Die doppelte Marie
Thomas Hürlimanns Mutterporträt
"Vierzig Rosen"
Mit dem neuen Roman "Vierzig
Rosen" erweitert Thomas Hürlimann seine letzten
beiden Bücher "Der grosse Kater" und "Fräulein
Stark" um weitere Episoden aus dem Familienleben. Aber
Achtung, Hürlimann hütet sich vor einer simplen
Fortschreibung.
Der Autor Thomas Hürlimann schöpft
nur allzu gerne aus dem Fundus seiner verzweigten Familiengeschichte,
die bekanntlich auch einen Bundesrat Platz beinhaltet. Seit
der Erzählung "Die Tessinerin" kreist seine
Prosa um diese autobiographischen Konstellationen: den mächtigen
Politiker-Vater, den allzu jung verstorbenen Bruder, die
willensstarke Mutter, das heimische Idyll, die eigene klösterliche
Erziehung. Als allgegenwärtiges Leitmotiv dient ihm
dabei die Katze, die ihn, den Aufklärer, und mi tihm
die Leser und leserinnen allabendlich ins Zwielicht der
Dämmerung hinauslockt, wie Hürlimann anlässlich
einer Rede 1994 beschrieb. Die Katze findet sich in den
letzten beiden Büchern verkörpert im "grossen
Kater", dem Bundesrats-Vater einerseits, sowie andererseits
in der Familie Katz, der mütterlichen Verwandtschaft.
Entsprechend zwielichtig ist die autobiographische Wahrhaftigkeit,
die Hürlimanns Prosa nur allzu gerne vorgaukelt. Der
neue Roman demonstriert dies neuerlich auf bemerkenswerte
Weise.
Ein Leben hinter dem Mann
In seinem Epizentrum agiert Marie,
die Frau, die hinter dem "grossen Kater" stand
und dessen politischer Karriere den entscheidenden Schwung
verlieh. Sie war die Tochter des letzten aus dem Stamm der
"Katzen", einer jüdischen Konfektionsdynastie,
deren Vorfahren einst aus Galizien eingewandert waren. Ihr
Grossvater, der "Seidenkatz", hatte sich im Städtchen
mit feinsten Stoffen ein kleines Reich begründet, die
in alle Welt exportiert wurden. Dieses Reich jedoch versank
unter Maries Vater in einen Dämmerschlaf, die Geschäfte
liefen zusehends schlecht und sahen sich in den 1930er Jahren
zusätzlich durch politische Unsicherheit und latenten
Antisemitismus gefährdet. Mit einer haarsträubenden
Unternehmung gelang es dem Vater, Marie im Klosterpensionat
"Mariae Heimsuchung" unterzubringen, wo er sie
in katholischer Sicherheit wähnte. Freilich stand ihrem
Grossvater in nichts nach und brach bald aus dieser Unterordnung
mit einem ebenso abenteuerlichen Trick aus. Ein junger Student
und Offizier, Max Meier vulgo "Kater", war ihr
bei diesem Unternehmen eine willfährige Hilfe. Auch
wenn er nicht genau wusste, was mit ihm geschah, spürte
er doch, dass ihm dieses Mädchen gefiel. Zwei Jahre
später heirateten die beiden, weil der ehrgeizige Aufsteiger
aus einfachsten Verhältnissen in Marie die "geborene
First Lady" entdeckt zu haben glaubte, die ihm helfen
würde, den Traum von der politischen Karriere zu verwirklichen.
Tatsächlich wäre er nicht über die Lokalpolitik
hinausgekommen, hätte ihm Marie nicht die Wege dazu
geebnet, indem sie ihre musikalische Karriere der Familie
opferte, auf einen Teil ihrer Erbschaft verzichtete oder
dies zu vergessen versprach, was sie über den politischen
Strippenzieher Dr. Fox und seine Vergangenheit als Nazi-Hetzer
in Erinnerung behalten hatte. Marie richtete es, und Max
hielt es für ein eigenes Verdienst: "Er war wie
in Trance. Darling, stammelte er, ich habe es geschafft."
Auf diesem Missverständnis gründete sein unaufhaltsamer
Aufstieg, schliesslich schaffte er es in die Regierung.
Marie fuhr ihn nach Bern und pendelte selbst zwischen der
Hauptstadt und dem Haus im Städtchen, das zu behalten
die einzige Bedingung war für die vorbehaltlose Unterstützung
ihres Katers.
Alle Jahre wieder
Alljährlich klingelte hier am
29. August ein Blumenbote an der Türe und überbrachte
ihr die Geburtstagsgrüsse ihres Mannes in Form eines
Blumenstrausses, seit einigen Jahren waren es stets vierzig
Rosen, die über ihr fortschreitendes Alter hinwegschmeicheln
sollten. Marie liess es geschehen, ebenso wie die rituell
ablaufende Geburtstagsparty jeweils abends im Berner Hotel
Grand. Sie behielt auch dabei die Contenance, dem von der
Mutter eingetrichterten Lebensmotto "on a du style"
folgte sie ohne Zögern.
Ein solches Leben, eine solche Selbstverleugung indes forderte
ihren Preis. In den eigenen vier Wänden "drohte
sie ihre Parkettsicherheit immer öfter zu verlieren".
