drehpunkt 112
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Inhaltsangabe |
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Liebe Leserin, lieber Leser
Fisimatenten
Wir, Ausgehungerte
dieser Erde...
Elsbeth Pulver: Essay
über Gertrud Wilker
Gertrud Wilker: Gedichte
Gertrud Wilker: Fuge über eines armen Mannes
Sohn in fünf Fragesätzen
Nachtmusik und
Anemonen
Hanna Johansen: Flora
1-3
Ingeborg Kaiser: Gedichte
Anna Felder: Nachtmusik für die Mütter
Eine Nacht im Leben von Jürg Laederach
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Besprechungen und Hinweise
Rudolf Bussmann über Eleonore Frey
Frank Wittmann über junge Schweizer Literatur
Christoph Wegmann über Rudolf Bussmann
Werner Morlang über Sabina Naef
Martin Zingg über Ilma Rakusa
Martin Zingg über Charles-Albert Cingria
Neuerscheinungen von Schweizer Autorinnen und Autoren
Die Autorinnen und Autoren
Impressum
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Liebe Leserin,
lieber Leser |
Vor dreissig Jahren weckte sie mit
ihren ersten Romanen und Erzählungen das literarische
Interesse, vor knapp zwanzig Jahren ist sie - von der Öffentlichkeit
fast unbeachtet - gestorben, heute ist sie vergessen. Zu
Gertrud Wilkers Lebzeiten war das "Fräuleinwunder"
noch nicht erfunden. Schreibende Frauen mussten sich die
öffentliche Anerkennung in kleinen Portionen erkämpfen.
Auf den Frauenbonus aber, der mancher Kollegin zugute kam,
konnte eine Autorin nicht hoffen, die ihre Frauenfiguren
ohne emanzipatorische Gebärde ihren Platz in der gesellschaftlichen
Ordnung suchen liess.
Es ist wohl kein Zufall, dass Gertrud
Wilker der stillsten Form der Literatur, der Lyrik, erst
spät die Chance der Veröffentlichung gab. Ein
Blick in ihren Nachlass zeigt indes, dass sie das ganze
Leben hindurch Gedichte schrieb. Es war die Form, die sie
brauchte, um sich ihrer selbst zu vergewissern. Unser Schwerpunkt
enthält eine Reihe von Gedichten aus verschiedenen
Schaffensperioden der Autorin, die meisten davon entstammen
dem unpublizierten Nachlass. Der abschliessende Text bezieht
kontrapunktisch die Prosa mit ein. Auswahl und Präsentation
verdanken wir der Berner Kritikerin und Publizistin Elsbeth
Pulver.
Mit neuen Texten sind Anna Felder,
Hanna Johansen und Ingeborg Kaiser vertreten. Im Reigen
der schreibenden Frauen, die dieses Heft bestimmen, ist
Jürg Laederach der einzige Mann. Und auch sein Text
ist einem weiblichen Wesen gewidmet - der Nacht.
Die Bilder von Heinz Egger verstehen
sich als Antwort auf die Tuschzeichnungen von Henri Michaux
in unserem letzten Heft. Egger verwendet die gleichen Zeichnungsgeräte
(Pinsel, Kohle, Tusche), die Michaux gerne benutzte, und
auch er gibt dem Zufall Raum, Ihm und allen, die an der
Nummer mitgewirkt haben, gilt unser Dank.
Rudolf Bussmann und Martin Zingg
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Fisimatenten |
Manchmal warten die Probleme, die
über Jahre hinweg die Gemüter bewegen, nur auf
den Moment, wo sich endlich ein scharfer Denker ihrer annimmt.
Dann verschwinden sie wie Warzen, und man fragt sich, wie
man sich je über sie hat aufregen können.
Die deutsche Rechtschreibereform
war eine solche Warze. Jahrelang gab sie zu unfruchtbaren
Diskussionen Anlass - bis der Heiler auftrat, der sie besprach.
