Seit fünf Jahren lebt Zsuzsanna Gahse in Müllheim
/ TG. Das ostschweizer Dorf auf der Durchfahrtsachse Kreuzlingen
- Frauenfeld ist ein Wohnort aus Zufall. Wo andere durchziehen,
ist Gahse geblieben. Und schaut auf den Platz vor dem Fenster
hinaus.
Das Welttheater am Lindenplatz
Wo Reisende durchziehen, treffen
sie sich manchmal, richtig oder in der Erinnerung. Auf dem
Weg aus dem Osten nach Amerika sei hier - nehme ich
an - auch Onkel Julius vorbeigekommen. Lange vor ihr
wäre er so denselben Weg gegangen wie die Autorin.
Beinahe zumindest.
Denn Zsuzsanna Gahse hat es nicht bis nach Amerika geschafft.
Bevor sie sich in Müllheim ans Fenster stellte, um
zu beobachten, wer vorüberfährt, ist sie in Budapest
aufgewachsen, hat sie in Wien, Stuttgart und Luzern gelebt.
Wer weiss, ob sie ihn Müllheim bleibt.
Der Platz am Fenster ist somit auch ein Ort, um übers
Reisen nachzudenken. Dabei schweift die Phantasie ab. Die
Hunnen kommen von Osten, und ihnen entgegen von Westen Napoleon
hoch zu Ross. Dazwischen präzis scharfe Bilder von
der dörflichen Umgebung, denn genau gesehen gäbe
es hier erstaunlich viele nicht geklärte Dinge.
Die Beobachterin steht also am Fenster und zählt den
Verkehr: bis zu 121 Fahrzeuge innerhalb von zehn Minuten.
Sie ist da sehr genau. Und sie beobachtet die Müllheimer
und Müllheimerinnen. Allmählich kann sie sich
mit ihnen anfreunden, weil sie weiss, was sie tun, wie sie
die Strasse überqueren.
Gahse hat ein Auge, welches wirklich schaut,
wie E.T.A. Hoffmanns berühmter Vetter im Eckfenster.
Ihr neues Buch durch und durch ist beherrscht
vom Willen, nicht gleich weiter zu ziehen, sondern zu bleiben;
es ist ein Protokoll der Vergewisserung an einem flüchtigen
Wohnort.
Ein reicher Fundus an Charakteren
Dazu gehören all die Dorfgeschichten.
Anekdotischer Klatsch, aber auch Historien aus der kollektiven
Erinnerung, wie die vom Spanier Alfonso und dem grauen kleinen
Pudel, in dessen Kern der Teufel steckte.
Vis-à-vis ihres Fensters öffnet sich der Platz
mit der Linde: eine wunderbare Dorfbühne für eine
menschliche Komödie. Wer immer über diesen Platz
geht, verwandelt sich augenblicklich in Columbine, Pantalone
oder wer sonst noch eine Rolle in der Commedia dellArte
spielt.
Einmal im Jahr müsste die Strasse gesperrt werden,
denkt die Beobachterin, damit die anderen Müllheimer
Theaterfestspiele durchgeführt werden könnten.
Um dafür gewappnet zu sein, hat sie Geschichten und
Gesten gesammelt. Zusammen mit Bodo aus dem Osten und dem
Basler Kollegen aus dem Westen bringt sie Ordnung in diesen
Fundus an Charakteren
Davon handelt das zweite Kapitel des Buches. Die auf dem
Dachboden ausgelegten Geschichten beginnen aus den Beobachtungen
herauszuwachsen und weiter zu keimen.
Der Abschluss der Trilogie bildet zuletzt eine kurze Episode
auf dem Platz: die Linde wird geschnitten, wie alle vier
bis fünf Jahre. Ein Zeichen des Abschieds, oder der
Erneuerung? Darüber breitet sich Stillschweigen.
Zsuzsanna Gahses Geschichten vom Dorfe sind präzise
Miniaturen, die sich zu einem kleinen Welttheater formen.
Mag Müllheim ein blosses Durchzugskaff sein, ist es
zugleich der Nabel der Welt. Da wo Zsuzsanna Gahse wohnt.
Und beoabchtet. Und schreibt.
Zsuzsanna Gahse, durch und durch.
Müllheim / Thur in drei Kapiteln. Edition Korrespondenzen,
Wien 2004. 176 Seiten.
Beat Mazenauer
Viel mehr zur Autorin auf
der "Page auteur"
von Zsuzsanna Gahse
Page créée le: 03.05.04
Dernière mise à jour le 03.05.04
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