Die Schweizer Literatur zwischen
Alpenpanorama und urbanem Pflaster. Der vielgereiste Hugo
Loetscher entwickelt eine etwas andere Perspektive darauf.
Die Berge als Vorstellung
und Ideal
Alle Wege durch die Schweizer Literaturgeschichte
führen zur Verzweigung: Frisch oder Dürrenmatt?
Die einen wählen den Pfad der Tugend, die andern den
der Groteske. Hugo Loetscher, der mit beiden Dioskuren der
Schweizer Literatur bekannt war, fiel diese Wahl stets leicht.
Schon in den 60er Jahren, notiert er im Rückblick,
sei ihm zukunftsbestimmend klar geworden: Frisch
suchte Jünger, Dürrenmatt hielt Hof. Ich hielt
es mit dem Hof - und sei es in der Rolle des Narrs.
Dementsprechend war er Dürrenmatt weit freundschaftlicher
verbunden als Frisch. Dessen Verbissenheit und Mangel an
Selbstironie erlaubten ihm nie einen vertraulichen Umgang.
Frisch nötigte ihm zwar Respekt
ab und zugleich eine erschwerte Verehrung. Aus
Anlass seines zehnten Todestags versuchte sich Loetscher
für den SWF an einem radiophonischen Porträt in
Interviewform. Was dabei herauskam, blieb jedoch ungelenk
und wurde: genug davon, aufgegeben. Deshalb
hält er sich in seinem Andenken an Max Frisch an dessen
Werk. Er zitiert und referiert Textstellen, anerkennt ihre
Schönheit und Präzision, aber auch allfällige
Schwächen.
Ganz anders dagegen der mehrteilige
Aufsatz über Dürrenmatt. Er basiert nicht auf
Originalzitaten, sondern auf einer Fülle von persönlichen
Erinnerungen und auf auszugsweise zitierten Beiträgen,
die Loetscher zu unterschiedlichen Anlässen über
Dürrenmatt verfasst hat. Seit Anfang ihrer Bekanntschaft
entspannte sich zwischen den beiden eine Nähe, die
sich Loetscher ins Gedächtnis zurückruft und mit
klugen Kommentaren zu Dürrenmatts Werk abrundet. Den
Anlass dazu hat ihm dessen Tod, respektive die befremdliche
Abschiedszeremonie geboten, die unter Führung von Charlotte
Kerr die Abdankung als literarische Variante zur Gattung
Groteske mit den Freunden als Trauerstatisten
inszenierte. Loetscher schildert sie mit treffender Ironie.
Eine Muse von schweizerischer
Tüchtigkeit hat ihn nicht geküsst: die des Ressentiments.
Das Diktum, auf Dürrenmatt gemünzt, fällt
in diesen aufschlussreichen Aufsätzen zur Schweizer
Literatur auf Loetscher selbst zurück. Er kehrt darin
die landläufige Perspektive um. An den Anfang stellt
er nicht Albrecht von Hallers Alpen-Gedicht,
sondern die andere helvetische Tradition: Thomas
Platter (1499-1582) und dessen Lebenserinnerungen. Zwei
Aspekte kommen in diesem Werk zur Deckung, die für
Loetscher die Schweizer Literaturgeschichte zentral prägen.
Der Walliser Geisshirt Platter verlässt die erschreckende
Bergwelt, um im urbanen Basel id Schuel zu gehen.
Seine spätere Karriere als Professor für klassische
Sprachen waren das Ergebnis eines bisher vernachlässigten
helvetischen Topos: lesen statt klettern.
Unter diesem Aspekt erhalten von
Hallers Loblied auf Die Alpen oder Salomon Gessners
Idyllen ihre wirkliche Bedeutung. Sie besingen
die Natur aus urbaner Perspektive, gewissermassen als geschöntes,
idealisiertes Gegenmodell zur kulturellen Norm. Die Alpen
waren eine Erfindung von Städtern, die sie fern am
Horizont, erhaben und schön, bewunderten. Platter,
der Bergbub, dagegen hatte die hohen und grusamen
Berg am eigenen Leib als bedrohlich und unwirtlich
erlebt.
Die Perspektivumkehr ist bedeutend,
weil sie das helvetische Epizentrum vom Gebirge in die Stadt
verschiebt. Bergwandern dient der Forschung (bei Scheuchzer
etwa), oder es ist Freizeitvergnügen für englische
Touristen und städtische Dienstleister. In der Stadt
entstehen die Klisches, die die Schweiz als urchigen Holzboden
feiern. Die Diskrepanz zwischen dem Bild, das wir
von uns pflegen, und der Wirklichkeit, die wir leben,
ist bis heute fundamental geblieben: am ergreifendsten klingen
Jodellieder auf dem Zürcher Paradeplatz.
Ebenso hat der Drang zur Schule,
mithin auch zur Schulmeisterei das literarische Schaffen
in der Schweiz seit je her angetrieben. Namen wie Bräker
und Gotthelf, im übertragenen Sinn auch Keller und
Frisch stehen dafür. Verknüpft ist damit die Lust
wegzugehen (um später wieder heimzukehren). Ohne explizit
auf Paul Nizons Diskurs in der Enge einzugehen,
bestätigt Loetscher dessen Befund und widerspricht
zugleich dessen Klage. Man ist in der Schweizer Literatur
schon immer weggegangen - und zurückgekommen. Aber
deswegen gleich von Exil reden?, wie es der in Paris
lebende Nizon tut. Loetscher verwahrt sich gegen solchen
Anspruch auf Exilanten-Status, der Lebensgefahr insinuiert,
und doch bloss eitle Attitüde ist. Provinz sei, schlussfolgert
er, eine Entscheidung und nicht eine Gegebenheit. Er selbst
gibt ein Beispiel dafür: ein in Zürich wohnhafter
Weltreisender.
In diesen Aufsätzen zeigt sich
uns Hugo Loetscher (mit Ausnahme des letzten Aufsatzes)
als brillanter Essayist. Unprätentiös, präzise
porträtiert er eine Reihe von bekannten und auch weniger
bekannten Autoren (leider allesamt Männer) und situiert
ihr Schaffen im Schnittpunkt der Aspekte Schulmeisterei
und Weggehen. Gotthelfs Romane und Kellers Seldwyler Geschichten
erhalten neue Facetten. Cendrars, Chappaz, Chessex fügen
sich in dieses Panorama ein. Und Adrien Turel oder Konrad
Farner erfahren eine vehemente Ehrenrettung, wogegen Ludwig
Hohl heftig für seinen Wortschatz des Definitiven
kritisiert wird, der von Verachtung und elitärem Dünkel
zeuge. Ressentiment ist dabei nie im Spiel, auch wenn Loetscher
mitunter dezidiert Stellung bezieht. Er weiss, dass Auseinandersetzungen,
und somit Behaftbarkeit wesentliches Ingrediens der urbanen
Kultur sind. Loetscher versteht sie engagiert gelassen zu
äussern.
Beat Mazenauer
|