Erzählen ist ein schmerzhafter Prozess
Gleich zu Beginn des Romans „Quatemberkinder“ wird erklärt, was man sich unter dem eigenartigen Begriff vorzustellen hat: Quatemberkinder seien Kinder, die „Dinge sehen, die anderen verborgen bleiben. ... Quatemberkinder leben inmitten der Menschen und doch in einer anderen Welt. Denen sind Geister und Hexli und Schrättli so selbstverständlich wie anderen das Nachtgebet, vieles dafür bleibt ihnen fremd, was jeder sonst im Dorf für gottgegeben hält.“ Sind Sie ein Quatemberkind, Tim Krohn?
Krohn: Es gibt hundert Standardantworten, die ich auf diese Frage geben könnte, die mir aber alle nicht gefallen. Ich glaube, heute bin ich keines.
Warum nicht?
Heute will ich keines sein. Ziemlich absurd, das Ganze. Quatemberkinder leben in einer eigenen Welt und sind unfähig, in der Welt der Mehrheit der Menschen zu leben. Vielleicht stimmt das für mich, doch ich weigere mich noch zu glauben, dass es so ist.
Sind Schriftsteller nicht natürliche Verwandte von Quatemberkindern?
Jeder Beruf, für den man eine gewisse Versenkung braucht, hat eine Verwandtschaft. Früher im Chemielabor haben wir Lackmusperlen hergestellt – jemand, der so etwas macht, als Beruf, ist genau so „ab der Welt“ wie ein Schriftsteller.
Wie steht es denn mit der Durchlässigkeit zu einer anderen Welt, der Welt der Hexen und Geister und Schrättli?
Darf ich das etwas entmystifizieren? Es gibt Kinder, die in einer Umgebung aufgewachsen sind, die auf irgendeine Art verlogen ist. Diese Kinder entwickeln entweder ein feines Sensorium für das, was hinter dem steht, was behauptet wird, oder sie verbiegen sich und verlieren den Kontakt zum Instinkt, der uns sagt, was wahr ist und was nicht – wobei „wahr“ ein schwieriges Wort ist –, in welchem Zusammenhang Empfindungen und Behauptungen stehen. Menschen, die in einer verlogenen Welt aufwachsen, entwickeln eine grosse Sensibilität für sonderbare Stimmungen – häufig eine zu grosse Sensibilität. Sie sehen Geister, die gar keine sind.
Ist das eine Art Flucht aus der Realität?
Nein, nein, es ist ein Versuch, zu überleben in der Realität, über Wasser zu bleiben. Es geht darum, hinter der Haut alltäglicher Behauptungen die eigentlichen Gesetzmässigkeiten zu erkennen und gewappnet zu sein. Wenn man zum Beispiel als Kind von Eltern aufwächst, die nichts miteinander verbindet, die aber behaupten, einer Meinung zu sein. Wenn man dann merkt, dass dies extrem widersprüchliche Botschaften sind, hat man die Wahl, entweder die eigene Wahrnehmung zu leugnen oder auf Distanz zu den Eltern zu gehen, in Opposition. Wenn man im permanenten Bewusstsein aufwächst, dass das, was behauptet wird, in Widerspruch zu dem steht, was wirklich ist, misstraut man allem, sucht man hinter allem, was man wahrnimmt, eine andere Lesart. Das sind die Geister. Man sieht einen Menschen mit einer bestimmten Ausstrahlung und sogleich die möglichen Geschichten dahinter. Wenn ich die Langstrasse hinuntergehe, springen mich die Geschichten der Menschen richtig an, ich sehe die Traumata, die sie mit sich herumtragen. Vielleicht stimmt das alles aber auch überhaupt nicht, vielleicht bilde ich mir das alles ein; es ist ein Fluch, überall Abgründe zu sehen.
Ist dieser Blick in die Abgründe oder hinter die Oberflächen eine Quelle des Schreibens für Sie?
Ja, unbedingt. Ein Motor ist aber auch das Bedürfnis, diesen Biografien eine Wende zu geben, die das Unglück ein wenig auffängt. Meine Figuren sind meist verkrachte Existenzen, die bereits gezeichnet sind; viele Leute würden einen Bogen um sie machen, wenn sie ihnen auf der Strasse begegneten. Der Melk zum Beispiel, das Vreneli, die Jungen in den Geschichten im Erzählband „Heimweh“ – eigentlich alle, schon seit meinem ersten Buch.
Was ist mit Josepha, der Mutter von Jens in der Erzählung „Das Meer“?