Vor allem gegenüber dem einzigen Sohn entwickelte sie
Schuldgefühle, im Glauben, ihm gegenüber alles
falsch zu machen. Diesbezüglich weniger Hemmungen hatte
ihr Mann, der Magistrat, der seine Politik ganz um den "Glutkern"
der Familie herum aufbaute und exakt diese seiner Politik
opferte. Das Familienkonstrukt drohte zusammen zu fallen,
als der Arzt bei ihrem Sohn Krebs diagnostizierte. Aber:
"Natürlich hielt sie durch. Sie hielt immer durch."
Und auch Max hielt durch, konzentrierte sich auf seine Ambition.
Erst als er nach sieben Jahren die Regierung verliess, gab
es kein Halten mehr. "Meier gehörte zu den Menschen,
die nur steigen können - nicht fallen."
Marie aber lebte längst ein Doppelleben: das der Spiegelmarie
(als Gattin eines erfolgreichen Politikers) und das der
Sternenmarie (als Künstlerin und Bohemienne im Privaten):
"Ein Leben nach aussen, eins nach innen, und eigentlich
lief es wunderbar." Dieses Doppelleben hielt sie bestens
aus, trotzdem spürte sie immer stärker eine Kluft
aufgehen zwischen der Zukunft und der Vergangenheit, welche
schmerzhafter war als das kurze "Zwischen", das
die Stundenschläge der St. Oswald-Kirche und der Wanduhr
in der Stube trennte. In diesem zeitlichen Warteraum entstand
"ein kleines Stück Gegenwart, das Zwischen der
Zeit", das deren Lauf für einen Moment anhielt
- bevor die nächsten vierzig Rosen signalisierten,
dass ein weiteres Jahr um sei.
Die Wahrheit lügen
"Man muss sozusagen die Wahrheit
lügen", hat Thomas Hürlimann einmal geäussert,
weil sich das reale Geschehen gar nicht erzählen lässt.
Dies signalisiert der neue Roman, indem er zwar auf die
beiden vorangegangenen Bücher "Der grosse Kater"
und "Fräulein Stark" Bezug nimmt, deren Fiktion
aber neuerlich variiert und verändert. Marie bleibt
Marie, aus dem Kater wird Max, der Sohn und Ich-Erzähler
aber verschwindet. Differenzen und Dissonanzen markieren
so den fiktionalen Charakter seiner Bücher; jedes behauptet
eine eigene Wahrheit.
Auch in seinem jüngsten Roman erweist sich Hürlimann
abermals als brillanter Stilist, der sein stupendes Gefühl
für Leitmotive, Komposition und Stil eindrücklich
unter Beweis stellt. Die Ritualität der Maskeraden
wird periodisch durch refrainhafte Wiederholungen festgeschrieben
und von dem anderen geheimen Leben abgesondert, dem Erbe
der vergehenden Katz-Dynastie, die in der Erinnerung und
in alten Geschichten aufgehoben wird. Die zeitgeschichtliche
Brisanz ist gegenüber dem Kater-Roman etwas zurück
genommen zugunsten der Hauptfigur Marie, die sich ganz entfalten
kann. Aus ihrer Perspektive wirkt das politische Geschehen
als eilter Mummenschanz und lächerliches Buhlen um
Fahrlehrerverbände und Rabattmarkenvereine. Hürlimann
erzählt somit nochmals eine ähnliche Geschichte,
doch ohne sich zu wiederholen, weil er neue Facetten des
grossen Lebenstoffes belichtet und das neue Buch so als
schillernde Ergänzung den beiden früheren zur
Seite stellt. Die Mutter hält sich im Hintergrund und
fernab vom politischen Zentrum, dafür verleiht sie
dem kleinstädtischen Leben etwas modischen Glamour
à la Audrey Hepburn, um so dessen katholische Engstirnigkeit
vergessen zu machen, wie ihn ihr konvertierter Bruder prototypisch
verkörpert. Wir kennen ihn von "Fräulein
Stark" her.
Der Erzähler hält sich aus der Geschichte heraus
und bedeutet mit rhetorischen Fragen oder mit unscheinbaren
Wortpartikeln wie "hoppla", dass er sich ganz
der Erzählung und damit den Lesern verpflichtet fühlt;
er signalisiert damit aber auch, dass er ein durch und durch
parteisches Buch geschrieben hat, das nicht allen Figuren
gleichermassen Gerechtigkeit widerfahren lässt. Dieser
Erzähler könnte jener zweite Sohn aus "Fräulein
Stark" sein, der hier wegretuschiert ist und sich nur
durch seine Parteinahme für die Mutter bemerkbar macht.
Der Willensstärke, und Nachdenklichkeit von Marie hat
Max nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen. Nur die Randzonen
der Erzählung bewohnend, erhält er nur effizient
hingeworfene Konturen und wirkt entsprechend oberflächlich
porträtiert.
"Vierzig Rosen" ist dergestalt das graziöse,
anmutige Gegenstück zum komplexen Kater-Roman einerseits,
andererseits die Forterzählung der Katzschen Familiengeschichte
aus "Fräulein Stark". Die inhaltlichen Unstimmigkeiten
und Differenzen verweisen auf den fiktionalen Charakter
aller drei Bücher, auch wenn das jüngste gerade
wegen der Diskretion des Erzählers kaum Zweifel daran
lässt, dass Thomas Hürlimann hier seiner Mutter
ein eindrückliches literarisches Denkmal setzt. Denkmäler
sind Zeichen, nicht die Wirklichkeit, auf die sie mit grosser
Geste verweisen.
Beat Mazenauer
Page créée le: 17.10.06
Dernière mise à jour le: 17.10.06
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