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Melinda Nadj Abonji
Tauben fliegen auf. Roman. Jung und Jung, Salzburg / Wien 2010. 316 Seiten.

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  Melinda Nadj Abonji / Tauben fliegen auf

 

Melinda Nadj Abonji / Tauben fliegen aufDie in Zürich lebende Melinda Nadj Abonji erhält für ihren Roman "Tauben fliegen auf" den Deutschen Buchpreis 2010. Damit ist sie die erste Schweizer Autorin, die mit dieser Auszeichnung geehrt wird.
Unlängst noch rieben sich die deutschen Feuilletonschreiber die Augen und fragten sich, wie es diese unbekannte Autorin auf die Auswahlliste geschafft habe. Nun werden sie sich in aller Ruhe mit Melinda Nadj Abonji befassen können. Sie hat die Auszeichnung überraschend, aber mit guten Gründen erhalten.
Melinda Nadj Abonji kam 1968 in der serbischen Vojvodina zur Welt, als Mädchen emigrierte sie mit ihren Eltern in die Schweiz. Zwei Heimaten und zwei Freiheiten. Auf diesen Erfahrungen basiert ihr zweiter Roman "Tauben fliegen auf". Die Erzählerin Ildikó Kocsis erzählt Geschichten aus der Emigration und im Wechsel damit Anekdoten aus der alten Heimat in der Vojvodina.
In der Schweiz hat die Familie Koscis ihr Glück gefunden. 1993 eröffnet sie in ihrem Dorf ein eigenes Café. Bis dahin aber war es für die Eltern Rosza und Miklós ein langer Weg, der Kraft, Geduld und Demut erfordert hat. Die beiden Töchter Nomi und Ildikó helfen mit im Betrieb, doch sie streben nach ihrer eigenen Freiheit. Sie wollen sich nicht länger als Ausländer beschimpfen und demütigen lassen.
Lebhaft, farbig, mit Witz und stilistischer Souplesse erzählt Melinda Nadj Abonji von diesen zwei Aspekten einer erfolgreichen Emigration und Integration. Die Autorin erweist sich dabei als virtuose Stilistin, die erzählerische Anschaulichkeit in eine musikalisch äusserst biegsame Form zu bringen versteht. Sie versteift sich nicht aufs Nacherzählen, sondern arbeitet subtil eine rhythmische Struktur heraus, die sich trotz allem leicht liest.

Melinda Nadj Abonji: Tauben fliegen auf. Roman. Jung und Jung, Salzburg / Wien 2010. 316 Seiten.

 

  Freiheit und Anpassung, Beat Mazenauer

En bref et en français - In breve in italiano

Melinda Nadj Abonji kam 1968 als Kind ungarisch stämmiger Eltern in der serbischen Vojvodina zur Welt. Als Mädchen emigrierte sie mit ihren Eltern in die Schweiz, an die Zürcher Goldküste. Zwei Heimaten und zwei Freiheiten. Aus diesen Erfahrungen schöpft ihr zweiter Roman "Tauben fliegen auf". Die Erzählerin Ildikó Kocsis erzählt Geschichten aus der Emigration und Anekdoten von den seltenen Besuchen zuhause, in der Vojvodina.
Die Eltern Rosza und Miklós Kocsis wanderten in den 1970er Jahren in die Schweiz aus, um hier zu arbeiten und ein neues Glück zu suchen. Vaters anhaltender Hass auf Tito und seine Kumpane lässt aber noch andere Fluchtgründe vermuten. Hinter verdrängendem Schweigen verbirgt sich die demütigende Behandlung seines Vaters. Die Eltern bleiben diesbezüglich wortkarg, alte Wunden sollen nicht wieder geöffnet werden. Mamika indessen, die Grossmutter, berichtet Ildikó und ihrer Schwester Nomi eines Tages, was sich einst zugetragen hatte. Als der Krieg 1945 zu Ende ging und in Jugoslawien die Tito-Kommunisten an die Macht gelangten, widersetzte sich Papuci, der Grossvater, mit aller Kraft gegen die Verstaatlichung seines Landes. Wochenlang hielt er sich versteckt, bis er verpfiffen und verhaftet wurde. Bevor man ihn ins Arbeitslager schaffte, das er als gebrochener Mann wieder verlassen würde, verhörte und schlug man ihn im Keller desselben Schulhauses, in dem sein Sohn Miklós zur Schule ging und dabei seine Schreie hören konnte. Doch dieser hatte sich still zu halten, dafür bewahrte er im Herzen den Hass auf die Schergen auf. Miklós begann sich auffällig zu verhalten und wurde bald als Konterrevolutionär eingestuft.
Ildikó und Nomi wuchsen die ersten Jahre in der sorgenden Obhut Mamikas zuhause im Dorf auf. Währenddessen unternahmen ihre Eltern in der fremden Schweiz alles, um das anfängliche Elend zu überwinden. Mit dazu gehörte auch, den Argwohn und die Anfeindung der einheimischen Bevölkerung schweigend hinzunehmen. Mit Beharrlichkeit und im Glauben an ein gutes, freies Leben schaffen sie den sozialen Aufstieg. Zuerst führen sie im Dorf am Zürichsee eine Wäscherei, dann erhalten sie 1993 die Chance, gleich beim Bahnhof das Café Mondial zu eröffnen. Zu diesem Zeitpunkt leben die beiden Töchter längst schon bei den Eltern; die Familie hat das Schweizer Bürgerrecht erworben (kraft des dazu gehörigen Eignungstests) und ist wegen ihrer Arbeitsamkeit mehr als nur geduldet.