In der Erzählung ist sie eigentlich noch gar keine Figur. Im Moment bin ich daran, aus diesem Stoff einen Roman zu machen; jetzt bekommt sie erst richtig Profil. Josepha ist ein traumatisierter Mensch, allerdings reicht ihr Traum nicht in die Kindheit zurück. Mit siebzehn Jahren verliert sie ihre Mutter auf eine Art und Weise, die es ihr unmöglich macht, den Tod zu verarbeiten. Gabriele von Arnim hatte nicht unrecht, als sie damals – in der einzigen negativen Rezension übrigens – schrieb, die Erzählung sei Kitsch. Ich war damals heftig im Zwiespalt. Meine ersten Bücher habe ich sehr intuitiv geschrieben, auch diese Erzählungen, auch die Quatemberkinder. Ich bin aber nie tief genug an die Themen herangekommen, die mich interessierten, um das zu greifen, was ich gesucht habe. Dann habe ich von Donat Keusch, einem Drehbuchcoach, gelernt, wie man nicht lockerlässt, wie man die Geschichten bis zum Kern entwickelt, bis zu jenem Punkt, an dem alles seinen Anfang nimmt. Konkret heisst das: wie finde ich hinter den Bildern, die mir einfallen, hinter den Wendungen, welche die Figuren vollziehen, das, was das alles steuert? Irgendwann stellt man beispielsweise fest, dass alle Figuren Mühe haben, ein Erbe zu akzeptieren, alle Stränge der Geschichte kreisen um dieses eine Problem. Das war in den Figuren von vornherein angelegt, doch als Schriftsteller betrügt man sich nur zu gern um jene Wendungen der Figuren herum, die wirklich weh tun, und so gelangt man natürlich auch nicht zum Kern, zur eigentlichen Essenz des Stoffes.
Ist der neue, psychologisch konsequentere und mehr an der Entwicklung orientierte Erzählstil im Roman „Vrenelis Gärtli“ darauf zurückzuführen?
Ganz oberflächlich gesagt: ja. Weil ich mit Donat Keusch über eine Verfilmung der „Quatemberkinder“ gesprochen habe und er mich darauf aufmerksam gemacht hat, dass ich in jenem Roman streng genommen noch gar keine Geschichte erzähle. Vom Vreneli erfährt man zum Beispiel nichts. Dann habe ich festgestellt, dass es fast unmöglich ist, aus den Behauptungen, die ich im Roman „Quatemberkinder“ über das Vreneli gemacht habe, ein schlüssiges Bild entstehen zu lassen. Auslöser für „Vrenelis Gärtli“ war die Frage, was denn das Vreneli steuert, dass es so sonderbare Dinge tut, plötzlich nach Deutschland verschwindet zum Beispiel. Um das zu begreifen – immer im Rahmen einer Verfilmung der „Quatemberkinder“, die übrigens nie zustande kam –, war ich erstmals gezwungen, einem Stoff wirklich auf den Grund zu gehen. Ansonsten wäre ein unplausibles Sammelsurium von abstrusen Geschichten entstanden. Lange dachte ich, dass ich keine Lesart finde, die mich überzeugt – eine ganz himmeltraurige hatte ich gefunden, doch ich wollte sie nicht akzeptieren. Erst später, in einem zweiten Anlauf, habe ich wirklich begriffen, was diese Figur antreibt. So entstand endlich – anstelle der „Quatemberkinder“-Verfilmung – der Roman „Vrenelis Gärtli“; es war der erste Text, den ich konsequent zu Ende gedacht habe, bei dem ich mich nicht mit den Bildern zufrieden gegeben habe, die mir gerade so „in den Sinn gekommen“ sind.
Gibt es eine Technik, wie man einer Sache auf den Grund gehen kann?
