Michel Mettler ist in der Schweizer Literaturszene längst
kein Unbekannter mehr. Umso mehr wird sein Romandebüt
erwartet, das nun unter dem Titel "Die Spange"
vorliegt. Es handelt sich dabei um ein komplexes literarisches
Gebilde handelt, das im Kern einen höchst vertrackten
medizinischen Kasus zu klären versucht.
Arztroman mit Widerhaken
Michel Mettlers lang erwarteter Debütroman "Die
Spange"
Bei Anton Windl, 33, werden anlässlich
einer zahnärztlichen Untersuchung Merkwürdigkeiten
unter dem Zahnfleisch entdeckt, die auf eine prähistorische
Spange schliessen lassen. Erste materialtechnische Untersuchungen
der Gewebeproben ergeben ein Alter von rund 5100 Jahren.
Die Begehung der Ausgrabungsstelle erweist sich jedoch als
schwierig, nicht zuletzt, weil das Wetter im Mund zuweilen
abrupt umschlägt.
Dr. Berg, Spezialist für degenerative Medizin, zu dem
Windl von einem Freund vermittelt wurde, will dem Rätsel
auf den Grund gehen. Den tauglichsten Lösungsansatz
erkennt er im therapeutischen Erinnern. Die alten Bewusstseinsschichten
sollen freigelegt werden, um die wahren Quellen der phänomenalen
Entdeckung zu erschliessen. Ein "Narrator", noch
unerprobter Prototyp einer Erzählmaschine, steht zur
Verfügung, damit dem Patienten aus der Vergessenheit
geholfen werden kann. Eine Klärung jedoch führt
auch diese Apparatur nicht herbei, da sie selbsttätig
in den Prozess des Erinnerns ebenso wie der Notation eingreift
und so als zusätzliches Element der Verunklärung
wirkt.
Der Erzähler als Reaktor
Soweit sogut. Michel Mettler situiert
seinen Roman, der im Laufe der Erzähltherapie vom Subjektiven
ins Kosmische auswächst, als medizinisches Kammerspiel.
Windl bleibt als Beweisstück der Wissenschaft in ärztlicher
Quarantäne bei Dr. Berg. Mit Einwilligung des Patienten
protokolliert dieser die Fallgeschichte fein säuberlich
und in Ich-Rede aus der "Erfahrungsperspektive".
Wir lesen diese Geschichte. Oder liegt uns bereits die Gegendarstellung
des Patienten vor?
Wie immer, Michel Mettler macht es uns nicht eben leicht.
Wer wie er nicht an die eine Wahrheit glaubt, muss sein
Heil in der Vielfalt und in der Diffusion suchen. Windl
bezeichnet sich selbst als "Reaktor". Er ist ein
Medium, im dem sich das kollektive Bewusstsein unserer Therapie-Gesellschaft
spiegelt. Im Kern scheint er tatsächlich ein Drangsalierter
zu sein, der nie über die Hohn und Spott hervorrufende
frühkindliche Spange hinweggekommen ist. Sie ist die
Auslöserin eines Erinnerungsstroms, der das gesamte
Universum menschlicher Einbildungskraft durchquert. Auf
diesen Spuren begegnen wir dem Alienbesuch in Roswell wie
dem Meteoriten von Chicxulub oder der schwarzen Körperprophylaxe
des 19. Jahrhundert-Pädagogen Daniel Gottlob Moritz
Schreber.
Die Spange als Sinnbild kultureller Norm verklammert bei
Anotn Windl auseinanderdriftende kollektive und mythische
Erinnerungen, die Michel Mettler in Zwischenstücken
zum meisterhaften Porträt einer "rhaeländischen"
Hochkultur stilisiert. In Form von kurzen Auszügen
werden in der ersten Buchhälfte immer wieder Teile
aus einer entsprechenden wissenschaftlichen Untersuchung
eingefügt, um Windls Fall ins Kulturanthropologische
zu weiten. "Lautstärke = Macht - über
die zentrale Rolle dieser Formel besteht nicht mehr der
geringste Zweifel: Sie ist als das Gesetz Rhaelands, als
'Rhaelands Rule' in den anthropologischen Kanon eingegangen.
Auf ihr beruhen die Hauptlinien des rituellen Lebens der
Herdkultur, die Soskin vorschnell wertend 'Tanzdiktatur'
nennt. Jede geistige Bewegung steht im Dienste eines Wettstreits
des Lärm". Dieser letzte Aspekt verklammert
unsere Gegenwart mit dieser archäologischen Historie,
die sinnbildlich den Mund als Zentralorgan des Menschen
einführt: sprechen, essen, küssen gehen durch
den Mund.
Die essayistische Präzision dieser Einsprengsel erinnert
an Robert Musils Ästhetik, wie er sie im "Mann
ohne Eigenschaften" vollendet durchgeführt hat.
Auch Mettler spielt mit den Mischformen von Erzählen
und Erörtern, von Phantastik und Präzision. Das
anthropologische Gedächtnis vermischt sich mit den
"alten" Erinnerungen Windls zu einem erzählerischen
Amalgam, das kaum mehr schlüssig in die Einzelbestandteile
aufzutrennen ist.
Wer also ist Anton Windl: ein 33jähriger Musiker und
Soziologiestudent - oder ein kosmisches Medium - eine hypersensible
Natur, oder ein Kollektivwesen, das die das neurophysiologische
Gedächtnis der Menschheitsgeschichte zu erinnern vermag
und das daher keine eigentliche Identität besitzt?
