Die Schweiz : Vier Sprachwelten
und viel Gleichgültigkeit
Die Schweiz versteht sich, auf die
Landessprachen bezogen, als viersprachiges Land. Die Viersprachigkeit
der Schweiz bildet zusammen mit Föderalismus und direkter
Demokratie eines der herausragenden Merkmale, mit dem wir
uns gerne hervortun. Dass das Schweizer Stimmvolk in der Abstimmung
von 1996 den Sprachenartikel (Art. 116 Verf.) angenommen oder
anders ausgedrückt, die Viersprachigkeit der Schweiz
offiziell anerkannt und damit einer Förderung der rätoromanischen
und der italienischen Sprache zugestimmt hat, beweist, dass
eine Mehrheit der (stimmenden) Schweizer die Sprachenvielfalt
als Bestandteil unserer Identität nicht missen will.
Die Schweiz ist viersprachig, wenn
auch (zumindest innerhalb der Landesgrenzen) bekannt ist,
dass die Schweizer selbst es nicht sind und dass die Zahl
derer, die sich in einer zweiten Landessprache verständigen
können, rückläufig ist. Allein dieser Indikator
zeugt von Desinteresse andern Sprachgemeinschaften unseres
Landes gegenüber, von wachsendem gegenseitigem Unverständnis,
kurz, ist Ausdruck einer Situation, die schon mehrfach Gegenstand
von Analysen und Handlungsempfehlungen war: In der Schweiz
begnügen sich die verschiedenen Sprachgemeinschaften
als fremde Nachbarn nebeneinander dahinzuleben und verschanzen
sich hinter einer immer höheren Mauer der Gleichgültigkeit.
Eine solche Behauptung ist zweifelsohne nicht differenziert
genug und wird den oftmals beachtlichen Anstrengungen zur
Förderung des eidgenössischen Dialogs, namentlich
im Rahmen von Schüleraustauschprojekten, nicht gerecht.
Doch mit diesen Massnahmen werden im Vergleich zu der Gesamtbevölkerung
lediglich eine begrenzte Anzahl Personen erreicht.
Natürlich kann man sich für
gewisse Zeit mit diesem Nebeneinanderleben in gegenseitiger
Gleichgültigkeit abfinden. Ein solcher Zustand liesse
zumindest auf eine erstaunliche interkulturelle"
Apathie" und einen bedauernswerten Mangel an Neugier
hinsichtlich der kulturellen Vielfalt unseres Landes schliessen.
Doch dürfte sich eine solche Situation vor allem mittelfristig
als gefährlich erweisen, wie die Abstimmung vom 6. Dezember
1992 über den Europäischen Wirtschaftsraum hinreichend
belegt: Das Schweizer Volk fällt aus allen Wolken, erkennt
plötzlich seine unterschiedlichen Auffassungen, das gegenseitige
Unverständnis und seine Kommunikationsunfähigkeit
im Umgang mit Landsleuten anderer Sprachgemeinschaften.
Es liegt uns fern, uns dem Standpunkt
all derer anzuschliessen, die mangels Eingebung oder unter
Publizitätsdrang, alle nur erdenklichen Gräben zwischen
den Sprachgemeinschaften vorschützen, so als würden
in unmittelbarer Zukunft regelrechte Grabenkriege ausgefochten.
Diese angeblichen Gräben zwischen Bevölkerungsgruppen,
die sich misstrauisch begutachten und sich zusehends feindlicher
gesinnt sind, sind oftmals inexistent oder aber von jener
Presse überzeichnet, die dazu neigt, sich karikativ auf
die Zentrifugalkräfte des Landes zu konzentrieren. Nicht
die Auseinandersetzung ist gegenwärtig das Problem, sondern
der Zustand gegenseitiger Unkenntnis und Gleichgültigkeit;
die daraus entstehenden Miss- und Unverständnisse könnten
mittelfristig in der Tat auf gewisse Formen der Konfrontation
hinauslaufen.
Hanspeter Kriesi vertritt in seinem
Werk, das dem Thema der Sprachgegensätze in der Schweiz
(1995) gewidmet ist, die Auffassung, dass die wirtschaftliche
und politische Interdependenz und Verflechtung der Schweiz
auf internationaler Ebene es nicht länger zulässt,
dass die Schweizer in gegenseitiger Teilnahmslosigkeit verharren
und dass sie bald gezwungen werden, neue Konsensformen zu
finden. Nebst diesem heilsamen wirtschaftspolitischen Druck
von aussen wäre eine Förderung des eidgenössischen
Dialogs" aus einer optimistischeren und somit
idealistischeren Sichtweise nicht zuletzt der kulturellen
Bereicherung wegen wünschenswert.
