Die skurrilen Geschichten aus dem
Innenleben einer unbehausten Artistenfamilie, mit denen
Aglaja Veteranyi vor drei Jahren debütierte, überraschten
und verzauberten eine breite Leserschaft. Mit scheinbar
lapidarem Gleichmut liess sie darin ein kindliches Ich von
seinen Ängsten und seiner Sehnsucht nach Geborgenheit
erzählen. Der Erfolg wurde noch gesteigert durch das
schauspielerische Talent Veteranyis, das es ihr erlaubte,
die eigenen Texte ausgesprochen lebhaft vorzutragen.
Doch selbst die überschäumendsten
Reaktionen vermochten die Schwermut nicht zu erleichtern,
die Aglaja Veteranyi immer wieder heimgesucht hat. Im Februar
dieses Jahres ist sie auf traurige Weise aus das Leben geschieden.
Der Tod spielte schon im Polenta-Roman
eine zentrale Rolle, genauer die Angst davor: Ich
muss immer an den Tod meiner Mutter denken, sagt das
Kind, daran, dass die Mutter bei ihrer Zirkusnummer verunglücken
könnte. Um sich zu beruhigen und sich gegen diese Angst
zu schützen, nimmt es Zuflucht zu bösen Märchenspielen
wie jenem vom Kind in der kochenden Polenta.
Schreiben war für Aglaja
Veteranyi Mittel der Weltbewältigung bemerken
Werner Löcher-Lawrence und Jens Nielsen im Nachwort
zu ihrem neuen Buch. Schreiben war ihr Weg, in einer
anderen, besseren Welt einen Platz zu finden. Der
Erfolg des Polenta-Romans schien dieser Hoffnung Recht zu
geben. Doch sie zerbrach. Geblieben ist davon einzig dieses
nachgelassene und, wie die beiden Freunde versichern, fertiggestellte
Manuskript.
Der Tod drückt auch diesem zweiten
Buch seinen Stempel auf. Das erzählende Ich, nun mehr
eine erwachsene Frau, sitzt am Totenbett der geliebten Tante.
Sie wacht über deren Sterben, beobachtet die Rituale
des Gedenkens und erinnert sich. Die Tante hat auch im realen
Leben von Aglaja Veteranyi eine wichtige Rolle gespielt.
Wir sind viel länger tot
als lebendig, sagt die Tante, Tote brauchen viel mehr Glück.
Deshalb müssen wir Lebende der Toten gedenken und sie
auf dem Friedhof besuchen. Um ihrer, aber auch um unserer
selbst Willen.
Die Tante liegt nicht das erste Mal
in dem sterilen Spital, das sich Erholungsklinik
nennt. Ihr Sterben zieht sich seit langem schon hin. Zuerst
starb nur eine Zehe, dann der Fuss, jetzt gilt es ernst.
Wie es vorbei ist, bedeckt Costel, der Onkel, gefasst und
ruhig ihr Antlitz, in dessen Spiegel die Gesichter der Anwesenden
gefrieren. Neben ihm verflucht die Mutter verzweifelt den
abwesenden, ungerechten Gott. Die Erzählerin hat die
Tante lieber gemocht als die zürnende, strenge Mutter.
Danach werden Totenkuchen gebacken, so wie es sein muss.
Und Beerdigung gefeiert.
Die Tante floh wie die ganze Familie
aus Rumänien, dem verschlossenen Reich Ceausescus,
um anderswo ihr Glück zu finden. Sie tingelte durch
die Welt und erwarb schliesslich den roten Pass der
auswendiggelernten Heimat.
Wer in die Fremde geht, muss stets
ein Bett frei haben für Verwandtenbesuch. Zwar ärgerte
sich die Mutter regelmässig darüber, dass dieser
sich aufführte, als käme er aus Rumänien,
die Tante aber hielt sich strikte an die Gebote der Gastfreundschaft.
Auch im Fall von Onkel Petru, der nach 1989 endlich ausreisen
durfte. Petru war ein schwuler Artist und Künstler,
der in Ceausescus Arbeiterparadies den Mund nicht halten
konnte und dafür die Zähne ausgeschlagen bekam.
Die Schweiz musste ihm wie ein Paradies vorkommen, doch
bleiben durfte er nicht und zurückkehren würde
er auch nie mehr.
Jeder Tote bringt Gott seinen
letzten Atemzug, tröstet sich Costel über
den Tod der Tante hinweg. In einer himmlischen Bibliothek
werden sie allesamt aufbewahrt. Dem weiss der Pfleger nur
Es ist besser so hinzuzufügen. Wenn
uns nichts mehr einfällt, fallen uns solche Sätze
ein, dachte ich.
Die Figuren, die erinnerten Episoden,
die Sprache, in allen diesen Aspekten schliesst dieses zweite
Buch nahtlos an den Erstling an. Aglaja Veteranyi erzählt
weiter, wo sie vor drei Jahren stehen geblieben ist.
Eine feine Differenz signalisiert
indes der Titel. Das Regal der letzten Atemzüge
wirkt weniger schrill, auch weniger gefährlich als
jener des Erstlings. Zwar hat Veteranyi ihren lakonischen
Tonfall bewahrt, doch geht der neuen Prosa die sprudelnde,
sarkastische Frische ab, die die kindlichen Reminiszenzen
auszeichnete. Dies mag daran liegen, dass die Erzählerin
älter geworden ist, und auch daran, dass der Tod der
geliebten Tante der Autorin persönlich sehr nahe gegangen
ist. Das Schreiben darüber verlangte grösseren
Ernst.
In Das Regal klingen
die Qualitäten des ersten Buchs an, ohne dass sie mit
der selben Virtuosität ausgespielt werden. Wiederum
gelingen Aglaja Veteranyi wunderbar schräge Formulierungen
und funkelnde Metaphern. Doch neue Akkorde sind wenige zu
hören, umso mehr haben sich Wiederholungen und Überschneidungen
eingeschlichen, in denen der Erstling gut wieder erkennbar
ist.
Ein Roman ist es dergestalt nicht
so recht, und beinahe auch kein wirklich neues Buch. Dennoch
bleibt Das Regal der letzten Atemzüge ein
berührendes Vermächtnis einer schillernden, unglücklichen
Persönlichkeit.
Aglaja Veteranyi: Das Regal der letzten
Atemzüge. Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart/
München 2002.
Beat Matzenauer
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