Melinda Nadj Abonji erzählt die Geschichte dieser gelingenden Emigration und Integration im Wechsel zweier Erzählebenen. Während der Betrieb des Café Mondial die Kraft aller, auch der mitarbeitenden Töchter fordert, verströmen die eingestreuten Erinnerungen an Besuche zuhause im vojvodinischen Dorf ein wenig Ferienstimmung. Einmal im Jahr ist die Familie Kocsis mit Vaters braunem Chevrolet bei der Verwandtschaft vorgefahren: bei Mamika, Onkel Móric, Tante Manci oder dem Cousin Béla. Das elegante Auto und die mitgebrachten Geschenke demonstrieren den neu gewonnenen Wohlstand. Vom Preis, der dafür entrichtet wird, ist dabei kaum die Rede. Hartnäckig ruft das alte Dorf heimatliche Gefühle hervor. Die hitzigen Emotionen unter den Brüdern um politische Fragen sowie die zärtliche Vertrautheit im Familienkreis, dies hilft für ein paar Wochen über die versteckte Ablehnung in der neuen Schweizer Heimat hinweg. Der Grat zwischen Lebensmut und Gefühlen der Demütigung ist indes schmal.
Mit dem Balkankrieg 1992 enden die Besuchsfahrten. Vor dem Hintergrund des sinnlosen Ringens wächst im Café Mondial dafür die Sorge um die Daheimgebliebenen. Janka, die Halbschwester von Ildikó und Nomi, flüchtet nach Ungarn in ein tristes Lager, und der Cousin Béla wird in die serbische Armee eingezogen. In der Küche verzweifelt die Hilfskraft Dragana schier darüber, dass ihr Kind im belagerten Sarajevo lebt. Würde es verwundet, könnte es vielleicht privilegiert ausreisen – derart pervertiert die Sorge ihre Gedanken. Für Ildikó hält die stumme Zwiesprache mit Mamika den verlorenen Kontakt aufrecht. Dabei geht es nicht nur um familiäre Sorgen.

Melinda Nadj Abonji tritt seit Jahren als Performerin auf – im Duo mit dem Rappoeten Jurczok 1001. Sie spielt Violine, singt Lieder und trägt zweisprachig, ungarisch und deutsch, Texte vor. Dieses feine Gespür für rhythmische Strukturen bildet den Kern auch ihrer Prosa. "Tauben fliegen auf" erzählt – aus der Perspektive Ildikós – nicht nur lebhaft, farbig, mit Witz eine Emigrationsgeschichte und lotet die tiefe Kluft zwischen Abschied und Ankommen aus, sondern bringt sie in eine musikalisch äusserst biegsame Form. Die Autorin versteift sich nicht aufs Nacherzählen, sondern arbeitet mit Verschlingungen, Repetitionen und Verschachtelungen subtil eine rhythmische Struktur heraus, die sich trotz allem leicht liest. Am eindrücklichsten beweist sie dies in einem der letzten Kapitel. Eine Schweinerei auf dem Klo des Café Mondial setzt für Ildikó eine Zäsur: Während sie die mutwillig hingeschmierte Scheisse wegputzt, reift in ihr die Gewissheit, dass sie von zuhause weg muss. Ein zweiter Abschied ist notwendig, der Abschied von den Eltern. Sie schaut sich ein letztes Mal im Café um, im Dorf, derweil ihr die Mutter erklärt, wie sie gelernt hat, über Anfeindungen und Demütigungen zu schweigen. Melinda Nadj Abonji verwebt die beiden Erzählpassagen in einer gegenläufigen Parallelkonstruktion meisterhaft ineinander.

"In dieser Zeit, Ildi, habe ich nie geträumt, nie, sonst wäre ich verloren gewesen, und ich gehe weiter, an der Apotheke vorbei, überquere eine Strasse ... am Schuhgeschäft vorbei, an einem Schaufenster, in dem Brillengestelle an durchsichtigen Fäden hängen. Als ihr, Nomi und du, so lange Zeit nicht bei uns wart, das war ein grosses Opfer – zu gross?, und ich hebe meinen Kopf, schaue zur protestantischen Kirchturmuhr, die Zeiger, die goldgelb leuchten".