Oder ist Windl ein neuer Woyzeck in den Fängen der
Wissenschaft?
Scheinerzählung als Krankheit
Zusehends gerät Michel Mettlers
Prosa im Verlauf der Erzählung in einen Zustand höchster
Entropie, sprich narrativer Unordnung. Die traditionellen
Erzählkonstanten wie Ort, Zeit und Handlung kullern
durcheinander und verraten Diskontinuitäten, denen
wir mit unserer Logik nicht beikommen können. Was wie
eine harmlose Sitzung im Zahnarztstuhl beginnt - beginnt
es überhaupt da? - nimmt bald einen wahnwitzigen Verlauf,
der jede Chronologie missachtet, jede Vernunft umstülpt
und am Ende einer Struktur unterliegt, die auf der Kreuzung
von Mythen, Träumen und Verschwörungstheorien
basiert. Wenn die Wissenschaft des Dr. Berg hier anzusetzen
versucht, so steht sein Scheitern von Beginn an fest. Andererseits
fragt sich, ob die Wissenschaft je besseres, festeres Terrain
vorfinden kann, um ihre Ordnungsmuster auszulegen.
Dr. Berg versucht das Phänomen mit dem Begriff der
"Dysfabulie" zu erfassen: des Scheinerzählens,
mit dem die Unfähigkeit zu erzählen überspielt
und verdrängt wird. Dysfabulie wäre in dem Sinn
eine Fehlfunktion des narrativen Vermögens, welche
Michel Mettler mit Lust für essayistische Demonstrationen
und für schräge Anekdoten für sich nutzt.
Der Narrator, der zum wahrhaften Erzählen anleiten
soll, entpuppt sich bei der Zerlegung (der Dekonstruktion?)
durch Anton Windl als eine technische Konstruktuion, die
in ihrem Innersten einen banalen fabulösen Kern besitzt.
Die Maschine als Fake: "Der Narrator nutzt alle Ressourcen,
die wir kennen." Vor allem die.
Sprachlich hält sich "Die Spange" an eine
präzise, zuweilen sarkastisch unterfütterte Nüchternheit,
die das biographisch Unfassbare zu fassen sucht. Diese Stillage
beherrscht Mettler mit Witz und Perfektion. Insbesondere
die rätselhafte Durchdringung von sich im Grunde gegenseitig
abweisenden, unvereinbaren Erzählsphären gelingt
auf subtile Weise und erinnert unwillkürlich an Wiktor
Pelewins phantastischen Roman "Das Leben der Insekten".
Wenn sich beispielsweise eine Expeditionscrew mit schwerem
Gerät zur Fundstelle im Mund aufmacht, vermischen sich
Zahntechnik und archäologische Spurensuche, als ob
daran nichts Wunderliches zu bemerken wäre. Als Leser
sehen wir uns deshalb zusehends auf der Suche nach den eigenen
Koordinaten innerhalb dieses Prosaraums, dessen inhaltliche
und assoziative Dimensionen auseinanderdriften und uns ins
Ungewisse stürzen über die Linearität der
behaupteten Geschichte. Michel Mettler verweigert sich nach
Kräften ihrer Logik, im Wissen darum, dass die narrative
Folgerichtigkeit meist ein Produkt von willentlicher Begradigung
ist, die der Natur des wahren narrativen Chaos widerspricht.
In dem Sinn reflektiert er die Natur des Erzählens,
wie sie erst recht in den neuen Medien manifest wird. Thomas
Pynchon lässt hier (ins Kammerspiel miniaturisiert)
grüssen.
Im Gesamturteil ist "Die Spange" ein höchst
beeindruckender Wurf, der sich durch konsequente Gestaltung
und Formung auszeichnet, auch wenn nicht verhehlt sei, dass
sich im zweiten Buchdrittel ein paar erzählerische
Blähungen bilden, die den Erzählfluss etwas hemmen.
Mettler gerät in seiner Lust am Erzählen die Erzählökonomie
zwischendurch leicht ausser Kontrolle. (Der "Auditor",
eine Hörapparatur, doppelt den "Narrator",
und vereinzelte Aufzählungen geraten etwas übertrieben
vielfältig).
Übers Ganze gesehen sind dies Kleinigkeiten, die allein
schon durch die glänzenden anekdotischen Kabinettstückchen
aufgewogen werden, mit denen Michel Mettler seinen akkuraten
Schreibstil beweist. Der Reichtum an Anspielungen und Mysterien
prädestiniert diesen Roman zur wiederholten Lektüre.
Wie heisst es doch am Schluss: "Lesen Sie selbst".
Nach eigenem Bekunden hat Michel Mettler vor allem einen
Roman über die Sprache schreiben wollen: Das nicht
mindeste Glanzlicht daran ist, dass ihm dies auf eine Weise
gelungen ist, die sich nicht auf sprachästhetische
Experimente begrenzt, sondern - kraft der grossen Mundmetapher
- ganz und gar inhaltlich verarbeitet ist. Die sprachliche
Komposition, die es unter der von ihr strukturierten Erzählebene
zu entdecken gibt, drängt sich nur unterschwellig spürbar
auf.
Notiz: Michel Mettler: Die Spange.
Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2006. 352 Seiten, 36 Franken.
Beat Mazenauer
Page créée le: 14.04.06
Dernière mise à jour le: 14.04.06
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