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Das seltsame Wesen
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Die ältere Frau stand nun vor
der Kuppel des Großen Rates. Die Kuppel war nicht größer
oder anders als die der anderen Naragener, - man erkannte
nur an der Nummer 1, dass hier der Große Rat wohnte.
Noch zögerte sie, ihn herauszurufen.
In diesem Moment kam eine andere ältere Frau auf sie
zu.
Willst du auch zum Großen
Rat? fragte sie freundlich lächelnd, nachdem sie
mit dem obligaten Gruß gegrüßt hatte.
Es war eine einfache Handbewegung,
indem sie die rechte Hand kurz hob und eine ebenso kurze,
winkende Bewegung machte.
Ja, ich will auch zum Großen
Rat, sagte die ältere Frau, die etwas größer
war.
Das Volk der Naragener war durchschnittlich
sehr groß, - etwa 1,75m, und doch wirkten sie, ob Männer,
oder Frauen, alle sehr zierlich, - eben elfenhaft.
Bald hatte sich vor dem ovalen Eingang
der Kuppel des Großen Rats eine ansehnliche Menschenmenge
versammelt.
Wir alle möchten zum Großen
Rat, meldete sich ein alter Mann aus der Menge. Wahrscheinlich
aus ein und dem selben Grund. Es ist dieses fremde, seltsame
Wesen."
Ja, es macht uns allen Angst,
sagte die alte Frau an seiner Seite, deren sanftes, feingeschnittenes
Gesicht bereits tiefe Falten zierte.
Es spricht nicht und scheint
uns gar nicht wahrzunehmen. Gestern traf ich es in der Großen
Kuppel und sprach es an. Ich fragte es sehr höflich,
was es kaufen will. Es sah mich nur an. Ich kann diesen Blick
gar nicht beschreiben. Schon seine Augenfarbe ist so ungewöhnlich,
wie ich sie noch nie gesehen habe, obwohl so viele fremde
Wesen zu uns kommen. Seine Augen leuchten wie die Sonne. Sie
sind zwar nicht gelb, - aber dieses grelle Türkis blendet
genauso wie die Sonne, wenn man in sie hinein blickt. Man
kann nicht lange in diese Augen sehen, sonst wird man wahrscheinlich
blind. Ich habe wirklich noch nie solche Augen gesehen,
sagte ein Mann um die 30.
Plötzlich kam der Große
Rat aus seiner Kuppel. Er sah nicht anders aus als das übrige
Volk, bis auf den Unterschied, dass er auf seinem Haupt eine
goldbestickte, kleine Haube trug. Sofort waren die Naragener
mucksmäuschenstill und blickten liebevoll auf ihren alten
Weisen.
Ich weiß, warum ihr hier
seid. Ihr fragt euch, was dieses Wesen von uns will und warum
es hier ist, sagte der Große Rat mit weicher Stimme
und blickte besorgt in die Runde.
Es spricht nicht mit uns,
sagte der Mann, der zuvor gesprochen hatte. Ich sagte
schon, dass ich es angesprochen habe, aber es sah mich nur
mit seinen seltsamen Augen an und wandte sich dann ab. Wir
haben auch Angst um unsere Kinder, die im Gegensatz zu uns
seine Unheimlichkeit nicht wahrnehmen können. Sie spielen
unbekümmert in seiner Nähe und lachen es sogar an.
Das ist mir auch schon aufgefallen,
meldete sich eine jüngere Frau aus der Menge. Gestern
war es, als mein kleiner Sohn nach Hause kam. Er war ganz
anders als sonst. Er war so still und nachdenklich. Ich fragte
ihn, wo er war. Er sagte, mit den anderen Kindern am Hügel
vor dem Stadttor, wo sie doch immer spielen. Ich fragte, ob
das seltsame Wesen auch dort war. Und dann sah mich mein kleiner
Sohn mit einem Blick an, den ich nicht beschreiben kann.
Strahlten seine Augen?
wollte eine andere Frau wissen.
Ja, es war ein seltsames Strahlen
in seinen Augen, - aber nur ganz kurz, sagte die jüngere
Frau und wandte sich wieder an den Großen Rat. Wir
haben mit Recht Angst um unsere Kinder. Dieses Wesen verhext
unsere Kinder, und wenn wir nicht aufpassen, nimmt es uns
unsere Kinder weg. Irgendwann wird es verschwunden sein, und
mit ihm alle unsere Kinder.
Es gibt doch keine Hexerei,
sagte der Große Rat und schüttelte seinen Kopf.