Beide behalten sie, auf je eigene Weise, Recht. Einerseits die verbissene Duldsamkeit der Eltern, die ein Ziel vor Augen hatten und dieses gegen alle Widerstände erreichten, auch für ihre Kinder. Und demgegenüber Ildikó, die davon nichts mehr wissen will, weil sie die zweite Freiheit gewinnen will. Diese würde ihr erst gelingen, wenn sie in ihrem eigenen Leben angekommen ist und das Unnennbare kennen gelernt hat, das sie die Begegnung mit Dabor lehrt.
Indem Melinda Nadj Abonji diesen Konflikt hartnäckig herausarbeitet, schafft sie einen neuen, zweiten Kontext für ihre Emigrationsgeschichte. Was der einen Generation zuträglich ist, muss der anderen als demütigender Kniefall erscheinen. Dass Ildikó eine billige Wohnung an lauter Verkehrslage bezieht, kann Vater Miklós unmöglich verstehen: Es muss ihm als Abstieg aus dem schwer erarbeiteten Wohlstand zurück in alte Zeiten und Verhältnisse erscheinen. Für Ildikó dagegen ist es ein Neuanfang. Irgendwann in der Zukunft aber würden sich beide verstehen.

Beat Mazenauer

 

  En bref

En bref et en français

Melinda Nadj Abonji, établie à Zurich, a otenu pour son roman Tauben fliegen auf le Prix allemand du livre 2010. C'est la première fois qu'une auteure suisse obtient cette distinction. Il y a peu, les journalistes littéraires allemands se frottaient encore les yeux, se demandant comment cette inconnue s'était retrouvée parmi les finalistes. A présent, ils pourront lire le livre tranquillement. Melinda Nadj Abonji a remporté le prix de manière inattendue, mais justifiée. Née en 1968 en Voïvodine (alors yougoslave, aujourd'hui en serbe), Melinda Nadj Abonji a d'abord été élevée en Hongrois par sa grand-mère. Elle a rejoint à six ans ses parents à Küsnacht. Deux patries, deux libertés. C'est sur cette expérience que repose Tauben fliegen auf . La narratrice Ildikó Kocsis y raconte alternativement des histoires d'émigration et des anecdotes de Voïvodine.  La Famille Koscis a trouvé son bonheur en Suisse. En 1993, elle ouvre son propre café au village. Mais pour en arriver là, il aura fallu aux parents Rosza et Miklós de la force, de la patience et de l'humilité. Les deux filles, Nomi et Ildikó donnent un coup de main mais aspirent à conquérior leur liberté. Elles ne veulent plus se laisser humilier et insulter parce qu'étrangères. Sur un ton vivace, coloré et plein d'esprit, Melinda Nadj Abonji raconte ces deux aspects d'une émigration et d'une intégration réussies. L'auteure démontre sa virtuosité stylistique, capable de construire une forme musicale et un style extrêmement souple tout en conservant la limpidité de sa narration. Elle élabore ainsi une structure rythmique subtile, et pourtant facile à lire.

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In breve in italiano

La scrittrice zurighese Melinda Nadj Abonji è stata insignita del prestigioso premio „Deutscher Buchpreis 2010“ per il suo romanzo Tauben fliegen auf ( Le colombe prendono il volo ). È la prima volta che il premio va ad un autore svizzero. I critici letterari tedeschi si stanno ancora chiedendo come sia possibile che una perfetta sconosciuta sia riuscita ad accedere alla rosa deli finalisti. Avranno ora tutto il tempo per occuparsi di Melinda Nadj Abonji: scopriranno che se l'autrice costituisce una sorpresa, lo è per delle buone ragioni.
Nadj Abonji è nata nel 1968 in Voivodina, la parte ungherese della Serbia, da bambina emigra con i genitori in Svizzera. È l'esperienza di questa dualità che fa da sottofondo a questo suo secondo romanzo: in Svizzera la famiglia Koscis ha fatto fortuna dopo non pochi anni di fatica, pazienza e profilo basso. Le due figlie, Nomi e Ildikò, aiutano i genitori nel bar di paese aperto nel 1993, non rinunciando però a cercare una propria strada e una propria indipendenza e non più disposte a sopportare la scomoda e a volte umiliante etichetta di straniere. Vivace, colorito, il racconto di emigrazione e integrazione di Nadj Abonji si snoda con uno stile che unisce elasticità e humor, estremamente lavorato ma non al punto da offuscare una narrazione chiara e accessibile.

 

Page créée le: 14.10.10
Dernière mise à jour le: 14.10.10

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