Ein Titan der Langeweile
Die Handlung ist aufs Notwendigste
reduziert. Maurice lebt in Berlin und führt im heruntergekommenen
Norden der Stadt ein "Kommunikationskontor". Er
hat eine Geliebte, und er hat vor allem Zeit, weil es um
seine Auftragslage schlecht bestellt ist. Aus Langeweile
widmet er sich der Frage, wer wohl in der Nachbarschaft
Cello spielen mag.
Er versucht hinter das Rätsel zu kommen. Allerdings
lässt er es an Dringlichkeit vermissen, denn eigentlich
will er nur danach forschen. Das Ahnen ist berauschender
als die Gewissheit. Im Kopf malt er sich alle möglichen
Cellisten und Cellistinnen aus.
Wir kennen das Motiv aus seinem letzten Erzählband
"Ein neuer Nachbar". Zschokke. "Jemand mit
einem Cello ist in meiner Nachbarschaft eingezogen",
beginnt die Erzählung "Das Cello" - und sie
endet nach mehreren Schlaufen mit einem schnöden "Fortsetzung
folgt". Die Titelerzählung dieses Bandes 80 Seiten
weiter hinten im Buch scheint das Motiv aufzugreifen, eine
Lösung bietet auch sie nicht an. Und so ist es nun
(scheinbar) der neue Roman, der Antwort geben wird auf die
rätselhafte Cellofrage. Es ist freilich leicht auszurechnen,
dass abermals keine rechte Klärung erfolgen wird.
Doch die beiden Bücher stehen in enger verbindung zueinander
in dem Sinn, als dass Matthias Zschokke seit Jahren einen
eigenen poetischen Weg geht. In manchen Passagen erinnern
seine Erzähler-Figuren an Wilhelm Genazinos Flaneure
- und sind doch ganz anders. Maurice beispielssweise schlendert
nicht aus Neugier durch die Strassen, vielmehr treibt ihn
die pure Langeweile dazu. "An sich geht es mir gut,
wenn da nur nicht Tag für Tag das Leben wäre."
Matthias Zschokkes Spürsinn für die Simulationen
des Lebens ist demnach weniger treffend präzis als
poetisch verspielt.
Ein stoischer Kommunikator
Trotz seines Berufs ist Maurice alles
andere als kommunikativ. Zuweilen fürchtet er sich
geradezu panisch davor, angesprochen zu werden. Er hält
sich lieber als stiller Beobachter am Rand, der sich seinen
eigenen Reim auf das Gesehene macht. Diese Scheu scheint
sein Erzähler mit ihm zu teilen. Beide glauben zu wissen,
dass die "unfassbarsten Tragödien und Komödien"
in unmittelbarer Nachbarschaft geschehen.
Mit dazu zählt der Erzähler auch die verdammte
Sucht, alles in Geldwert zu berechnen, sogar die Sorgen.
Er beklagt sich lauthals, dass selbst die Bäcker, "ursprünglich
besessen von der Idee, wohlriechendes Brot zu backen",
bloss noch welches verkaufen wollen. Deswegen sterben jährlich
"ganze Fuder freundlichster Zeitgenossen" an der
Einbildung, dass ihre Not ins Unermessliche wachse.
Doch der Temperamentsausbruch bleibt einmalig. Was immer
geschieht, diese Prosa bewahrt stoische Gelassenheit. Der
Erzähler folgt bedächtig den Spuren seines gleichmütigen
Helden durch die heruntergekommene Gegend um den Nettelbecker
Platz. Wer wie Maurice, die Grandiosität des Alltäglichen
erkennt und sich von ihr berauschen lässt, braucht
keine anderweitige Unterhaltung. Und die pekuniäre
Not, die zwischendurch anklingt, hält er sich mit unnützen
Trödeleien und Ideen vom Leib.
Manchmal reist Maurice auch, doch ohne rechte Freude; dies
besonders, wenn er in seine alte Heimat fährt, in ein
kleines Schweizer Dorf. Hier malte einst ein berühmter
Künstler das Bild "Maurice mit Huhn". Maurice
war sein Sohn, und die Berühmtheit Vaters führte
dazu, dass die Kinder reihum im Dorf auf diesen Namen getauft
wurden.
Maurice - und der Erzähler, nicht immer sind die Rollen
klar verteilt - schätzt die gewöhnlichen Überraschungen,
die das Leben bereit hält: Wir kennen sie als Faits
divers oder "Letzte Meldungen" aus den Zeitungen.
Zschokke liebt es, solche Nachrichten in seine Betrachtungen
auszunehmen. Vermehrt aber achtet Maurice auch auf das Älterwerden,
das er am eigenen Leib spürt, auf die Verpfuschtheit
des Lebens im Anblick des Todes. Zschokke lässt seinen
Helden darüber mit einer Unverfrorenheit nachsinnnen,
die bei einem anderen Autor zynisch anmuten würde.
Maurice ist ein poetischer Kauz, doch einer, der nicht sonderlich
auffällt. Seine Marotten sind gesellschaftstauglich,
und seine präzise Beobachtungsgabe nutzt er nicht,
um das Tun anderer lächerlich zu machen.
Seine zuweilen lässige Verspieltheit, die keiner so
virtuos gelassen beherrscht wie Matthias Zschokke, setzt
seiner Prosa ein irrlichterndes verführerisches Glanzlicht
auf. Keiner äussert seine bösen Gedanken in liebevollerem
Ton. So verspricht "Maurice mit Huhn" nichts und
hält alle Versprechen mit Bravour.
Matthias Zschokke: Maurice mit Huhn.
Roman. Ammann Verlag, Zürich 2006. 240 Seiten
Beat Mazenauer
Page créée le: 14.03.06
Dernière mise à jour le: 14.03.06
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