Es gibt Techniken, unter anderem eine ganz simple: Stell alles in Frage. Ich weiss zum Beispiel, dass eine Figur gelbe Gummistiefel tragen muss, das weiss ich einfach. Für mich bedeuten die gelben Stiefel etwas Wichtiges, das ist verwurzelt in meiner Biografie, daher fallen sie mir auch ein, doch für meine Leserinnen und Leser existiert diese assoziative Verbindung nicht. Lass zu, dass jemand fragt: Warum gelbe Gummistiefel und nicht barfuss? Finde heraus, was hinter den gelben Gummistiefeln steckt, was du erzählen willst, wofür die gelben Gummistiefel dein ganz persönliches Bild sind! Und nun versuche ein Bild zu finden, das nicht in deiner Biografie wurzelt, sondern in der deiner Figur, so dass es alle teilen können. Vielleicht stelle ich so fest, dass das Gefühl, das ich meiner Figur unterschiebe, gar nicht mit ihr vereinbar ist – jedenfalls nicht, so wie ich sie in diesem Moment begreife. Der entstandene Widerspruch muss aufgehoben werden, dies zwingt mich, die Figur komplexer zu begreifen, und so gelange ich einen Schritt tiefer im Begreifen des Stoffes. Nicht dass alle Widersprüche aufgehoben werden müssten, Widersprüche sind auch das, was die Figur wertvoll macht. Es ist, wie wenn man einen Stammbaum betrachtet und herauszufinden versucht, wer der Urahn ist. Auch eine Geschichte hat ihren Stammbaum, er ist ein ganz grundlegendes Element fürs Schreiben. In der Regel ist der „Urahn“, auf den alles sich zurückführen lässt, ein Gefühl. Schuld, Rachegelüste – die komplexesten, gewundensten Geschichten empfindet man als glaubwürdig, sobald sie einen Kern haben, der uns unmittelbar einleuchtet. So enstehen die wunderbarsten Bücher, geheimnisvoll und verästelt, gleichzeitig von einer betörenden Klarheit. Aber – und das ist das Kreuz an der Sache – das Schreiben macht so überhaupt keinen Spass! Es ist eine permanente Zangengeburt. Ständig hinterfrage, verwerfe ich; die schönsten, liebsten, kostbarsten Bilder müssen immer wieder über Bord geworfen werden. Gleichzeitig muss ein Text aber den Eindruck erwecken, er sei frisch, lebendig, spontan. Das darf man ihm nicht nehmen. Zweifellos ist diese Arbeit viel einfacher zu leisten, wenn man nicht so wahnsinnig komplizierte Figuren hat, wie das Vreneli eine ist, sondern recht gesunde, im Leben stehende, ‚einfach gestrickte' Figuren wie vielleicht Dunja in „Irinas Buch der leichtfertigen Liebe“. „Irinas Buch“ ist allerdings auch mehr ein loses Spiel mit flüchtig entworfenen Figuren und Schicksalen als eine regelrechte Geschichte. Beim Vreneli habe ich versucht, den Weg bis ans Ende zu gehen. Ich wollte wissen, wohin das führt, wenn man konsequent bis zu Ende erzählt.
Hat es Sie erstaunt, wohin der Weg geführt hat? Dass sich die Aussenseiter Melk und Vreneli am Ende für die Allgemeinheit engagieren, auch für den Aufbau einer neuen gesellschaftlichen Ordnung?
Das hat mich nicht erstaunt, das nicht. Ich wusste ja schon früh, wohin ich das Vreneli führen wollte. Doch ihr innerer Zustand hat mich verwirrt. Ich musste feststellen, dass das Trauma, das sie durch den Tod ihrer Mutter erfahren hat, dass das Bild von einem Leben als Frau, das ihre Mutter ihr zu Lebzeiten vermittelt hat, so hartnäckig ist, dass das Vreneli sich nicht davon lösen kann. Das konnte ich überhaupt nicht akzeptieren, was mich wiederum gequält hat. Und zwar so sehr, dass ich das Buch zurückziehen wollte. Am Tag, bevor die Vorschau in Druck ging, zog ich das Buch tatsächlich zurück. Ich sah, dass es nicht gut ist, und mein Verleger akzeptierte das auch.
Trotzdem ist das Buch jetzt da und wird überall gelobt – wie haben Sie aus der Sackgasse herausgefunden?
Petra Fischer, die Dramaturgin am Theater an der Sihl, hat mich auf ein paar Ungereimtheiten am Text aufmerksam gemacht, die vieles blockiert hatten. Kleinigkeiten in den Gelenken, die mir das Gefühl gaben, dass die Geschichte nicht schwebt, nicht trägt. Und sie hat mich auf Dinge aufmerksam gemacht, die im Text angelegt waren, die ich aber nicht gesehen habe und daher auch nicht nutzen konnte. Die kleine Wendung am Schluss, dass das Vreneli vor dem Herrgott zu kämpfen beginnt und sich löst von seinen Mustern – diese Wendung war wie ein Geschenk, und sie überzeugt mich wirklich.
Sie haben sich in den letzten zehn Jahren von der postmodernen Bricolage zu dem entwickelt, was man ein neues Erzählen nennen könnte. Welche Einsichten oder Erfahrungen stehen hinter dieser Veränderung?
