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Das seltsame Wesen

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Tagelang änderte sich nichts. Das seltsame Wesen verbrachte noch immer die Zeit auf dem Hügel. Nur einmal am Tag begab es sich in die Große Kuppel, um seine bescheidene Nahrung – ein kleines Stück fladenartiges Brot und einen kleinen Krug frisches Wasser – zu kaufen.

Die Kinder spielten nicht mehr vor dem Stadttor auf den Hügeln. Der Große Rat hatte es verboten, so lange das seltsame Wesen sich dort aufhielt.

Trotzdem war die Unruhe im Volk mehr und mehr zu spüren. Keiner hatte mehr Freude an seiner Arbeit. Begonnene Skulpturen verstaubten, unfertige Bilder vertrockneten in der warmen Sonne, und Gedichte und Musikstücke blieben unvollendet. Unerklärliche Angst breitete sich wie eine immer dicker werdende Nebeldecke über die Stadt der Naragener. Und nicht nur das! Ihr friedliches Verhalten schlug plötzlich in Gewalt um. Oftmals sah man in den Straßen, wie sich Männer und auch Frauen prügelten. Aber keiner wusste, woran das lag.

Bald bestand die Arbeit der Naragener nur mehr aus Waffenbau. Sie schmiedeten prunkvolle Schwerter und Dolche, denen sie, wie einst ihren Kunstwerken, beinahe eigenständiges Leben einhauchten.

Nur eines war seltsam, - sobald sich das fremde Wesen, von dem man noch immer nicht wusste, ob es männlich oder weiblich war, da sein zartes, wunderschönes Gesicht beiden Geschlechtern angehören könnte, am Hügel befand, wuchs die Gewalt unter dem Volk, die sogar schon einige Tote forderte. Aber sobald es in die Stadt zum Einkaufen kam, wurde es ruhig unter den Naragenern. Dann standen sie wie hypnotisiert auf der Straße und starrten es gebannt an, bis es wieder durch das Stadttor verschwand. Hin und wieder unterhielt man sich auch über das seltsame Wesen, wenn es in der Nähe war.

„Da ist es wieder“, sagte eine junge Frau und fühlte, wie sich ihr Herzschlag verlangsamte.

„Was ist es? Ist es ein Mann, der wie eine Frau aussieht, - oder ist es eine Frau, die wie ein Mann aussieht?“ fragte der Lebenspartner der jungen Frau, der sich, bevor das seltsame Wesen in die Stadt kam, noch heftig mir ihr gestritten hat.

Das seltsame Wesen verhielt sich noch immer abweisend, - so, als ob die Bevölkerung gar nicht da wäre. Das einzige, woran man noch erkennen konnte, dass es etwas wahrnahm, war, dass es seine Nahrung immer beim Kassier bezahlte. Warum es das tat, war jedem ein Rätsel, denn alle wussten nun, dass es niemand aufhalten könnte, wenn es nicht bezahlen würde. Die Naragener waren machtlos ihm gegenüber. Niemandem würde es je wieder einfallen, es vom Hügel zu zerren.

Selbst die Wesen, die vor kurzem noch in Scharen zu Besuch gekommen waren, veränderten sich in dieser Dimension, seit das seltsame Wesen auf dem Hügel thronte. Auch sie wurden gewalttätig und unzufrieden. Und obendrein bekamen sie nicht mehr die Hilfe, die sie sich von den Naragenern erhofft hatten, denn die Kunstwerke blieben aus und verloren an Heilkraft. Und bald blieben die unzähligen Besuche, wie es sie vor wenigen Tagen noch gab, vollkommen aus.

Plötzlich schien es, als habe das Leben der Naragener keinen Sinn mehr. Sie schmiedeten zwar noch Waffen, aber das war das einzige, was sie noch taten – und das war nichts Gutes, denn mit diesen Waffen töteten sie sich gegenseitig auf offener Straße. Bald war es so weit, dass sich Familienmitglieder gegenseitig schlugen und manchmal auch töteten. Liebe gab es keine mehr.


Nach einem Jahr war die Bevölkerung auf mehr als die Hälfte geschrumpft, wobei auch Kinder unter den Toten zu beklagen waren, - sehr oft sogar die eigenen Kinder...

In der Großen Kuppel gab es keine Nahrung mehr. Nur durch die ständige Anwesenheit eines sehr seltsamen Wesens schien eine alte Kultur und Menschenrasse beinahe zerstört worden zu sein.