Alles lässt sich immer erklären. Wir kennen
doch viele Dimensionen und Ebenen, wo manch primitive Wesen
von Zauberei sprechen würden. Aber wir sind doch aus
all dem bereits heraußen und wissen, dass unter gewissen
Umständen alles möglich ist.
Und dieser Blick? Diese Augen?
Warum kam es alleine? waren die Zwischenrufe aus der
Menge.
Vielleicht ist es das einzige
Wesen seiner Art und sucht nun nach anderen Wesen, um sie
auf seinen Planeten zu holen! rief ein Mann.
Ihr meint wirklich, es will unsere
Kinder holen? Wozu denn? Seine Art würde aussterben,
denn kein anderes Wesen kann mit einem Naragener neues Leben
zeugen. Es muss immer die selbe Art sein, um neues Leben zu
zeugen. Und dieses Wesen ist kein Naragener. Es hat goldblondes
Haar und türkisleuchtende Augen, - nicht wie wir weißes
Haar und dunkelbraune Augen. Und seine Haut ist viel glänzender,
fast golden, meinte der Große Rat beruhigend.
Uns hat noch nie ein Wesen bedroht.
Wir kennen diesen neuen Zustand nicht. Es verwirrt uns und
lässt uns keine Ruhe. Sogar nachts haben wir Angst und
können nicht schlafen, sagte eine Frau in ärgerlichem
Tonfall. Wir haben auch noch nie Gewalt angewendet,
- aber wir wissen von anderen Wesen, dass es sie gibt. Gewalt
könnte uns also vor dem seltsamen Wesen schützen.
Frau, willst du damit sagen,
dass wir dieses Wesen töten sollen? fragte der
Große Rat erschüttert.
Nicht töten, aber gefangennehmen.
Wir sollten es überwältigen und am Großen
Platz vor der Großen Kuppel an einen Baum binden, wo
wir es befragen können, sagte ein jüngerer
Mann, womit er viel Beifall aus der Menge erhielt.
Nun gut, wenn ihr meint, soll
es so geschehen, sagte der Große Rat. Und
wer will diese Aufgabe übernehmen?
Sofort meldeten sich einige junge,
kräftige Männer. Der Große Rat wählte
10 von ihnen aus, denn dieses seltsame Wesen war gut um einen
Kopf größer als die größten der Naragener,
und es war auch kräftiger gebaut.
Kurz bevor es dunkel wurde, begab sich
ein Großteil der Naragener, allen voraus der Große
Rat, mit den auserwählten 10 Männern, zum Stadttor.
Der Rest der Naragener war in den Kuppeln geblieben, um über
die Kinder zu wachen.
Sie gingen langsam und schweigend,
und sie hatten Angst, - etwas, was ihnen bisher immer fremd
war, - genauso fremd wie Gewalt, Krieg, Diebstahl und Mord.
Die Naragener kannten nicht einmal Streit. Ja, es gab schon
Meinungsverschiedenheiten, aber die wurden immer in Ruhe gelöst.
Die Naragener waren ein Volk der Kunst
aller Art. Sie waren bedeutende Bildhauer, Maler, Dichter
und Musiker. Ihre Werke waren nicht nur schön anzusehen
oder anzuhören, sondern übermittelten dem Betrachter
Wärme, Glück und Gesundheit. Viele Fremde kamen
auf diesen Planeten, um sich von den unzähligen Skulpturen,
Bildern, Gedichten oder Musikstücken heilen zu lassen.
Und immer wieder kam es vor, dass sie schon durch einen kurzen
Blick auf ein Kunstwerk vollkommen gesund waren. Vielleicht
lag es daran, weil die Naragener alles mit Liebe machten und
sehr bewusst an ihre Arbeiten heran gingen. Aber jetzt wurde
ihre Bewusstheit erheblich von einem fremden, seltsamen Wesen
gestört...
Die Naragener hatten das Stadttor hinter
sich gelassen und schritten zielstrebig den Hügel empor,
der in der späten Nachmittagssonne lag. Sie sahen noch
einige ihrer größeren Kinder, wie sie vergnügt
auf und ab liefen und dem seltsamen Wesen zulächelten,
das bewegungslos wie eine goldene Statue im Türkensitz
auf der Spitze des Hügels saß.
Der Große Rat winkte den Kindern
zu und bat sie höflich, in die Stadt zurückzugehen
und sich in die Kuppeln zu begeben. Die Kinder gehorchten,
folgsam wie immer.
Erst dann bahnte sich die Menge den
Weg zum höchsten Hügel hoch, bis sie vor dem seltsamen
Wesen standen, das noch immer bewegungslos und mit geschlossenen
Augen auf dem weichen Gras hockte. Als es der Rat ansprach,
öffnete es zwar seine Augen, aber sein Blick schien durch
die Menge hindurchzugehen, als ob es nichts wahrnehmen könne.