Weg ist das Ärgernis! Beim Heiler handelt es sich um
den Ökonomen Silvio Borner, Dozent am Wirtschaftswissenschaftlichen
Zentrum der Universität Basel. Seine Remedur geht dem
Problem, ohne sich bei oberflächlichen Symptomen aufzuhalten,
frisch an die Wurzel: "Vielleicht wäre es besser,
statt die deutsche Sprache zu verbessern, einfach auf Englisch
umzustellen."
Die einfachsten Hausmittel waren
schon immer die besten. Die Leserinnen und Leser jener Schweizer
Tageszeitung, die Zeugnis von Borners Intervention abgelegt
hatte, wurden staunend gewahr, dass zusammen mit der ersten
Warze auch eine zweite verschwunden war. Ohne jeden pädagogischen
Schmerz hatte sich der Streit um das Frühenglisch an
unseren Primarschulen in Luft aufgelöst. Künftig
herrscht in den Lektionen, wo früher das lästige
Deutsch die Schülerinnen und Schüler quälte,
vom ersten Schultag an ein happy learning. Ein Lernen im
Schlaf gleichsam. Denn "wenn einmal der kritische Schwellenwert
von Englisch Sprechenden überschritten ist, stellt
der Rest ohne jeglichen Zwang von selber um", weiss
der Professor. Und schon setzt er dazu an, unter unseren
staunenden Augen die dritte Warze zu besprechen. Leiden
wir nicht seit eh und je darunter, eine Klassengesellschaft
zu sein? Das ist nun vorbei! Endgültig - weil mit Englisch
"nicht mehr nur die Absolventen der höheren Bildungsanstalten,
sondern auch die Abgänger der Volksschule Zugang zur
Weltsprache von Wissenschaft, Technik und "Business"
hätten." Sunny days also für die Zu-kurz-Gekommenen,
welche nun, ausgerüstet mit globalen Sprachwerkzeugen,
die Hochschulen und die Direktorenposten für sich erobern
werden. Any questions ? Allenfalls wäre zu überlegen,
ob für jenes elitäre Grüppchen, das Goethe
und Dürrenmatt durchaus in der Ursprache lesen will,
Deutsch als Fremdsprache neu eingeführt werden sollte.
Vielleicht empföhle sich dafür das Frühdeutsch?
Darüber wird man lange und heftig streiten, bis dereinst
wieder ein Wunderheiler auftritt, der das Problem mit passenden
Worten von der Hand weg redet.
Rudolf Bussmann
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Gertrud Wilker
: Gedichte |
Lagunen des Glücks
Es gab Lagunen des Glücks
Salbeiige Bläue
Wolkenwollene Schafe weidend,
Eisenhut, Erdbeeren, Herdfeuersäulen
Am Rand des schieferig schimmernden
Sommergebirgs.
Gott unter schrägschattender Krempe
Seines himmlischen Schlapphuts
Winkte wolkenhändig herab.
Uns hing das selige Herz
Aus dem Mund wie ein Segel.
Wimpel, rot unter der Brise
Würziger Hoffnungen schwellend.
Niemand wird sie so wiederfinden,
Frage mich nie nach dem Standort
Nie nach dem Jahr. Nur glaub mir,
Es gab Lagunen des Glücks.
Gertrud Wilker
Gertrud Wilker : Gedichte/ Drehpunkt
p. 16
Memphis/Tennessee
Eine Stadt ist das die wir vergessen
werden
es regnete in die Fontänen im Rinnstein
lief das Abwasser zusammen das ist eine Stadt
wo es im Februar warm ist wir stiessen
auf einen Neger mit künstlichen Beinen
in einer koscheren Cafeteria assen wir Rindfleisch
die wir vergessen werden ich weiss nicht
wonach es riecht nach Popcorn oder Petrol
ich habe vergessen wonach eine traurige Stadt.
Gertrud Wilker
Gertrud Wilker : Gedichte/ Drehpunkt
p. 17
Page créée le: 29.04.02
Dernière mise à jour le 29.04.02
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