Franz Hohler
Franz Hohler, Der Stein, München, Luchterhand Literaturverlag, 2011.
Télécharger la page en PDF
Retrouvez également Franz Hohler dans nos pages consacrées aux auteurs de Suisse
Franz Hohler / Der Stein |
In jedem Stein liegt eine eigene Geschichte.
Manchmal ist das, was uns als Zufall erscheint, voller Zwangsläufigkeit. Im Rückblick betrachtet, zumindest. Oder auch umgekehrt kann das, was wir für Notwendigkeit halten, in Wahrheit nichts als Zufall sein. Enorm unterhaltsam und mit dem ihm eigenen Sinn für das, was sich unserem Alltag nicht fügen will, kreisen Franz Hohlers Erzählungen um das, womit niemand rechnet, das aber umso zielstrebiger geschieht.
Was hat einen jungen Mann während einer Demonstration dazu getrieben, einen unauffälligen Stein neben sich aufzuheben und ihn in die Menge zu schleudern? Warum begeistert sich der Präsident eines Landes an einem frühen Morgen für eine junge Katze und gewährt ihr, gegen den Rat seiner hochrangigen Mitarbeiter, einen ersten Unterschlupf in seinem Büro? Ahnt er, dass dieses Tier ihn retten wird? Oder wer genau ist der als König verkleidete Mann, der am vierzigsten Geburtstag eines Mannes mit einem Hornschlitten bei ihm auftaucht? Ist es der Tod oder ein unbekannter Helfer, ein Geist oder ein Phantasieprodukt, das der heftig an Fieber leidende Mann selbst geschaffen hat?
Franz Hohler, der sich schon früh mit dem Band »Die Rückeroberung « und zuletzt mit den Bänden »Die Torte« und »Das Ende eines ganz normalen Tages« großes Ansehen als Erzähler erworben hat, erkundet in seinen neuen Geschichten die kaum exakt auszumachende Grenze, die zwischen dem Wahrscheinlichen und Unwahrscheinlichen, zwischen dem Erwartbaren und dem Zufall liegt. Ihn beschäftigt das Unwägbare, das nur schwer zu Greifende, und dies keineswegs nur, weil es Angst und Schrecken verbreiten kann. Diesem Unwägbaren verdanken Franz Hohlers Figuren auch ihr Glück – und seine Erzählungen ihre vollendet unpathetische Schönheit.
Franz Hohler wurde 1943 in Biel, Schweiz, geboren, er lebt heute in Zürich und gilt als einer der bedeutendsten Erzähler seines Landes. Franz Hohler ist mit vielen Preisen ausgezeichnet worden, u.a. erhielt er 2002 den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor und 2005 den Kunstpreis der Stadt Zürich. Sein Werk erscheint seit über dreißig Jahren im Luchterhand Verlag.
Franz Hohler, Der Stein, München, Luchterhand Literaturverlag, 2011.
|
|
Katze, Tiger, Stein - Ein neuer Erzählband von Franz Hohler, von Ruth Gantert |
En bref et en français
- In breve in italiano
Franz Hohler stellt seinen zehn neuen Erzählungen ein Zitat des in Vergessenheit geratenen russischen Schriftstellers Konstantin Paustowskij voran. Es handelt von der Traurigkeit darüber, dass man wohl einen Stein aufheben und benennen, nicht aber „das Leben dieses Steins, das viele Jahrtausende währen mochte “ beschreiben könne. Genau dies tut nun Hohler in der Titelgeschichte, die den Erzählband abschliesst: In fünf Seiten entstehen zuerst die Welt, dann die Alpen, schliesslich die erste Siedlung Turicum, die sich zur modernen Stadt Zürich entwickelt. Dort landet der Stein in einem Container, und der rasende Lauf der Geschichte hält inne: an einem ersten Mai packt ein vierzehnjähriger Junge den Stein und schleudert ihn gegen die Polizisten, trifft aber ein etwa gleichaltriges Mädchen am Kopf und verletzt es schwer. Der Stein landet zuletzt im Seebecken, und sein kurzer Auftritt in der menschlichen Welt, der für zwei junge Leute schicksalhaft war, ist damit – vielleicht – beendet. Nichts ist in der Literatur unmöglich, auch nicht die Geschichte eines Steins vom Ursprung der Welt bis zu ihrem Untergang – doch eindeutige Antworten auf drängende Sinnfragen gibt sie nicht.
Schicksalhafte Begegnungen, von denen man nicht weiss, wie und weshalb sie sich ereignen, bestimmen auch andere Erzählungen. Banale Alltagssituationen nehmen eine unerwartete Wendung und gleiten manchmal ins Märchenhafte, Surreale ab. So trifft eines Morgens der Präsident eines mehrsprachigen, demokratischen Landes auf dem Weg ins Regierungsgebäude unter dem Laubengang auf eine junge Katze, die ihm beharrlich folgt. Gerührt von ihrer Anhänglichkeit, und wohl auch fasziniert von ihrem eigenwilligen, manchmal unmanierlichen Verhalten, beschliesst der Präsident, die Katze zu adoptieren – und die Begegnung zwischen Mensch und Tier, die leicht unerwartet begonnen hatte, nimmt ein spektakuläres Ende.