Wir sind gekommen, weil wir uns
deinetwegen sorgen. Du bist das erste fremde Wesen, das alleine
zu uns kommt. Du bist auch das erste fremde Wesen, das ohne
Worte kommt. Wir heißen jeden Fremden willkommen und
legen auch keinen Wert darauf, dass er uns um Einlass bittet.
Unser Stadttor steht jedem offen. Nur verstehen wir nicht,
wenn uns ein Fremder keine Antwort gibt, wenn wir ihn höflich
darum bitten. Und jetzt bitte ich dich, im Namen unseres Volkes,
der Naragener, uns zu sagen, was dein Besuch bedeutet.
Der Große Rat hatte sanft und
leise gesprochen. Er zeigte auch keine Angst vor dem Wesen.
Nun warteten er und sein Volk gespannt auf eine Reaktion.
Aber das seltsame Wesen bewegte sich nicht und sagte auch
nichts.
Verstehst du unsere Sprache nicht?
fragte der Große Rat nach einer Weile und wartete wieder.
Abermals zeigte das seltsame Wesen keine Reaktion.
Der Große Rat winkte einen älteren
Mann zu sich, der mehrere Sprachen beherrschte. Er bat ihn,
seine Worte, die er vorhin gesprochen hatte, in alle möglichen
Sprachen zu übersetzen. Der Mann tat dies, aber das seltsame
Wesen stellte sich noch immer taub.
Wir sind ein friedliches Volk,
sprach der Große Rat dann. Wir verabscheuen Gewalt
und haben bis jetzt noch niemandem Gewalt angetan. Aber du
zwingst uns dazu, wenn du uns nicht sagst, was dein Besuch
zu bedeuten hat. Unser Volk ist ein sehr altes Volk, das schon
viele Jahrtausende in dieser Dimension lebt. Wir waren nicht
immer so friedlich wie jetzt, in den letzten Jahrhunderten,
wo wir endlich unsere wahre Bestimmung erkannt haben. Wir
beherrschen also keine hohe Kriegskunst, aber wir können,
wenn wir das wollen, uns an unsere uralten Vorfahren erinnern
und ebenso Gewalt anwenden. Wenn du also weiterhin nicht mit
uns sprichst, obwohl wir dich jetzt mehrmals höflich
darum gebeten haben, werden wir Gewalt anwenden. Es zeugt
nämlich nicht von gutem Willen, wenn wir dir Gastfreundschaft
anbieten und du kein Wort mit uns sprichst. Es beleidigt uns.
Abermals keine Reaktion. Der Große
Rat seufze und zuckte mit den Achseln. Er ging ein paar Schritte
zurück und deutete den 10 jungen Männern an, ihre
Aufgabe zu tun. Anfangs zögerten sie, aber dann packten
sie das seltsame Wesen mit enormer Schnelligkeit und zerrten
es vom Hügel hinunter in die Stadt.
Das seltsame Wesen ließ sich
widerstandslos abführen und an einen hohen Baum mitten
am Großen Platz mit dicken Lederriemen festbinden. Da
stand es nun ziemlich streng an den Baum gebunden und starrte
mit seinen glühenden Augen ins Leere. Es schien, als
würde es gar nicht mitbekommen, was da mit ihm passierte...
Und nun sprich, fremdes Wesen!
begann der Große Rat mit etwas lauterer Stimme.
Wieder nichts.
Plötzlich sprang ein jüngerer
Mann aus der Menge, zog einen Dolch aus seiner Toga, stellte
sich vor das wehrlose Wesen und hielt ihm die Spitze des Dolchs
vors Gesicht.
Sprich, oder willst du meinen
Dolch in deinem Fleisch spüren? schrie der Mann
und bebte vor Wut.
Das seltsame Wesen schloss seine Augen
und seufzte leise. Es war der erste Laut, den das Volk der
Naragener von ihm hörte. Es war ein sehr angenehmer Ton,
der sich in den Körpern der Naragener fortsetzte, dass
sie das Gefühl hatten, ihn nicht nur mit den Ohren, sondern
mit dem gesamten Körper vernommen zu haben.
Lass mich mit ihm sprechen, Großer
Rat. Vielleicht hat es mehr Vertrauen zu einer Frau. Man weiß
ja auch nicht, ob es männlich oder weiblich ist,
sagte eine junge Frau und bahnte sich einen Weg durch die
Menge zu dem seltsamen Wesen.
Ziehen wir ihm die Hosen herunter!
schrie der Mann mit dem Dolch und war noch immer wutentbrannt.
Aber der Große Rat winkte ab.