Dadurch, dass es in der Großen Kuppel nichts mehr zu kaufen gab, ließ sich das seltsame Wesen nicht mehr in der Stadt blicken.

Der Große Rat war noch der einzige, der Ruhe bewahren konnte. Natürlich gab es auch in seiner Familie Streit, - aber bis jetzt konnte er all das in Grenzen halten.

Lange genug hatte er nun mitangesehen, was aus seinem ehemals stolzen, kunstbegabten Volk geworden war. An diesem Tag raffte er sich nun auf und sprach mit seinem ältesten Sohn, der in diesem letzten Jahr heiraten hätte sollen, aber durch Hass und Gewalt, die nun in dieser Dimension herrschten, keine Frau gefunden hatte.

„Wir müssen etwas unternehmen, sonst bricht diese Stadt vollkommen zusammen. Lass uns sehen, wie es dem Volk auf der anderen Seite geht. Wenn sie auch unter dem Bann des seltsamen Wesens stehen, müssen wir Hilfe von fremden Wesen erbitten. Vielleicht können sie dem Bann widerstehen. Es hilft uns nichts, wenn wir uns mit Schwertern und Dolchen bewaffnet auf das seltsame Wesen stürzen. Sobald wir vor ihm stehen, wissen wir nicht mehr, was wir tun wollten. Es hat uns in seiner Macht und scheint unbesiegbar zu sein.“

„Und wie meinst du, könnte uns das Volk der anderen Seite helfen?“ fragte der Sohn, ein sehr hoch gewachsener und sehr hübscher Naragener.

Der Große Rat zuckte mit den Achseln.

„Vielleicht haben sie Mittel, diesen Bann zu brechen. Das Volk auf der anderen Seite ist nicht wie wir auf Kunst spezialisiert, sondern auf Geisteswissenschaft. Vielleicht können sie mit Hilfe ihres starken Geistes das seltsame Wesen unschädlich machen.“

„Wir müssen durch das Stadttor hinaus. Meinst du, es lässt uns gehen, Vater?“

„Hoffen wir es“, sagte der Große Rat, legte sich einen großen Leinensack mit Proviant um die Schulter und steckte sein Schwert in die Scheide, die er ans Leinenband seiner Hüften gebunden trug.

Sein Sohn tat es ihm gleich, dann brachen sie zusammen auf, nachdem sie sich nur flüchtig von der Mutter und Frau und den Kindern (Geschwistern) verabschiedet hatten.

Es war etwas ruhiger in den Straßen. Es gab ja nicht mehr so viele Naragener. Mutig schritten Vater und Sohn durch das Stadttor, ohne einen Blick auf den Hügel zu werfen. Sie hofften, wenn sie das seltsame Wesen nicht sehen, wird es sie auch nicht bemerken.

Es war beiden nicht angenehm, auf die andere Seite zu wandern, da sich die beiden Stämme, die Naragener und die Tasanier noch nie viel zu sagen hatten. Es war eine sehr unterschiedliche Rasse, obwohl sie die selbe Dimension bewohnten. In der Urgeschichte führten die beiden Stämme sehr oft Krieg gegeneinander. Als sie beide bemerkten, dass diese Kriege nichts brachten, teilte man sich die Dimension gerecht auf, und von da an hörte oder sah man nie wieder etwas von dem anderen.

Die Tasanier waren aber dennoch nicht viel anders als die Naragener. Das Aussehen beider Stämme war das selbe, nur geistig unterschieden sie sich. Früher sagte man, die Tasanier seien Hexenmeister und Zauberer, die mit dem Teufel im Bunde sind, - hingegen die Naragener nannte man Elfen- manchmal sogar Engelwesen, die durch ihre heilenden Kunstwerke Gutes tun.

Der Große Rat erinnerte sich nun an diese Worte, die er einmal als Kind gehört hatte und ihm wurde bange. Es wurde ihm auch von den einstigen Besuchern erzählt, dass das Volk der Tasanier keine Fremden in ihre Stadt lasse und eine sehr unheimliche Ausstrahlung hätte. Man sagte ihm einmal auch, dass die Tasanier dabei beobachtet worden seien, wie sie Dämonen und Teufel beschworen haben.