Eigentlich spiegelt das die gesellschaftliche Entwicklung der letzten fünfzig Jahre wider, die Wende vom Absolutismus zum Relativismus und von dort zu einer neuen – im Unterschied zu früheren Generationen nicht mehr doktrinären – Sinnsuche. Als ich in den 1980er Jahren zu schreiben begann, war das Wesentliche für mich die Absage an absolute Theorien: ich entwerfe eine Möglichkeit im Bewusstsein, dass es tausend andere gibt. Ich kann keine Wahrheit verkünden, ich kann keine allgemeingültigen Aussagen machen, ausser die eine: man kann die Welt spielerisch sehen. Man braucht niemanden zu erschlagen, weil er andere Ansichten hat – verschiedene Figuren sind auf verschiedenen Bahnen unterwegs. Ich habe mich in jener Zeit sehr gerieben an einem Schriftsteller wie Thomas Hürlimann, der als linker Autor die gesellschaftliche Lage sehr zu simplifizieren schien, , dessen Arbeit auf der Behauptung fusste, es gebe die ungebrochene Biografie, das ungebrochene Ich, es gebe eine lineare Entwicklung des Einzelnen in der Gesellschaft – eine der klassischen Fiktionen des Bildungsbürgertums. Solche Behauptungen führten meiner damaligen Meinung nach zu Hass und Aggression , denn wenn man an ein natürliches Recht auf eine Karriere, einen geregelten Lebensbogen glaubt, muss man ihn auch verteidigen und im Zweifelsfall einem Konkurrenten den Kopf einschlagen. Die Postmoderne bedeutete für mich in erster Linie das Zerschlagen von autoritären Strukturen: Biografie als Spiel, nicht als bürgerliche Verpflichtung. Wir surfen durch die Gelegenheiten, diese Beliebigkeit ist kein Vorrecht unserer Generation und ist nicht frei gewählt, sie ist ein Fluch, der den Gesetzen der modernen Zivilisation entspringt. Die Kunstformen der Postmoderne sind in diesem Sinn alles andere als unpolitisch: es ist ein subversiver Akt, wenn wir die bittere Tatsache, dass wir keine ungebrochenen Individuen mehr sein können, in ein spielerisches Prizip ummünzen. Die Aussage, die wir damit machen, ist: Es gibt zwar nichts Festes mehr, es gibt keine allgemeingültigen Aussagen, nichts absolutes, doch wir weigern uns, daran zu zerbrechen, wir verweigern die Opferhaltung, die die Mächtigen uns gern einreden wollen, um uns in die innere Emigration zu treiben und uns um so ungestörter manipulieren zu können. Wir überlassen die Öffentlichkeit nicht den Machern, sondern zelebrieren ein lautes, buntes Spiel und besetzen damit alle Kanäle.
Und doch haben Sie sich mit einem linearen Erzählen angefreundet ...
Ich musste feststellen, dass die postmoderne Form extrem hinderlich ist, wenn man Inhalte vermitteln will. Je komplizierter ein Text daherkommt, umso weniger zwingend wirkt er und umso weniger glaubwürdig ist er von seiner Emotionalität her. Er kann intelligent sein, brillant strukturiert, was auch immer: emotional bleibt er an der Oberfläche. Das habe ich als 20-25jähriger sehr verteidigt: ich wollte nicht, dass die Menschen sich versenken, sonst würden sie ja ihre Mündigkeit aufgeben – völlig aufklärerisch! Dann habe ich aus einer reinen Notsituation heraus die „Quatemberkinder“ geschrieben, linear, eine in sich geschlossene Biografie – also all das, was ich für verboten hielt. Das Buch wurde nicht nur erfolgreich, es hat die Menschen bewegt. Da habe ich gemerkt: Es ist etwas passiert, und das hat mit der Form zu tun. Diese Form des Erzählens schliesst niemanden aus, sie ist nicht elitär.
Ich habe angefangen zu entdecken, was man mit Büchern den Menschen geben kann. Früher habe ich Bücher geschrieben, um mich zu behaupten, damals aber habe ich entdeckt, dass ich in der Lage bin, mehr zu machen mit meinen Büchern. Dem bin ich seither auf der Spur.
Hat es damit zu tun, dass Sie sich so intensiv mit populären Stoffen wie Märchen und Mythen auseinandersetzen in ihren jüngeren Texten?
