie S., weil Onkel Mendel ins Lager musste.
Eine Episode am Rande des Zentrums.
Der Versuch seines Ich-Erzählers
zur literarischen Rekonstruktion bleibt dabei stets tastend,
vorsichtig, wie es sich für einen Altertumsforscher
gebührt. Er enthält sich vorschneller Urteile.
Kreisend, wähnend sucht er nach Einstichpunkten, sorgsam
legt er vor sich die unterschiedlichen Grabungsfunde aus,
um sie zu ordnen und interpretieren, ohne je den spekulativen
Charakter seines Tuns zu leugnen.
So ist Christian Haller ein sprachlich
überzeugender, zugleich kompakter wie verschlungen
arrangierter Roman gelungen, der rätselhaft bleibt,
wo nötig, und deutlich ausspricht, was dem Nachgeborenen
möglich ist.
Mutters Weigerung, die Gegenwart
anzuerkennen, versinnbildlicht die Tücke der Erinnerung,
die das Vergangene gerne in den Mantel des Idealen kleidet
und dabei die Flickstellen übersieht. Aus ihrem Bauch
klingt die Vergangenheit nach, doch diese Töne schwelgen
suggestiv, verführerisch, verklärend über
die Wirklichkeit hinweg. Es schwankt heissen
gleich lautend der erste wie der letzte Satz.
Christian Haller: Die verschluckte Musik.
Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2001. 272
Seiten, 32.80 Franken.
Beat Mazenauer
Page créée
le: 31.10.01
Dernière mise à jour le 31.10.01
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