Das Stadttor lag weiter hinter ihnen, als der Sohn das nachdenkliche Schweigen endlich brach.

„Vater, hast du gehört, wie unser Volk über das seltsame Wesen spricht? Frauen fühlen sich von ihm angezogen, weil sie es für einen Mann halten, - und Männer fühlen sich von ihm angezogen, weil sie es für eine Frau halten. Glaubst du wirklich, dass das Böse von ihm kommt?“

„Ich weiß es nicht, mein Sohn“, sagte der Große Rat etwas abweisend.

„Ich habe auch von diesem Mann gehört, der es mit einem Dolch verletzen wollte, dass er es niemals geschafft hätte, ihm weh zu tun. Und dann sagten auch andere, dass sie es nicht ertragen könnten, wenn dem seltsamen Wesen ein Leid zugefügt werden würde.

Was hast du damals gefühlt, als es am Baum angebunden war, Vater?“

„Ich weiß es nicht, mein Sohn“, sagte der Große Rat wieder abweisend.

„Sagst du das deshalb, weil du dich schämst – weil du dich genauso zu ihm hingezogen fühlst? Vielleicht ist es wirklich eine Frau, obwohl es so kräftig und muskulös gebaut ist. Vielleicht stammt es zum Teil von diesem Volk ab, wo die Frauen größer und kräftiger sind als die Männer.“

„Hör auf so zu reden, mein Sohn. Siehst du nicht, was es unserem Volk angetan hat? Wir sind nur mehr wenige. Die anderen haben sich gegenseitig grundlos ermordet. Wer sollte denn sonst diesen Fluch auf uns gelegt haben? Es begann genau an dem Tag, als es zu uns kam. Es begann mit dieser seltsamen Angst, - und aus dieser seltsamen Angst wurde brutale Gewalt. Dieses Wesen muss der Teufel persönlich sein.“

„Es ist schon sehr eigenartig, dass mich alle, bevor sie mich kennen, für den Teufel persönlich halten“, hörten sie plötzlich eine sehr wohlklingende Stimme hinter ihnen.

Der Große Rat und sein Sohn drehten sich erschrocken um und sahen das seltsame Wesen. Mit großen Augen und offenem Mund starrten sie es an. Es war noch schöner geworden. Seine Augen waren nicht mehr so glühend, eher sanft – und sein langes, dichtes, leicht gelocktes Haar war dunkler geworden.

Der Große Rat fasste sich zuerst und umklammerte mit der rechten Hand den Knauf seines Schwertes, bereit, es zu ziehen, falls das seltsame Wesen ihn und seinen Sohn angreifen würde.

„Warum folgst du uns? Willst du uns aufhalten? Willst du nun Vater gegen Sohn aufhetzen, - dass wir uns gegenseitig töten?“ fragte der Große Rat im höchsten Zorn, wobei sein sonst gelbliches Gesicht eine gefährliche Röte zeigte.

Das seltsame Wesen lächelte und schüttelte seinen Kopf.

„Ihr habt keine Geduld, Naragener. Ich sagte doch, dass ich zu euch sprechen werde, wenn es an der Zeit ist.“

Der Große Rat und sein Sohn erzitterten unter der weichen, sanften Stimme, die ihre Körper erfüllte und sie von innen streichelte.

„Ist es denn jetzt Zeit, wo wir nur mehr wenige sind und es für dich leichter ist, diese wenigen mit nur einem Schlag zu vernichten?“ brachte der Große Rat nur mühsam hervor, weil ihm nicht nur die Stimme, sondern auch die betörend sinnliche Ausstrahlung des schönen Fremden zu schaffen machte.

„Ich frage mich, warum ihr annehmt, dass ich euch vernichten will?“ sagte das seltsame Wesen und verschränkte seine Arme vor der muskulösen Brust, die durch sein Seidenhemd zu erahnen war.

„Was sollen wir sonst annehmen?“ meldete sich nun der Sohn, der seine Atemprobleme wieder in der Gewalt hatte. „Zuerst hast du unsere Kinder gegen uns aufgehetzt, was wir zu verhindern wussten, weil wir sie nicht mehr in deiner Nähe spielen ließen, - aber dann hast du es ja doch geschafft und hast die Erwachsenen gegeneinander aufgehetzt.“

© Elisabeth Blömer

 

Page créée le 24.08.01
Dernière mise à jour le 24.08.01

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