Nein, gar nicht. Mit altem Material zu arbeiten, ist ja eine genuin postmoderne Technik. Das habe ich immer gemacht; ich habe Theaterstücke geschrieben, die eine Art Übermalungen, Neuübersetzungen von alten Stoffen waren, ohne dass man es gemerkt hat. Nicht aus Interesse an den alten Stoffen, sondern um die Patina zu verwenden. Bei den „Quatemberkindern“ und bei „Vrenelis Gärtli“ war es reine Verlegenheit, dass ich auf die Sagen zurückgriff. Ich wollte einen Roman über Vrenelis Gärtli schreiben und habe zwei, drei Glarner Sagen gelesen. Doch die gaben nichts her. Dann habe ich angefangen, hundert, zweihundert Sagen querzulesen – ich habe mich gar nicht damit auseinandergesetzt. Ein hochgestochener Vergleich hierzu: So, wie Picasso aus Strandgut kleine Statuen gemacht hat, so zu arbeiten macht wahnsinnig Spass. Ich mache Texte in dieser Art, zum Beispiel meine „Schneewittchen“-Adaption, die im Sommer 2008 auf CD erschienen ist. Es gibt eine Reihe von Liedern, die ich geschrieben habe, bei denen ich aber nicht weiss, was ich damit machen soll. Ich spiele dann ein wenig damit herum, und es entsteht etwas Neues, das ich nicht kontrollieren kann. Das ist ähnlich wie improvisiertes Kochen.
Hat Ihre veränderte Einstellung zum Schreiben auch damit zu tun, dass Sie am Literaturinstitut in Biel Schreiben unterrichten?
Als ich angefangen habe, in Biel Schreiben zu unterrichten, war ich genau in der Phase, in der ich mir unerbittlich die Geschichten abgerungen habe. Ich dachte, das Beste, was ich meinen Studierenden mitgeben kann, ist diese Technik. Denn Geschichten aus dem hohlen Bauch zaubern können auch Leute, die nicht an diese Schule gehen. Allerdings brauchen sie, so wie ich, zwanzig Jahre um zu begreifen, was man mit gewissen Werkzeugen anstellen kann. Das will ich ihnen ersparen. Ich gebe ihnen die Werkzeuge mit, auch wenn sie nach den drei Jahren Ausbildung noch nicht fähig sind, sie anzuwenden.
Und, hat es geklappt?
Es war ein Desaster. Die Studierenden waren völlig überfahren, haben nichts mehr geschrieben – ausser die starken Charaktere, die haben sich darüber hinweggesetzt. Das hat mich gezwungen, noch einmal alles in Frage zu stellen. Um Texte zu schreiben, braucht man überhaupt keine Technik, um Geschichten zu erzählen schon. Die Frage ist, ob es sinnvoll ist zu lernen, Geschichten zu erzählen. Im deutschen Sprachraum gilt immer noch die Auffassung, Geschichten seien minderwertige literarische Texte. Die grossen Texte, das glauben meine Studierenden ganz extrem, seien unverständliche erratische Blöcke. Eigentlich eine unschweizerische Tradition, denn die grossen Schweizer Autoren erzählen alle Geschichten. Deshalb vertrete ich die Ansicht, dass es eine Schweizer Literatur gibt – aus der politischen Grundstruktur des Landes heraus: in einer Basisdemokratie ist das allgemein Verständliche das Gute. Jeder muss mit jedem kommunizieren können, denn jede Meinung ist wesentlich. Die Studierenden dagegen schreiben in der Überzeugung, dass ihr Unvermögen ihr Kapital sei. Wenn man ihnen das wegnimmt, haben sie nichts mehr. Obwohl sie etwas zu erzählen hätten – doch das interessiert sie nicht, dazu haben sie keinen Kontakt. Wenn man mit meiner Entwicklungsmethode arbeitet, wird man immer wieder auf seine eigenen Stoffe gestossen. Egal, mit welcher fantastischen, abgehobenen Idee jemand zu mir kommt, ich stelle ihm drei Fragen, und er ist bei sich. Das ist ein Fluch. Und es ist auch der Grund, warum ich kein Quatemberkind sein will. Es grenzt mich aus, wenn ich immer der sein muss, der die unangenehmen Fragen stellt, der draussen steht und die scharfen Fragen stellt. Von Christine Loetscher
- In der Buchausgabe wird dieses Dossier durch einen unpublizierten oder unübersetzten Text vervollständigt.
- Auf www.culturactif.ch/viceversa finden Sie Autorendossiers des Jahrbuchs Viceversa.
- Tim Krohn finden Sie auf den Autorenseiten von culturactif.ch |
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