Wir wollen dieses Wesen nicht
demütigen. Wir wollen nur wissen, was es von uns will,
sagte er sanft.
Die junge Frau zitterte leicht, als
es das seltsame Wesen ansprach.
Wir werden dir kein Leid antun.
Du musst keine Angst haben. Wenn du nur ein Wort sagst, binden
wir dich sofort los. Versteh doch, dass wir uns Sorgen machen
und auch Angst um unsere Kinder haben, die in deiner Nähe
spielen. Es scheint, als ob du unsere Kinder zu dir lockst
und sie veränderst. Seit sie in deiner Nähe spielen,
werden sie schweigsamer und ruhiger. Sag uns nur, was das
zu bedeuten hat und ob wir uns wirklich Sorgen machen müssen.
Es ist ja nicht so, dass alle Wesen für unsere Art gut
sind. Es gibt außerhalb des Gedarlensbogen einen Planeten,
wo Wesen leben, die unsere Augen blenden würden. Kein
anderes Wesen kann sie erblicken, weil sie viel heller leuchten
als unsere Sonne. So sind diese armen Wesen verdammt dazu,
für immer auf ihren Planeten zu bleiben und müssen
auch auf Besucher verzichten. Nun, deine Augen haben auch
sehr seltsame Strahlen, aber ich glaube nicht, dass wir davon
blind werden. Viel mehr glaube ich, dass deine Ausstrahlung
unseren Kindern schadet. Und jetzt sag uns, bitte, was hat
dein Besuch zu bedeuten?
Nachdem die junge Frau, mit sanfter
Stimme, ausgeredet hatte, warteten die Naragener gespannt
auf eine Antwort des seltsamen Wesens. Auch der junge Mann
mit dem Dolch hatte sich wieder etwas beruhigt.
Es war ruhig in der Stadt, nicht ein
Atemzug war zu hören, so gebannt starrte die Menge auf
ein einziges Wesen, welches hilflos an einen Baum gebunden
war. Aber so hilflos schien es nicht zu sein, denn plötzlich
spannten sich die kräftigen Muskeln an den breiten Schultern
und der Brust, und mit einem Ruck zerrissen die Lederriemen.
Das seltsame Wesen war frei. In diesem Moment öffnete
es die Augen, die nun noch mehr glühten und strahlten.
Die Menge wich mit einem lauten Aufschrei zurück. Sie
hörte das keuchende Atmen des Wesens und fühlte
den Blick auf ihren Körpern, der immer intensiver wurde.
So ein Gefühl kannten sie bis jetzt nicht. Es war, als
ob der Blick dieses seltsamen Wesens Materie wäre und
sie am ganzen Körper berühren würde. Sie hatten
zwar Angst, aber jeder musste sich eingestehen, dass es trotzdem
ein sehr angenehmes Gefühl war, welches viele von ihnen
sogar mit einem sehr intensiven Liebesakt verglichen. In diesem
Moment fragte sich keiner, ob dieses Wesen ein Mann oder eine
Frau war...
Ganz langsam schritt das seltsame Wesen
auf die Menge zu, die wie in Trance zurück wich und ihm
den Weg frei machte. Mit stolz erhobenem Kopf schritt es an
ihnen vorbei. Das goldfarbene, bis zu den schmalen Hüften
lange Haar wehte im sanften Wind zurück. Die Naragener
waren ruhig geworden und starrten dieses wunderschöne
Geschöpft mit offenen Mündern und weit aufgerissenen
Augen an. Sie erkannten eine Schönheit, wie sie sie noch
nie gesehen und vor allen gefühlt hatten. Nicht einmal
ihre herrlichen Skulpturen besaßen diese Anmut. Es schritt
wie ein König an den Naragenern vorbei zum Stadttor.
Erst dort wandte es sich um und blickte der jungen Frau, die
zu ihm gesprochen hatte, direkt in die Augen. Sie zitterte
unter seinem Blick und begann heftig zu atmen.
Ich werde zu euch sprechen, wenn
es an der Zeit ist, sagte das seltsame Wesen in der
Sprache der Naragener. Seine Stimme klang so sanft und weich
und drang wiederum in den gesamten Körper der Naragener
ein, dass sehr viele in der Menge vor Entzücken aufstöhnten.
Dann wandte es sich um, schritt durch
das Tor und begab sich wieder auf den Hügel.
Nun stand das Volk der Naragener da
und war genauso klug wie zuvor. Niemand sagte etwas. Alle
blickten nachdenklich zu Boden und gingen dann nach und nach
langsam nach Hause.
© Elisabeth Blömer
Page créée le 24.08.01
Dernière mise à jour le 24.08.01
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