Mariella Mehr schliesst
mit "Angeklagt" ihre Romantrilogie ab und legt
einen neuen Band mit Gedichten vor.
"Das unbezwungene Wort"
"Mariella Mehr gehört zweifellos
zu den sprachmächtigsten Autorinnen der Schweizer Gegenwartsliteratur.
Dabei schreibt sie kein erkennbares Idiom, das sich von
Buch zu Buch wiederholen würde. Vielmehr gelingt es
ihr immer wieder, eine ihren Inhalten angemessene, man möchte
sagen eigens geformte Sprache zu finden."
Dies schrieb die NZZ zu ihrem Lyrikband
"Nachrichten aus dem Exil". Mit neuen Gedichten
und vor allem mit dem Roman "Angeklagt" bestätigt
Mariella Mehr diesen Ruf auf eindrückliche Weise.
Widerwelten - auf Heimat hoffend
Sie schreibt weiter, Mariella Mehr,
trotz aller Enthäutung, denn Widerwelten,
behaupte ich, bedürfen meiner. Trotz und Widerstand
sind Charaktereigenschaften, die ihre literarische Arbeit
wesentlich prägen. Sie bedarf ihrer, um die eigene
verletztliche Haut zu schützen.
Nachrichten aus dem Exil
war 1998 ihr vorletzter Gedichtband betielt. Widerwelten
schliesst nahtlos daran an. Aus dem Widerleben
spriessen neue Widerworte. Doch Mariella Mehr begnügt
sich nicht mehr damit, aus allen Liedern verstossen
zu sein. Sie singt neue Lieder, um hoffend die Zukunft
schön zu schreiben.
Dass diese Zukunft erkämpft
ist, bedeutet jede Zeile, jede Metapher. In der Vorsilbe
Wider steckt die Auflehnung gegen Ausgrenzung,
aber auch gegen innere Ängste und Zweifel. Zugleich
formt sich aus dieser Vorsilbe die Brücke zur Selbstbehauptung,
denn es kommt keiner mir das Haar zu kämmen,
/ an dem ich hinabstiege, / schamlos vor Freude / Heimat
zu finden.
Solche Zeilen runden Mariella Mehrs
neue Gedichtsammlung ab und lassen sie versöhnlich
ausklingen. Das Wort genesen markiert den Schluss.
Es setzt dem Versuch, noch einmal der Blutspur entlang
zu tasten, bis zum Öhr, ein gutes, vorläufiges
Ende.
Kompromisslos und schonungslos brüllt
und klagt das lyrische Ich gegen die Welt an, heult und
lacht es vor flüchtigem Glück. Diese unbändige
poetische Wortgewalt löst Mariella Mehr nicht nur in
ihrer Lyrik, sondern auch in ihrer Prosa ein.
Angeklagt - fest auf unsicherem
Grund
"Angeklagt" heisst das
dritte Buch, das sich zusammen mit "Daskind" und
"Brandzauber" zu einer nun abgeschlossenen Romantrilogie
verbindet. Ihre Motive sind dieselben und sprachlich bleibt
sie sich treu, dennoch geht Mariella Mehr in ihrem neuen
Roman einen Schritt weiter. Hinab ins Unergründliche,
ins Grundlose. Angeklagt erzählt die Geschichte
der Mörderin und Brandstifterin Kari Selb in deren
eigenen Worten.
Ich bin im Zustand der Gnade.
Ich töte. Ich bin. So setzt ihr Bericht mit lakonischem
Gleichmut ein. Kari ist verwahrt, und niemand, auch der
Richter nicht, weiss, wie er die 25-jährige Frau verstehen
soll. Äusserlich ungerührt erzählt sie ihrer
therapeutischen Betreuerin von erschreckenden Untaten. Kari
sieht der Protagonistin von Daskind ähnlich,
doch ihre Herkunft ist weniger belastet. Die zerrütteten
Verhältnisse zuhause lässt sich das Kind nicht
anmerken. In der Schule lernt es fleissig und erträgt
die Hänseleien ohne Murren. Für die besoffene
Mutter kauft es ein, den Vater vermisst es längst nicht
mehr.
Karis Gegenüber, dem sie ihre
Geschichte erzählt, bleibt stumm. Einzig ihre Furcht
vor der Gefangenen spiegelt sich zwischendurch in deren
eigenen Reaktionen: besänftigendem Zuspruch, aber auch
leisen Drohungen.
Mariella Mehr rollt hier ihre Themen
neu aus und spitzt sie nochmals zu. Ein Foucault-Zitat gibt
den Tarif an: Weibliches Töten ist ein Schritt
aus der weiblichen Sprachlosigkeit. Ein Beweis der
Existenz. Im Unterschied zu den voran gegangenen zwei Romanen
zeigt die Heldin aber keine Stigmata der Andersartigkeit.
Kari ist weder Fahrende noch Jüdin. Sie stammt aus
einer normalen Kleinbürgerfamilie, die nach aussen
hin den Schein zu wahren versteht.
Ohne Grund
Bezüglich der sprachlichen Ausdruckskraft
reicht Angeklagt nicht ganz heran an jene beiden
Bücher, an deren stammelnde Fiebrigkeit und sezierende
Präzision. In Karis Monolog schleichen sich ein paar
leere Umdrehungen ein. Auch ist die Geschichte im Grunde
einfacher aufgebaut. Ihre Spannung resultiert aus der scheinbaren
Unanfechtbarkeit der Erzählerin, die grausamstes Tun
zugibt, ohne Motive dafür zu benennen.
Grundlos wirkt alles - trotz der
Unordnung im Elternhaus. Das Kind scheint sich gut gewappnet
zu haben. Malik aber, halb Freundin, halb Phantom, weist
dem Mädchen neue Wege, die verdrängte Not lustvoll
auszuleben. Gemeisnam fackeln sie Häuser ab. Dann muss
auch die Nutte aus der Kneipe dran glauben, weil sie rote
Schuhe trägt wie Malik.
Ein gebranntes Kind sucht das Feuer,
das Motto eines Romans von Stig Dagerman beschreibt Karis
Tun. Denn die Grundlosigkeit besteht nicht darin, dass es
keine Motive für die unerbittliche Grausamkeit der
Erzählerin gibt, sondern dass ihr Leben keinen Grund,
keinen Halt hat ausser der Tat. Sie rächt sich, indem
sie das Feuer schürt.
Zu ihrer Zuhörerin scheint Kari
jedoch Vertrauen zu fassen. Sie will ihr nichts Böses,
weil sie Verständnis spürt. Je mehr sie erzählt,
je präziser sie auf ihre Taten eingeht: die roten Schuhe,
das rote Blut, um so tiefer senkt sich die verdrängte
Erinnerung hinab in die Kindheit. Bis stockend, gestammelt,
in einem ungeordneten Stakkato schliesslich der Vater in
seiner mosntrösen Gestalt ins Bewusstsein zurück
kehrt. Das Eis der Unerschütterlichkeit schmilzt. Und
unglücklicherweise trägt die zusehends verschreckte
Zuhörerin auch noch rote Schuhe. Kari ergibt sich den
dumpfen Impulsen und boshaften Schimären.
Am Ende zerfliesst Mariella Mehrs
Roman in ein grausames Rauschen, das zutiefst irritiert
und ob seiner Grundlosigkeit auch erschreckt. Es gibt kein
Halten mehr, die unbezähmbare Wut muss heraus, im Tun
sich beweisen.
Beat Mazenauer
Page créée le 24.05.02
Dernière mise à jour le 24.05.02
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