Keine simples Kätzchen, sondern das Knurren eines wilden Tieres fasziniert den Basler Leutnant Christian Hiltmann, der als neutraler Schweizer die Grenze zwischen Nord- und Südkorea überwachen soll. Besessen von dem Wunsch, das Tier zu sehen, geht er dem Knurren nach, bis es schliesslich zu einer zweifachen Begegnung mit Mensch und sibirischem Tiger kommt, die tödlich enden könnte.
In anderen Erzählungen ist es der Auftritt eines rätselhaften Fasnachtskönigs, einer Stimme aus dem Jenseits, die im Radio die Nachrichten verliest, oder auch nur das Finden eines Bleistifts, das schicksalhafte Folgen hat. Im letzten Fall erhält „Folgen“ auch den Sinn von „Reihe“, führt doch die gleiche Ausgangslage (das Aufheben bzw. Liegenlassen eines gelben Bleistiftstummels) zu sieben verschiedenen Geschichten, welche die Konsequenzen dieser banalen Handlung variieren. Ein einziges Mal fehlt das Moment der „unerhörten Begebenheit“: Warum aus weiss schwarz, aus der Schweizer Musikerin Bianca Carnevale die brasilianische Ordensfrau Sor Afra wird, bleibt angedeutet – und obwohl in der Erzählung „Bianca Carnevale“ nichts Irrationales passiert, bleibt sie in einer eigenartigen Schwebe.
Bei aller Liebe zum Versponnenen und bei aller Fabulierlust fehlt doch Hohlers satirische Seite in „Der Stein“ nicht ganz: Erzählungen wie „Die Raucherecke“ oder „Der Juckreiz“ sind durchaus auch feine, ironische Porträts gewisser Aspekte unserer Gesellschaft.
Wie gelingt es dem Erzähler, Realität mit Erfundenem, Mögliches mit Unwahrscheinlichem, Alltägliches mit Spektakulärem auf selbstverständliche Weise zu verbinden? Die Antwort legt er in den Mund eines Malers, dem er in „Ein Nachmittag mit Monsieur Rousseau“ das Wort erteilt. Unhörbarer Gesprächspartner ist der Nachbarsjunge Claude, der bei Rousseau zeichnen lernt. Der überaus freundliche Meister ermuntert den Knaben, begutachtet wohlwollend seine Zeichnungen, erkundigt sich nach der Familie und bekümmert sich um die Gesundheit des hustenden Kindes. Im gleichen freundlichen Plauderton spricht er auch über seine eigenen Bilder und über die Kunst im Allgemeinen. Zuerst lobt er den Schüler für seinen Erfindermut: „Es gibt keine blauen Katzen. In der Wirklichkeit. Aber auf dem Bild musst du nur eine blaue Katze malen, und schon gibt es sie. So einfach ist das. Und das Bild hat eben auch recht...“ (S. 53). Dann hält er ihn zur genauen Beobachtung und Wiedergabe eines aufgehobenen Herbstblattes an – der Maler selber wird es in sein Urwaldbild einfügen. Die Verflechtung von Wohlbekanntem mit Erfundenem in der genauen Beobachtung und präzisen Wiedergabe trifft auch auf den Erzähler Franz Hohler zu. Seine subtilen und unterhaltsamen Erzählungen nennt er in einem Interview „Tatsachenberichte aus der Fantasie“.
Ruth Gantert
|
|
En bref |
En bref et en français
Franz Hohler présente dix nouvelles histoires qui, dans les situations banales du quotidien, prennent des directions inattendues pour régulièrement s’aventurer dans l’univers du conte et dans celui du surréel. Une rencontre avec un animal (simple chat ou tigre sibérien), un mystérieux roi du carnaval, une voix venue de l’au-delà ou rien qu’un morceau de crayon, s’avère ici fatidique. Avec une même exactitude, des descriptions précises évoquent ce qui relève du connu tout comme de l’imaginaire. Car dans ces divertissants « Reportages fantaisistes », les deux dimensions s’unissent.
(rg, traduction de ej)
***
In breve in italiano
Franz Hohler propone dieci nuovi racconti, nei quali situazioni quotidiane di assoluta banalità prendono risvolti inaspettati, fino ad assumere tinte fiabesche o surreali. Così l'incontro con un animale (un semplice gattino oppure una tigre siberiana), con un misterioso re del carnevale, con una voce d'oltretomba oppure con un mozzicone di matita si rivelano carichi di fato. Descrizioni meticolose ritraggono con uguale naturalezza vere e proprie finzioni ma anche fatti quotidiani e scontati. In tal modo, i due livelli si fondono in un divertente «documentario fantastico» (Hohler).
(rg, traduzione di ja)
Page créée le: 17.10.11
Dernière mise à jour le: 20.10.11
|
|
© "Le Culturactif
Suisse" - "Le Service de Presse Suisse" |
|