Für eine dynamische Betrachtung
unserer kulturellen Vielfalt
Wir plädieren also nicht für
eine nationale Versöhnung über oftmals imaginäre
Sprach- und Kulturgräben hinweg, sondern dafür,
dass wir für unsere kulturelle Vielfalt ein Bewusstsein
entwickeln und die Bereitschaft erlangen, andere Sprachgemeinschaften
besser kennenzulernen. Damit widersetzen wir uns entschieden
einem lediglich passiven Nebeneinanderleben der Sprachgemeinschaften.
Natürlich bedingt dieses Bewusstsein und gegenseitige
Verständnis nicht bloss eine Nivelierung der bestehenden
Unterschiede, sondern auch deren Akzeptanz. Wir plädieren
gleichermassen für eine effektive Nutzung dieser kulturellen
Vielfalt, zumal sie für die Schweiz eine einmalige Bereicherung
ist, der im alltäglichen Umfeld seltsamerweise kaum Beachtung
zukommt. Anzufügen ist, dass das Erlernen einer zweiten
Landessprache bloss eine der möglichen Auseinandersetzungsmöglichkeiten
mit unserer kulturellen Vielfalt ist und dass ein besseres
gegenseitiges Verständnis sehr wohl über non-verbale
Fühlungnahmen und Aktivitäten erlangt werden kann.
Die Bereitschaft zu wichtigen und nachhaltigen
Massnahmen zur Förderung der Verständigung zwischen
den Sprachgemeinschaften (nachstehend Verständigung"
) hat seit 1992 deutlich zugenommen: Parlamentarische Kommissionen
haben einen gewichtigen Massnahmenkatalog erarbeitet; das
Volk hat den Sprachenartikel einschliesslich des darin enthaltenen
Absatzes zugunsten der interkulturellen Verständigung
gutgeheissen; das Forum Helveticum lancierte in Zusammenarbeit
mit dem Bundesamt für Kultur das Projekt Punts-Ponti-Ponts-Brücken"
und eröffnete unter Einbezug aller Interessengruppen
der Schweizer Bevölkerung den Dialog im Hinblick auf
ein Verständigungsgesetz, das gegenwärtig in Vorbereitung
ist. Kürzlich hat das Forum Helveticum im Rahmen desselben
Programms ein nationales Gemeindepartnerschaftsprojekt lanciert;
ferner ist auf das Jahr 2000 ein Internet-Auftritt geplant,
der speziell der Verständigungsthematik gewidmet ist.
Zum gleichen Thema sind diverse Projekte von staatsbürgerlichen
Organisationen, Begegnungszentren und Diskussionsforen auf
Internet, wie Le Culturactif Suisse", in Bearbeitung.
Drei dieser in der Aufbau- oder Realisierungsphase
steckenden Einrichtungen oder Projekte, die besonders erfolgversprechend
anmuten, seien nachstehend erwähnt. Der gemeinsame Nenner
dieser Projekte, ob auf Anregung privater Kreise oder vom
Bundesgesetzgeber initiert, ist der Dialog und die Begegnung
mit dem Andern.
Der Röstigraben : Allheilmittel
der Medien?
1998 hat das Forum Helveticum im Rahmen
des Projekts Punts-Ponti-Ponts-Brücken"
eine Aussprache zum Thema Verständigung mit Pressevertretungen
aus sämtlichen Printmedienbereichen organisiert. Alle
teilnehmenden Medienschaffenden waren sich einig, dass den
Printmedien in der Verständigungsfrage eine Rolle zukommt,
wobei sie sich eingestehen mussten, dass deren erbrachte Verständigungsförderung
unzureichend ist. Dieselbe Dualität tritt auch in den
Prognosen für die unmittelbare Zukunft zutage: Obwohl
sich die Printmedien eine gewisse Verantwortung auf dem Gebiet
der nationalen Kohäsion zuschreiben, müssen sie
andrerseits auch den marktwirtschaftlichen Kriterien grosse
Achtung schenken. Das heisst auch in Bezug auf das Thema Verständigung,
tendenziell mehr Sensationsjournalismus und eine stärkere
Gewichtung der Zentrifugalkräfte dieses Landes.
Gleichzeitig wurden konstruktive Vorschläge
gemacht, wie sich die Printemedien auf dem Verständigungsgebiet
vermehrt einsetzen könnten, sei es in eigener Regie,
sei es mit Unterstützung des Bundes. Eine bestechende
Idee ist beispielsweise die Herausgabe eines wöchentlich
erscheinenden interkulturellen Informationsmagazins mit dem
Ziel, der Leserschaft aktuelle, spezifische Themen aus den
anderen Sprachregionen oder unterschiedliche Sichtweisen näherzubringen.
Eine solche Zeitschrift, die in Form eines Pilotprojekts auf
Internet bereits existiert, könnte als Diskussionsforum
im Hinblick auf Abstimmungen Verwendung finden. Mit diesem
Arbeitsinstrument liesse sich die langjährige,unermüdliche
Arbeit der Korrespondenten in den verschiedenen Sprachregionen
vervollständigen.
Die Rolle der staatsbürgerlichen
Organisationen und Begegnungszentren
Verschiedene staatsbürgerliche
Organisationen und Begegnungszentren leisten mit ihrer langjährigen
Arbeit im Rahmen von Debatten oder praxisorientierten Aktivitäten
einen wichtigen Beitrag zur Verständigungsförderung.
Die Beispiele reichen von Jugend- und Lehreraustauschprojekten,
interkulturellen Workshops, über Spracherwerb mit Tandem-Partnern
bis zu interkulturellen Gemeindepartnerschaftsprojekten. Diese
vielfältigen Aktivitäten werden zweifelsohne in
mancherlei Hinsicht vom zukünftigen Sprachen- und Verständigungsgesetz
profitieren können, das dem Bund ermöglicht, diese
Art von Projekten zu unterstützen.
Selbst wenn Unterstützungsbeiträge
des Bundes den Ausbau solcher Aktivitäten ermöglichen,
bleiben diese dennoch einem punktuellen, begrenzten Zielpublikum
vorbehalten. Die qualitative Eigenschaft dieser Aktivitäten,
die von den Teilnehmenden als äusserst positiv und bereichernd
empfunden werden, gilt es keineswegs negativ zu werten; es
handelt sich ganz einfach um eine Charakteristik, die ihnen
zugrunde liegt. Demzufolge müssten sie nicht anstelle
von sondern parallel zu andern, breitgestreuten, gesamtschweizerischen
Aktivitäten durchgeführt werden, die langfristig
und systematisch anzulegen sind und einem festen politischen
Willen entspringen. Doch gegenwärtig mangelt es in der
Schweiz an solchen Aktivitäten. Diese könnten im
Rahmen der obligatorischen Schulzeit der günstigste
Zeitraum für Jugendliche, den Andern kennenzulernen und
geistige Mobilität zu erlangen , angesetzt werden.
Im übrigen ist die Schule die einzige Einrichtung, die
zu einem gegebenen Zeitpunkt alle Bürgerinnen und Bürger
dieses Landes erfassen kann.
Wer hat Angst vom Austauschobligatorium?
Die von der Erziehungsdirektorenkonferenz
unterstützten Fachstellen für Jugendaustausch hoffen
seit langem sehnlichst auf eine Breitenwirkung der Schüler-
Lehrlings- und Lehreraustauschprojekte auf allen möglichen
Ebenen. In einem offiziell viersprachigen Land wie der Schweiz
sollten demnach Austauschprogramme so breit angelegt sein,
dass sie nicht länger eine Ausnahme, sondern die Regel
bilden. Unter Sachverständigen spricht man von Recht
auf Austausch" für Jugendliche während der
schulischen Ausbildung, wobei nicht unbedingt der Spracherwerb,
sondern der Kontakt mit dem Andern im Vordergrund steht.
Angesichts der bestehenden Hürden
scheint ein solches Anliegen nur über eine offizielle
Einbeziehung von Austauschprojekten in den Schulplänen
realisierbar. Damit wären wir beim politisch wenig korrekten
Begriff Austauschobligatorium" angelangt. Den kantonalen
oder eidgenössischen Instanzen, denen die Erstellung
der Schulpläne und die Prioritätensetzung für
die Ausbildung Jugendlicher obliegt, böte sich hier eine
gute Gelegenheit aufzuzeigen, dass die Verständigung
zwischen den Sprachgemeinschaften ernst genommen wird. Mit
der Verankerung im neuen Berufsbildungsgesetz von mindestens
ein- bis zweiwöchigen Austauschen, die sich in der Praxis
mehrfach bewährt haben, könnte der Bund diesbezüglich
sogar Pionierarbeit leisten.
Eine Gewähr für die faktische
Wirksamkeit des geplanten Verständigungsgesetzes gibt
es nur dann, wenn die Förderung der Verständigungsaktivitäten
von staatsbürgerlichen Organisationen mit koordinierten,
gesamtschweizerischen Aktionen einhergeht. Die Verwirklichung
dieses Anliegens bedingt nicht nur eine echte politische Willensbekundung
von Bund und Kantonen, sondern auch, nebst dem Einsatz von
Personen und Einrichtungen, die der Verständigungsförderung
verpflichtet sind, die Bereitschaft der Schweizer Bevölkerung
aktiv mitzuwirken.
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